Kapitel 28 - Stur wie ein Esel

Wie lange Armand auf die Eingangstüre gestarrt hatte, wusste er nicht, aber es war ja auch egal. Sylvia hasste ihn und wollte nichts mehr von ihm wissen. Er hatte — wieder einmal — so richtig Scheiße gebaut. Nun saß er hier fest auf der Erde, ohne Job und ohne Liebe.

Er fuhr sich durch die Haare und ging wie ferngesteuert auf die Küche zu, als die Tür hinter ihm aufgerissen wurde.

„Sylvia!" Er wirbelte herum, doch der Name blieb ihm im Hals stecken, als er Natalia im Türrahmen erblickte.

„Du siehst ja richtig scheiße aus", warf sie ihm anstelle einer Begrüßung entgegen.

Bestens. Das fehlt mir gerade noch zu meinem Unglück, dass Natalia sich über mich lustig macht.

„Natalia, ich will jetzt wirklich niemanden sehen." Fast hätte er noch gesagt „am wenigsten dich", aber das konnte er sich gerade noch verkneifen, denn schließlich war es ja nicht Natalias Schuld, dass Sylvia ihn verlassen hatte. Zumindest nicht direkt.

Sie stöckelte auf ihren High Heels schnurstracks auf ihn zu und musterte ihn von oben bis unten. „Lenk jetzt mal nicht vom Thema ab. Außerdem, was ist das für eine Art, seine Freunde, auch wenn du jetzt kein Gott mehr bist, so im Unklaren zu lassen?" Mit den Händen in die Hüften gestemmt und ihr Kinn in die Höhe gereckt, baute sie sich direkt vor ihm auf und fuhrt fort, ohne Armand überhaupt die Chance zu geben, etwas zu sagen. „Weißt du eigentlich, wie sehr wir uns alle da oben Sorgen machen um dich und Sylvia und keiner von euch beiden hält es für notwendig auch nur einen Augenblick daran zu denken, euer Telefon zu checken?" Natalias fein geschwungene Augenbrauen wanderten nach oben, während sie sich umsah, so als suchte sie etwas. „Wo ist Sylvia überhaupt? Sollte sie nicht hier bei dir sein, denn oben in Wolkenstadt ist sie garantiert nicht mehr, das war das einzige Stückchen Information, das wir dem Alten aus seiner faltenlosen Nase ziehen konnten."

Armand seufzte und rieb eine Hand über seine Stirn. „Sylvia ist nicht hier", sagte er kraftlos. Er brachte es nicht übers Herz zu sagen, dass sie ihn verlassen hatte. Ihr wutentbranntes und enttäuschtes Gesicht hatte sich ohnehin wie ein Brandmal in sein Gehirn gesengt.

Natalia tippte ungeduldig mit ihren Fingern an ihre Hüften und zog ihre Augenbrauen zusammen. „Wie meinst du das? Wo sollte sie denn sonst sein? Oder versteckst du sie vielleicht in deinem Bett?" Natalias kirschroter Mund verzog sich plötzlich zu einem lasziven Grinsen. „Sag bloß, du hast die Kleine so hart rangenommen, dass —"

„Natalia!" Armand schnitt ihr das Wort ab und warf seine Hände in die Luft. „Sylvia ist nicht hier und wird auch niemals wieder zu mir zurückkommen. Sie hat mich verlassen, weil sie über uns Bescheid weiß."

Da! Nun ist es endlich raus. Bist du jetzt glücklich?

„Über uns?" Natalia legte einen Finger auf ihre perfekt geschminkte Oberlippe und sah ihn einen Augenblick lang fragend an.

„Muss ich es dir wirklich erklären?" Armand holte tief Luft.

„Nein, nein, warte mal", kam plötzlich die Antwort. „Du meinst doch nicht etwa, Sylvia hat dich sitzen lassen, nur weil du und ich gelegentlich ein paar heiße Stunden verbracht haben?" Sie deutete mit einem elegant rot lackierten Finger erst auf Armand und dann auf sich selbst.

Armand nickte kurz.

„Aber das war doch nur ein wenig Spaß zwischen uns, nichts Ernstes. Hast du ihr das nicht gesagt?"

„Dazu hatte ich keine Gelegenheit, und glaub mir, das hätte für sie keinen Unterschied mehr gemacht, vor allem, da sie immer noch davon überzeugt ist, dass du meine Cousine bist."

„Oh." Für einen kurzen Moment schien es Natalia die Sprache verschlagen zu haben, aber das währte nicht lange. „Aber du hast ihr doch sicher erklärt, dass das gar nicht stimmt, oder?"

„Ich habs versucht, aber da war sie schon so wütend, dass sie mir gar nichts mehr geglaubt hat." Armand ließ die Schultern hängen.

„Das ist natürlich vertrackt. Immer diese Menschen und ihre engstirnigen Ansichten." Natalia saugte kurz an ihrer Unterlippe und sagte dann: „Aber sag mal, wieso hast du ihr denn überhaupt von uns erzählt? Das wäre doch viel besser einfach in der Vergangenheit geblieben, da wo es hingehört."

