Kapitel 29 - Just Another Manic Monday
Montagmorgen stand Sylvia vor dem Spiegel im Badezimmer und putzte sich die Zähne, während Caro gerade ihren Sonnengruß beendete.
Vielleicht sollte ich auch mal wieder ein wenig Yoga machen. Ein bisschen innerer Frieden täte mir ganz gut.
Sylvia machte eine Grimasse und spuckte ins Waschbecken.
Inneren Frieden wirst du erst finden, wenn du keine Typen mehr an dich heranlässt.
Sie spülte ihren Mund aus und machte sich dann daran, die Haare zu föhnen. Wenigstens hatte sie heute endlich genug Zeit gehabt, sich in Ruhe zu duschen. Danach sah die Welt schon wenigstens um ein Fitzelchen besser aus, auch wenn ihr Herz sich verschrumpelt und ausgetrocknet anfühlte wie eine Dörrpflaume. Aber das musste ja niemand wissen, zumindest nicht ihre Kollegen oder ihre Studenten. Bei dem Gedanken an das Einführungsseminar krampfte sich ihr Magen unwillkürlich zusammen. Vielleicht würde sie ja Glück haben und Amelie würde heute schwänzen, obwohl das eher unwahrscheinlich wäre, mit der Abgabefrist des Essays Ende der Woche und den Prüfungen gleich um die Ecke.
„Soll ich dich auf dem Weg zur Arbeit an der Uni absetzen?", tönte es vom Türrahmen, wo Caro mit einem Handtuch um ihren Nacken geschlungen stand und an ihrer Kaffeetasse nippte.
„Das wär perfekt, danke!", rief Sylvia über das laute Getöse des Föhns hinweg. Caros Wohnung war zwar so zentral gelegen, dass die Uni auch zu Fuß erreichbar war, aber heute war sie froh um jede Minute, die sie nicht mit der Außenwelt in Kontakt treten musste.
„Du kannst dir auch gerne meinen Ersatzschlüssel zur Wohnung nehmen. Ich fahr heute nach Dienstschluss nämlich nochmal kurz zu meinen Eltern. Auch wenn es meiner Mutter jetzt wieder besser geht, hab ich Ihnen versprochen, den wöchentlichen Großeinkauf vorbeizubringen."
„Ist ok, ich finde mich schon zurecht. Vielleicht bleib ich auch länger an der Uni und arbeite noch etwas weiter an dem Literaturverzeichnis, damit bei meiner Publikation über den Genter Altar endlich was weitergeht. Die ganzen Bilddateien muss ich auch noch durchforsten." Außerdem würden sie ein paar Stunden konzentriertes Arbeiten wenigstens daran hindern, allzu oft an Armand zu denken.
„Na, dann übernimm dich mal nicht und schau, dass du nicht aufs Essen vergisst, und lass dich nicht von Edgar anlabern." Caro wedelte mit ihrem Zeigefinger und legte ihren Kopf schräg.
„Versprochen, du Obermama." Sylvia legte grinsend den Föhn weg, bürstete ihre Haare kurz durch und steckte sie dann zu einem lockeren Dutt hoch. „Mach dir mal keine Sorgen um mich. Ich stehe das schon durch."
Wäre ja nicht das erste Mal, dass sie mit einer Enttäuschung fertig werden musste. Einmal mehr machte da ja nicht wirklich einen Unterschied. Nun noch ein wenig Lipgloss und Mascara, damit sie heute auch präsentabel aussah.
„Daran hab ich keinen Zweifel", sagte Caro und ließ einen kleinen Seufzer los, „aber du hast dir echt mal Zeit zum Durchatmen verdient."
„Ich bin froh, wenn ich keine Zeit habe, nachzudenken." Sylvia kramte in ihrer Kosmetiktasche nach den kleinen Sternohrsteckern aus flaschengrünem Muranoglas, die sie sich vor Jahren bei einem Urlaub in Venedig gekauft hatte, und von denen Edgar abfällig bemerkt hatte, dass sie nach billigem Touristenkram aussahen. Sylvia hatte sie trotzdem genommen, da sie fand, sie würden das Grün ihrer Augen besonders vorteilhaft zum Leuchten bringen.
„Aber wir müssen wenigstens unseren Mädelsabend mit Kinobesuch so schnell wie möglich nachholen", sagte Caro neben ihr stehend.
