Kapitel 3 - Super Trouper

„Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit." Sylvia atmete erleichtert auf, als sie die Unterlagen auf ihrem Pult auf einen ordentlichen Stapel räumte, die Ecken fein säuberlich übereinander liegend.

Geschafft. Hundertfünfzig Studenten, und sie haben mir wirklich zugehört. Volle sechzig Minuten lang über die flämischen Meister des späten 15. Jahrhunderts.

Sie platzte nahezu vor Stolz und konnte es kaum erwarten, Edgar von ihrem Erfolg zu berichten. Endlos hatte er sie aufgezogen darüber, wie schrecklich es sei, erstmals so vielen Studenten gegenüberzustehen, und hatte nicht mit peinlichen Anekdoten aus seiner Anfangszeit gespart.

Als ob er bereits Jahrzehnte an Erfahrung hätte.

Er war ja auch nur knappe sechs Jahre älter als sie und nicht ein emeritierter Professor mit einer ellenlangen Liste hochgelobter Festschriften. Sie wusste schon, dass seine Späßchen nicht böse gemeint waren, aber manchmal nervte sie seine herablassende Art schon gewaltig. Als ob ihr Job als Assistentin am Institut für Kunstgeschichte weniger wert wäre als sein Posten als Dozent für Wirtschaftsrecht. Geld war schließlich nicht wichtiger als Kunst, auch wenn sie zugeben musste, dass der Alltag ihr leider oft das Gegenteil bewies.

Sie blickte noch einmal in den voll besetzten Hörsaal, in dem der Geräuschpegel langsam zu steigen begann. „Eine kurze Erinnerung noch an die Studenten von meinem Einführungsseminar. Bitte denkt daran, dass der Essay bis Ende nächster Woche abzugeben ist."

Ein paar schuldbewusste Gesichter blickten kurz auf, um sich dann wieder geschäftig dem Verstauen des Skriptums oder der diversen Schreibgeräte zu widmen.

Dachte ich's mir doch, dass ein paar wieder die Abgabefrist verschwitzt haben.

Sie schickte einen vielsagenden Blick in Richtung Philipp und Amelie, die ihre Köpfe zusammengesteckt hatten und angeregt tuschelten.

Sobald sie den Hörsaal verlassen hatte, zog Sylvia ihr Handy aus der Tasche und schickte Edgar eine kurze SMS. Anrufen war jetzt nicht drin, da er noch bis am späten Nachmittag zwischen Vorlesungen und Seminaren hin- und herpendeln würde.

Alles perfekt gelaufen xoxo

Sie selbst hatte heute auch einen vollgestopften Terminkalender mit diversen Meetings, einschließlich einer Besprechung über Stipendienvergabe und dann musste sie sich noch um die Studenten kümmern, die ihr Auslandssemester hier verbrachten. Martin, ihr Kollege, der eigentlich damit betraut worden war, war kurzfristig krank geworden, also musste Sylvia einspringen.

Das hieß auch, dass das Mittagessen wahrscheinlich flach fallen würde, also musste sie sich wohl mit einem kalten Chicken Wrap und einem Smoothie aus dem Supermarkt über den Tag retten. Und möglicherweise mit mehreren Kaffees aus dem universitären Kaffeeautomaten, auch wenn der bei weitem nicht so gut schmeckte, wie Edgars hausgemachter Kaffee mit perfekter Crema.

Der Kinoabend mit Caro war da ein willkommenes Licht am Ende des Tunnels. Sie planten vorher noch Essen zu gehen in die neue Pizzeria in der Altstadt. Die Lasagne al Forno sei dort angeblich himmlisch, zumindest laut Caros Aussage.

Komm schon, denk jetzt nicht an Lasagne, sonst kommst du nie durch den Tag. Konzentriere dich auf deine Arbeit. Edgar würde sich nie so ablenken lassen von einem grummelnden Bauch. 

Sie verzog den Mund zu einer Grimasse, während sie zu ihrem Büro am Ende des Korridors entlangging.