„Ich hab es ihr ja auch nicht erzählt." Armand fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare, die sich alles andere als perfekt gestylt anfühlten. Aber das war ihm heute ausnahmsweise komplett egal.

Natalia legte ihren Kopf schief und sah ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte.

„Also nicht direkt. Es ... es ist etwas kompliziert", begann er, doch Natalia fiel ihm ins Wort.

„Okay, ich seh schon, das wird wohl etwas länger dauern." Natalia rieb sich die Hände und steuerte zielstrebig die Küche an. „Weißt du was? Ich mach uns jetzt erstmal einen Kaffee — du siehst aus als könntest du mindestens einen doppelten Espresso brauchen —, und dann machen wir eine Lagebesprechung. Das ganze muss doch noch irgendwie zu retten sein." 

Bevor Armand noch irgendetwas erwidern konnte, hörte er schon, wie Natalia sich in der Küche zu schaffen machen. Er wollte ihr schon zurufen, dass er jetzt bitte lieber gern allein sein wollte, hielt sich aber gerade noch zurück, als ihm der untrügliche aromatische Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen in die Nase stieg.

Lass sie doch machen. So schnell wirst du sie jetzt nicht mehr los, und einen Kaffee kannst du jetzt ganz sicher brauchen.

Er stopfte seine Hände in die Hosentaschen und schlurfte zur Küche, wo Natalia in Windeseile zwei Tassen mit dem dunklen Gebräu gefüllt hatte und jetzt in den Schränken nach Essbarem suchte. „Da muss doch noch was übrig sein von der Party." Sie zog eine runde rote Blechdose heraus, hob den Deckel hoch und schnupperte an dem Inhalt. „Perfekt. Das sind die Kekse von Maurizio. Die sind einfach himmlisch."

Sie stellte die Dose auf den Tisch und ließ sich dann in einer eleganten Bewegung auf dem weißen Küchenstuhl nieder, ein schwarz bestrumpftes Bein über das andere geschlagen. „Vielleicht hättest du Sylvia eines davon anbieten sollen. Dann wäre sie sicher nicht so schnell von hier verschwunden." Sie grinste ihn vielsagend an, lehnte sich zurück und biss dann herzhaft in den Keks, während sie mit einem Fuß wippte.

Armand ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder und langte nach seiner Espressotasse. „Du überschätzt eindeutig Maurizios Kochkünste."

Mhhhh, dieser Geruch ist einfach wundervoll.

Er sog genüsslich den Kaffeeduft ein und genehmigte sich einen langsamen Schluck, der sein Innerstes wärmte und mit neuem Leben erfüllte.

„Sag das nicht. Der Weg zum Herzen einer Frau führt auch über den Magen. Das solltest du eigentlich wissen." Sie leckte sich mit ihrer Zungenspitze die Brösel von den Lippen, ein Anblick, der ihm in der Vergangenheit des Öfteren einen Ständer beschert hatte, wusste er doch nur zu gut, wozu diese Zunge sonst noch fähig war.

Aber nicht heute. Heute regte sich genau gar nichts in seiner Hose und das war auch gut so, denn auch wenn Sylvia nichts mehr von ihm wissen wollte, so würde er doch einen Fehler sicher nicht machen, und das war bei Natalia Trost zu suchen.

„Was siehst du mich denn so an?" Natalia warf ihre schwarzen Haare, die sie heute offen trug, über ihre Schulter und hielt ihm einen Keks hin. „Hab ich denn nicht recht?"

„Doch, doch ... keine Ahnung, ich weiß nicht." Er wedelte abwehrend mit der Hand. Hungrig war er jetzt auf keinen Fall.

„Dann rück jetzt mal mit der ganzen Wahrheit raus, wie es zu diesem emotionalen Super-GAU kommen konnte", sagte Natalia und schob sich den zweiten Keks in den Mund.

Armand nippte an seiner Tasse und lehnte sich dann ebenfalls in seinem Stuhl zurück. Er hatte keine Lust, alle pikanten Details vor Natalia auszubreiten, also entschied er sich für eine entschärfte Version, beginnend bei Mr. Zs Psychofolter bis zu Sylvias überstürzter Flucht.

Als er geendet hatte, presste Natalia ihre Lippen zusammen und schüttelte ihren Kopf. „Das sieht dem Alten wieder ähnlich, so etwas zu inszenieren. Er musste doch wissen, dass das letztendlich zu Problemen führen würde."

Armand leerte seine Tasse und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was er damit bezweckt hat, aber was auch immer es war, er hat auf jeden Fall erreicht, dass Sylvia mich für einen liederlichen Lustmolch hält, der regelmäßig Sex mit seiner Cousine hat."

Natalia verzog ihren roten Mund. „Wenn du es so sagst, hört sich das ja an, als wären wir ein Haufen Perverser."

„Für Sylvia sind wir das anscheinend auch, und was auch immer sie für mich empfunden hat, ist offensichtlich nicht stark genug, das aufzuwiegen."