„Das machen wir auf jeden Fall." Sylvia befestigte die Ohrstecker und zupfte dann noch ein paar Strähnen aus dem Dutt.
„Sehr hübsch siehst du aus." Caro nickte anerkennend und grinste sie im Spiegel an.
„Danke." Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, auch wenn ihr so gar nicht zum Lachen zumute war.
„Jetzt fehlt dir nur noch was zum Anziehen, außer es ist heute Lingerie-Montag an der Uni." Caro warf ihrem weißen Spitzen-BH einen vielsagenden Blick zu und verzog sich dann aus dem Badezimmer.
Sylvia schüttelte grinsend ihren Kopf und zog aus ihrer Tasche die seidig glänzende cremefarbene Bluse und den dunkelgrauen, weit schwingenden Trägerrock, beides zwei ihrer Lieblingsstücke, die sie gerade im letzten Moment noch eingepackt hatte. Als sie fertig angezogen war, warf sie noch einen letzten Blick in den Spiegel. Ja, sie sah heute richtig hübsch aus, und das war auch gut so. Um nichts in der Welt wollte sie heute an der Uni irgendjemand hinter ihre Fassade blicken lassen. Sie musste heute gewappnet sein. Durfte keine Schwäche zeigen.
Nicht vor Amelie. Nicht vor Edgar.
Das Leben musste weitergehen, auch ohne Armand.
Denk jetzt nicht an seine leidenschaftlichen Küsse, seine strahlend blauen Augen, oder daran, wie er dich gestern so richtig zum —
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals runter und stopfte sich geschwind eine Packung Taschentücher in ihre Handtasche. Dann schlüpfte sie in ihre schwarzen Lackballerinas und verkündete: „Ich bin bereit zur Abfahrt."
„Dann lass uns aufbrechen." Caro stand bereits bei der Tür und hielt Sylvia den Ersatzschlüssel hin. „Vergiss den nicht."
„Danke." Sylvia ließ ihn in ihre Tasche fallen und dann waren sie schon unterwegs zu Caros Auto.
Ihre Ankunft an der Uni verlief überraschend unspektakulär. Keiner starrte sie komisch an, sie erspäht zwar Edgars Auto am Fakultätsparkplatz, aber von ihm selbst war Gott sei Dank nichts zu sehen. Sie passierte die stoischen Atlanten des majestätischen Sandsteingebäudes und ließ sich von dem Kaffeeautomaten vor der Bibliothek einen Kaffee runter. Den würde sie heute definitiv brauchen. Zielstrebig machte sie sich auf den Weg in den kleinen Hörsaal, um sich auf das Seminar vorzubereiten. Noch war es recht ruhig, aber das würde sich in spätestens einer halben Stunde ändern, wenn die meist aufgeregt schnatternden Studenten in kleinen Grüppchen eintrudelten. Sie stellte ihren Kaffee am Schreibtisch ab und räumte ihre Unterlagen aus der Tasche, als es an der Tür klopfte. Das Geräusch hallte in ihrem Innersten wieder wie ein unheilvoller Gong.
Mit zitternden Finger langte sie nach ihrem Kaffeebecher und holte tief Luft.
Keine Angst, Sylvia. Du schaffst das. Lass dich nicht von ihm einschüchtern. Er kann dir hier an der Uni nichts antun.
Aber was, wenn das Armand ist? Nein, was würde denn der hier wollen? Er hat sich seit gestern nicht bei dir gemeldet, der hat wohl seinen Fehler eingesehen und ist wieder bei Natalia.
Nur mit Mühe gelang es ihr, ihr Gedankenkarussell zum Stehen zu bringen.
Fokus, Sylvia. Sie atmete mehrmals tief durch, als es noch einmal klopfte.
„Herein", sagte sie mit soviel Autorität in der Stimme wie möglich.
Die Tür öffnete sich und da stand Amelie, starrte sie aus großen Augen an. Ihre roten Locken waren zu zwei braven Zöpfen geflochten, außerdem trug sie eine Jeans und eine dunkelblaue Strickjacke. Sie hatte ihre Arme um ihren Rucksack vor ihrer Brust geschlungen, als wäre er ihre Rettungsboje.