Aber der lässt sich dafür von was anderem ablenken, nämlich von wohlgeformten Busen auf ellenlangen Frauenbeinen.

Mit leicht angesäuerter Miene betrat sie ihr Büro, das sie sich mit Martin teilte. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass er heute krank war, denn so hatte sie wenigstens ihre Ruhe und musste sich nicht Martins Beschwerden über den angeblich penetranten Geruch ihres Wraps anhören. Wie oft hatte sie schon richtig Lust gehabt, ihm an den Kopf zu werfen, dass er erstmal lernen sollte, ein Deo zu benutzen, bevor er sich über ihr Essen mokierte. Dann wäre der Geruch in dem stickigen kleinen Büro schon viel erträglicher.

Als sie ihre Tasche unterm Tisch verstaut hatte und ihr Handy rauszog, vibrierte es.

Gute Arbeit, Prinzesschen

Sie grinste das Display an und dann kam gleich noch eine SMS

Denk dran, kein Anbaggern von irgendwelchen Typen heute Abend

Das Grinsen erstarrte auf ihrem Gesicht und sie ließ das Handy genervt in ihre Tasche zurückfallen, ohne auf seine SMS zu antworten, und wandte sich ihrer Arbeit zu. Aber ihr Kopf war nicht bei der Sache.

Eifersüchtiger Kontrollfreak. Da will ich alle heiligen Zeiten ein einziges Mal ausgehen und alles woran der denkt ist, dass ich nur ja keinen anderen Mann zu lange anstarre.

Trotzdem schaffte sie es irgendwie, ein paar Seiten vom Literaturverzeichnis für ihre geplante Publikation über den Genter Altar zusammenzustellen, bis sie um Punkt fünf vor zwölf ihren Computer auf Stand-by schaltete, um sich die Unterlagen für die Sitzung herzurichten.

Wenn sie sich etwas beeilte, dann konnte sie noch einen Umweg zum Kaffeeautomaten vor der Bibliothek einlegen. So langweilig wie die Institutsbesprechungen immer waren, bestünde sonst die Gefahr, dass sie während der Sitzung einnicken würde. Sie schnappte sich ihre Tasche, als es an der Tür klopfte.

Na, toll. Perfektes Timing. Wenn das jetzt die Auslandsstudenten sind, dann sind die zwei Stunden zu früh dran. Vielleicht leiden die noch am Jet-Lag?

Trotzdem bemühte sie sich eine freundliche Miene aufzusetzen und sagte: „Herein."

Die Tür öffnete sich lediglich eine klein wenig und dann tauchte der rote Lockenkopf von Amelie in dem Spalt auf.

„Ich ... ich wollte nicht stören, aber ich wollte nur mal ganz kurz nachfragen wegen des Abgabetermins für den Essay." Sie blieb mit ihrem Körper außerhalb der Türe stehen, so als ob sie Angst hätte, Sylvia zu nahezukommen.

„Ich würde Sie ja gerne reinbitten, aber ich muss jetzt gleich zu einer Sitzung." Sie hielt ihre Unterlagen hoch und deutete auf ihre Tasche.  „Aber wenn's nicht zu lange dauert, dann können wir ja gemeinsam in Richtung Bibliothek gehen und Sie erzählen mir, was los ist."

Es kam ihr noch immer etwas komisch vor, die Studenten, die ja oft nicht wesentlich viel jünger waren als sie selbst, zu siezen, aber als Lehrende legte sie Wert darauf, von Anfang an klare Verhältnisse zu schaffen. Und zwar nicht bloß, weil Edgar ihr das nahegelegt hatte.

„Ja, okay, vielen Dank." Amelies Kopf zog sich zurück und Sylvia öffnete die Tür, um an ihr vorbeizugehen.

Sylvia schenkte ihr ein kleines Lächeln und Amelies Gesicht wurde fast so rot wie ihre Haare.

„Also, was haben Sie am Herzen? Raus damit", versuchte sie Amelie aus der Reserve zu locken. Sie war ja schon immer eher schüchtern, aber heute fiel ihr das ganz besonders auf, als Amelie neben ihr her trippelte.