Eiseskälte breitete sich in Sylvias Brust aus und sie sagte ziemlich unwirsch: „Das Seminar beginnt erst in einer halben Stunde. Bitte warten Sie einstweilen draußen."
Die hat ja Nerven, hier einfach so aufzutauchen. Was bildet die sich überhaupt ein?
Sie wollte ihr an den Kopf werfen, dass sie doch lieber wieder auf Edgars Schoß krabbeln sollte, damit er an ihren Nippel nuckeln könnte, aber sie verbiss sich jeglichen unpassenden Kommentar. Sylvia mochte zwar an einem zweifach gebrochenen Herzen leiden, aber sie war immer noch eine Lehrkraft an der Universität und Amelie war eine ihrer Studentinnen. Sie würde sich nicht zu einer unprofessionellen Aussage hinreißen lassen, schon gar nicht hier im Hörsaal, egal wie sehr es in ihrem Innersten schmerzte.
„Ich wollte ... ich hatte gehofft, Sie noch kurz alleine sprechen zu können, äh, vor dem Seminar", murmelte Amelie so leise, dass Sylvia sich anstrengen musste, sie überhaupt zu verstehen.
Sylvias Hand krampfte sich um den Pappbecher zusammen und in ihrem Hals wurde es plötzlich bedenklich eng.
Amelie fummelte an ihrem Rucksack herum und zog dann einen grauen Schnellhefter heraus. „Das ... das ist der Essay. Ich hab das Wochenende damit verbracht, ihn fertig zu schreiben. Philip hat mir bei der Literatursuche geholfen. Ich ... ich hoffe, er ist gut genug." Sie hielt ihr den Schnellhefter hin und sah sie wie ein aufgescheuchtes Reh an.
„Die Abgabefrist ist erst Ende der Woche. Wenn Sie Bedenken bezüglich der Qualität Ihrer Arbeit haben, so gibt es keinen Grund, die restlichen Tage nicht noch zu nutzen."
Sylvia schob ihre Schultern nach hinten und nippte an ihrem Kaffee. Kleine Pfeile ließen sich auch professionell verpackt perfekt abschießen.
Amelie presste ihre Lippen zusammen. „Es gibt nichts mehr, was ich daran ändern möchte. Ich möchte ihn heute abgeben, bitte."
„Na gut." Sylvia seufzte. „Sie können ihn auf meinen Schreibtisch legen und dann warten Sie bitte draußen, bis das Seminar beginnt." Sie ließ sich auf dem Stuhl hinter ihrem Schreibtisch nieder und genoss jeden einzelnen Moment, den Amelie mit hochrotem Kopf zu ihr herschlurfte. Ohne sie anzublicken, legte Amelie den Schnellhefter auf dem Tisch ab, drehte sich um und war so blitzschnell bei der Tür wieder draußen, dass Sylvia der Mund offen blieb.
Obwohl sie sich eigentlich auf das Seminar vorbereiten wollte, konnte sie doch nicht ihre Neugier im Zaum halten. Sie zog den Schnellhefter zu sich her und überflog die ersten Absätze.
Sylvias Augenbrauen wanderten nach oben.
Nicht schlecht. Das Mädchen scheint sich wirklich bemüht zu haben.
Sie blätterte weiter, doch plötzlich war da ein kleiner versiegelter Umschlag mit Sylvias Namen zwischen den Seiten. Mit klopfendem Herzen zog sie ihn heraus und drehte ihn in ihrer Hand herum.
„Was soll denn das sein?", murmelte sie, doch irgendwie schwante ihr schon etwas. Das erklärte wohl Amelies Hartnäckigkeit, den Essay abgeben zu wollen. Offensichtlich ging es ihr nicht um die Arbeit, sondern um eine Nachricht, die sie ihr übergeben wollte. Bevor sie der Mut wieder verlassen würde, riss sie den Umschlag auf und entfaltete das Papier, das darin zum Vorschein kam, und ein paar handschriftliche Zeilen beinhaltete.
Ich habe mit Edgar Schluss gemacht. Eigentlich waren wir ja auch nie richtig zusammen. Es war ein dummes Abenteuer, mehr nicht. Nach einem zufälligen Treffen in der Bibliothek hat er mir vorgeschlagen, dass wir uns öfters treffen könnten. Ich gebe zu, dass es anfangs aufregend war für mich. Er war so ganz anders als die Studenten und ich habe mich geschmeichelt gefühlt, dass ein Uni-Dozent plötzlich an mir Interesse gezeigt hat. Doch ich weiß nun, dass das Ganze ein Riesenfehler war und ich mich nie darauf hätte einlassen sollen.
Es tut mir sehr leid für die Szene letzte Woche. Ich weiß, dass es nichts an der Tatsache ändert, aber ich habe mich noch nie in meinem Leben so geschämt wie in jenem Moment.
Ich erwarte nicht, dass Sie Verständnis für meine Situation zeigen oder mir verzeihen, aber ich hoffe, dass Sie mich für meine Leistungen und nicht nur für meinen zugegebenermaßen gigantischen Fehltritt beurteilen.
Amelie
Sylvia starrte auf das Blatt Papier, das vor ihr ausgebreitet am Tisch lag. Überflog es immer wieder, doch irgendwie blieben der Schock und die erwartete Wut aus. Fast ertappte sie sich dabei, wie sie so etwas wie Mitleid mit Amelie empfand bei dem Gedanken daran, wie Edgar sie wohl mit falschen Versprechungen in seine ewig gleiche Falle gelockt hatte. Aber nur fast, denn Amelie mochte zwar jung und unerfahren sein, sie war aber nichtsdestotrotz eine erwachsene Frau, die sehr wohl Recht von Unrecht zu unterscheiden wusste. Nun hatte sie sich beim Spiel mit dem Feuer die Finger verbrannt, und musste den Preis für ihren Fehler zahlen.
Es lag jetzt an Sylvia, ob sie ihren Rachegelüsten freien Lauf lassen würde oder, wie es ein professionelles Verhalten voraussetzte, Amelie in ihrem Seminar eine faire Behandlung zuteilwerden lassen würde.
Sylvia faltete das Papier und stopfte es in den Umschlag, den sie dann in ihrer Tasche verstaute. Die Entscheidung war schnell gemacht. Wenn sie je den Lehrstuhl für spätmittelalterliche Kunst innehaben wollte, auf den sie schon seit Anfang ihrer Anstellung als Assistentin spekuliert hatte, dann musste ihr Verhalten an der Fakultät einwandfrei sein. Sie würde weder Edgar noch Amelie auch nur das Fitzelchen einer Chance geben, dieses Vorhaben zu sabotieren.
Sie legte sich ihre Unterlagen zurecht und leerte ihren Kaffeebecher, als ihr Blick auf den Kunstdruck von Canovas Statue Amor und Psyche an der Wand fiel. Auch wenn dieser bereits seit Jahren immer an der gleichen Stelle in einem leicht angestaubten vergoldeten Rahmen hing, nahm sie ihn heute in einem anderen Licht wahr. Irgendwie schien sich das Bild verändert zu haben. Die sich in einer romantischen Umarmung befindlichen Figuren aus weißem Marmor wirken irgendwie lebendig. Ein eigenartiges Kribbeln wanderte über ihren Rücken.
Plötzlich spürte sie Armands Hände auf ihrer Haut, fühlte wie seine Lippen sie küssten, wie sein erhitzter Körper sich an ihren presste. Sie hörte seine Stimme, die ihr zärtliche Worte ins Ohr flüsterten und anstatt des Dufts von Kaffee hatte sie plötzlich Armands unverwechselbaren Geruch in ihrer Nase. Ihr Herz raste wie wahnsinnig und ihr wurde plötzlich schwindlig. Sie presste ihre Finger gegen ihre Schläfen und zwang sich, ihren Blick von dem Bild abzuwenden.
Das bildest du dir nur ein. Kein Kunstdruck kann plötzlich zum Leben erwachen. Vielleicht war nur der Kaffee zu stark.
Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrer Wasserflasche und nahm einen langen Schluck. Dann schielte sie noch einmal kurz auf das Bild. Zu ihrer Erleichterung wirkte es genauso statisch und unbewegt wie immer.
Na siehst du. Das war sicher nur ein optischer Trick, sonst nichts. Jetzt konzentrier dich auf dein Seminar und streich Armand endgültig aus deinem Gedächtnis.
Es klopfte an der Tür und als die ersten Studenten in den Hörsaal strömten, wirkte Sylvia äußerlich kalt und gelassen wie eine Marmorstatue, aber ihr Innerstes glich eher dem Schrei von Munch.
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