Ihre schwarzen Lackschuhe hallten in dem hohen Korridor neben Sylvias lautlosen Turnschuhen. Ihr grün karierter kurzer Rock und das schwarze enganliegende Top waren wohl zwei der Gründe, warum Philipps Augen im Hörsaal mehr an ihrem Körper klebten als an der Leinwand.

„Ich ... ich wollte nur sagen, dass es —", stotterte sie, ihre Augen auf ihre glänzenden Schuhspitzen gerichtet.

Was ist denn nur mit dem Mädchen los? Sylvia warf ihr einen fragenden Blick zu, aber Amelie sah sie immer noch nicht an.

„Wenn Sie Probleme haben, den Essay bis nächste Woche fertig zu bekommen, dann sollten Sie vielleicht jemanden um Hilfe bitten. Ich bin mir sicher, es gibt genügend junge Mitstudenten, die Ihnen gerne zur Seite stehen würden."

Philipp zum Beispiel. So wie der dich heute angestarrt hat während der Vorlesung, würde es mich nicht wundern, wenn er sich freiwillig meldet.

„Okay ... ich ... danke, das werde ich machen." Amelie knabberte an ihrer Unterlippe und umklammerte die Träger ihres schwarzen Lederrucksacks. „Ich wollte nur nicht, dass Sie böse auf mich sind ... wegen ... also dem Essay, falls er nicht so gut wird, wie Sie es erwarten."

„Natürlich nicht. Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Das ist schließlich ein Einführungsseminar und das Ziel ist zu lernen, wie man am besten und effizientesten arbeiten kann. Das geht oft nur durch Versuch und Irrtum und es ist auch keine Schande, sich Hilfe zu holen, wenn man welche braucht."

Sie standen nun vor der Bibliothek und Sylvia kramte in ihrer Tasche nach ein paar Münzen für den Kaffeeautomaten. Mit einem leichten Kopfnicken deutete sie auf den Eingang zur Bibliothek. „Ein guter Anfang wäre schon mal, sich durch die Literatur zum Thema zu arbeiten, dann geht der Essay gleich viel leichter von der Hand."

„Danke, das werd ich machen." Amelie lächelte kurz und es kam Sylvia so vor, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann öffneten sich die Glastüren zur Bibliothek und eine Gruppe von Studenten strömte heraus.

Als die Studenten laut schnatternd vorbeigezogen waren, war Amelie verschwunden und Sylvia sah nur mehr ihren Rücken durch die Glastür.

Aller Anfang ist schwer. Vor allem, wenn man so abgelenkt ist wie die zwei.

Sie grinste während sie eine Münze nach der anderen in den Automaten fallen ließ. So war es doch bei ihr und Edgar am Anfang auch gewesen. Sie hatte ihre Augen nicht von ihm lassen können, und er ihre Hände nicht von ihr. Als sie die Taste für Latte Macchiato drückte, spielte ihre Tasche plötzlich Super Trouper.

Nicht Edgar, sondern Caro. Diesen Klingelton hatte sie extra für ihre beste Freundin eingespeichert, nachdem sie vor Jahren eine ganze Nacht mit Karaoke zu alten Abba Hits durchgemacht hatten bis sie heiser waren.

Hach, das waren noch Zeiten. Plötzlich überkam sie ein Hauch von Wehmut und sie vermisste ihre Freiheit, die Möglichkeit auszugehen, wann es ihr in den Kram passte und nicht jedes Mal erst alles von Edgar absegnen zu lassen.

Das Rattern und Gurgeln des Kaffeeautomaten holte sie in die Gegenwart zurück. Sie angelte schnell ihr Handy aus der Tasche. Wenn Caro anrief, dann musste es wichtig sein.

„Hi Caro, was gibts?", sagte sie, während sie den heißen Papierbecher aus der Halterung herausfischte. Als vom anderen Ende der Leitung nur ein leises Schniefen zu hören war, beschlich sie ein ungutes Gefühl.

„Syl, es ... es tut mir leid, und bitte sei mir nicht böse, aber ich muss absagen für heute."

„Oh", war alles, was Sylvia in dem Moment einfiel. „Ist was passiert? Bist du krank?" Es musste schon einen triftigen Grund geben, denn Caro hatte sich genauso auf das Treffen, das sie jetzt schon monatelang hinausgeschoben hatten, gefreut. Zuerst war Caros Mutter krank geworden und dann waren beide unter ihrer Arbeit begraben gewesen.

Oh, Gott, nein!

Plötzlich lief es ihr heiß und kalt über den Rücken.

„Ist es was mit deiner Mutter?"

„Sie ... sie hatte einen Rückfall." Caro schniefte wieder. „Bei der letzten Untersuchung sah alles so gut aus und die Ärzte waren wirklich optimistisch. Du weißt doch, dass sie so gut auf die Chemo angesprochen hatte. Und jetzt ... jetzt —" Caros Stimme war zittrig und es klang so, als würde sie versuchen, die Tränen zurückzuhalten. „Ach, Syl, ich mach mir doch solche Sorgen um sie."

„Oh, nein, das tut mir so leid. Sind sich die Ärzte denn sicher? Habt ihr eine zweite Meinung eingeholt? Muss sie denn jetzt wieder ins Krankenhaus? Kannst du sie begleiten?" Tausende Fragen schossen ihr durch den Kopf.

„Das weiß ich alles noch nicht. Ich hab gerade mit ihr telefoniert. Sie versucht natürlich wieder alles herunterzuspielen, damit ich mir keine Sorgen mache, aber sie weiß, dass das nicht klappt. Natürlich mache ich mir Sorgen. Sie ist schließlich meine Mama." Dann war wieder eine kurze Pause, während der nur ein Geräusch wie Schnäuzen zu hören war. "Ich wollte heute Abend zu ihr fahren und wenigstens bis morgen bleiben. Papa nimmt das ganze ja auch richtig mit und Nina ist zu weit weg, um mal schnell zu unseren Eltern zu fahren."

„Das ist doch klar, dass du zu ihr fährst. Mach dir keinen Kopf wegen unseres Kinoabends heute. Das können wir auch ein andermal nachholen. Deine Mutter ist da jetzt wichtiger."

„Bist du mir auch wirklich nicht böse? Ich weiß doch, wie sehr du dich schon darauf gefreut hattest."

„Nein, wie kannst du nur sowas denken? Familie geht immer vor. Wir treffen uns dann, wenn du wieder mal Zeit hast."

„Okay, gut. Du ... du weißt wie leid mir das tut, ich wollte doch auch schon so lange mal wieder mit dir was gemeinsam unternehmen."

„Das machen wir auch. Das läuft uns ja nicht weg." Was sie unausgesprochen ließ war der beklemmende Gedanke, dass Caros Mutter vielleicht nicht mehr allzu viel Zeit blieb, aber daran würde sie erstmal nicht denken. Sie hatte den Krebs schon einmal besiegt, sie konnte es ein zweites Mal schaffen.

„Okay, da hast du recht." Ein weiteres Schnäuzen war auf Caros Seite zu hören.

„Ruf mich an, sobald du was Genaueres weißt."

„Ja klar, mach ich."

„Deine Mutter ist eine starke Frau. Die packt das."

„Das hoffe ich."

Nachdem Caro aufgelegt hatte, stand  Sylvia vor dem Kaffeeautomaten, den Pappbecher mit ihrem heißen Kaffee in einer Hand und die Unterlagen für die Sitzung in der anderen.

Warum ist das Leben nur manchmal so verdammt ungerecht?

Am liebsten würde sie eine stinkwütende Beschwerde nach da oben schicken.  Aber welche Götter auch immer in ihrem wolkigen Himmelreich herrschten, sie hatten die Menschen garantiert schon längst abgeschrieben.

A/N: Keine Sorge, Armand kommt im nächsten Kapitel wieder!

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