Natalia nahm einen langen Schluck von ihrer Tasse und trommelte dann mit den Fingern auf der Tischplatte. „Ich kann das einfach nicht glauben. Nach all dem, was wir gemeinsam durchgestanden haben? Edgars Tritt in die Eier? Ich hab sie sogar eigenhändig nach Wolkenstadt geflogen, weil sie nicht davon abzubringen war, dich aus Mr. Zs Klauen zu retten. Sie war ganz versessen darauf, es alleine durchzuziehen, weil sie Angst hatte, der Alte würde seine Wut an uns auslassen." Natalia schüttelte den Kopf. „Sie kann doch das nicht alles so plötzlich wegwerfen. Ich dachte, wir wären Freunde und ihr, ihr wärt ein Paar."

Armand schluckte und sein Hals fühlte sich plötzlich gefährlich eng an. „Das dachte ich auch, aber da habe ich mich wohl geirrt", sagte er kleinlaut und schob die Tasse mit zittrigen Fingern weg.

Mist, Armand, jetzt reiß dich zusammen. Es ist noch nicht mal ein Tag vergangen seit du ein Mensch bist, und du sitzt schon rum wie ein Häufchen Elend.

Plötzlich schlug Natalia mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

„Du liebst Sylvia, Sylvia liebt dich. Was gibt es da noch zu zweifeln? Jetzt geh und räum dieses Missverständnis aus dem Weg, bevor Edgar noch seine Chance wittert und wieder bei ihr zu landen versucht. Ich hätte zwar nichts dagegen, ihm noch einen weiteren Fußtritt zu verpassen, aber ich bezweifle, dass Sylvia es besonders gut finden würde, wenn ich mich weiter in ihre Angelegenheiten einmische."

„Du stellst dir das alles viel zu einfach vor." Armand seufzte und rieb sich eine Hand über den Mund. „Ich bin der Letzte, den sie jetzt sehen will."

„Jetzt sei doch nicht so ein sturer Esel. Sonst hast du deinen Job und deine Unsterblichkeit für nichts und wieder nichts hingeschmissen. Du kannst das doch nicht einfach so im Raum stehen lassen. Selbst wenn sie dir nicht verzeiht, was ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen kann, bist du es dir selbst schuldig, es wenigstens noch einmal versucht zu haben." Natalia zog ihr Handy aus den Falten ihres dunkelroten Seidenkleides und warf einen Blick auf das Display. „Mist, die Arbeit ruft." Mit dem grazilen Schwung einer Tänzerin erhob sie sich von ihrem Stuhl und legte Armand eine Hand auf seine Schulter. „Ich muss jetzt leider wieder abrauschen, aber du musst mir versprechen, dass du die Sache mit Sylvia wieder hinbiegst. Nach all den tausenden von Jahren bist du mir richtig ans Herz gewachsen, Armand, und es tut mir weh, dich so niedergeschlagen zu sehen."

Armand blickte zu ihr auf, in diese rehbraunen Augen, die ihn jetzt ausnahmsweise einmal nicht lustvoll, sondern mitleidsvoll ansahen, und dann legte er seine Hand auf ihre und tätschelte sie. „Also gut, ich wills versuchen, aber viel Hoffnung hab ich nicht."

Natalia beugte sich zu ihm hinunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Mehr als ein wenig Hoffnung braucht es auch nicht. Der Rest wird sich von selbst ergeben, du wirst sehen." Sie machte auf dem Stilettoabsatz kehrt und schwirrte aus der Küche in einem Wirbel von Dunkelrot und Schwarz.

Als Armand dann wieder mit sich und seinem Elend allein war, und gedankenverloren durch den Garten schlenderte, konnte er nicht umhin, zumindest ein wenig Dankbarkeit zu verspüren für Natalia, die ihn zwar in ihrer unverblümten Art schon des Öfteren an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte, es aber auch immer wieder irgendwie schaffte, ihn aus seinen dunklen Momenten herauszuholen.

Die Sonne hing schon ziemlich tief am Horizont und tauchte den stillen Garten in ein orange-goldenes Licht. Ohne es bemerkt zu haben, war er bis zu dem Platz unter der Trauerweide neben dem Teich gewandert. Vielleicht hatte ihn die Erinnerung an Sylvia hierhergeführt, oder vielleicht brauchte er auch nur einen Moment der Ruhe. Er ließ seinen Blick über das sich sanft kräuselnde Wasser schweifen und erstmals seit seiner Ankunft hier auf der Erde wurde ihm bewusst, dass es für ihn jetzt kein zurück mehr geben würde. Wolkenstadt und die Welt der Götter würden ihm für immer verschlossen bleiben. Geistesabwesend fuhr er sich mit einer Handfläche über seine Brust. Das ihm innewohnende Leuchten, die Flamme der Götter, war endgültig erloschen.

Das war's dann wohl mit Iron Man.

Ob er wollte oder nicht, er würde jetzt wie jeder andere Mensch altern und letztendlich eines hoffentlich nicht allzu schmerzhaften Todes sterben. Doch wie er diese Jahre, die ihm noch blieben, nutzte, das lag ganz bei ihm. Er konnte sich hier verkriechen und in Selbstmitleid baden, oder er konnte all seinen Mut zusammennehmen und seine menschlichen Energien darauf verwenden, das Herz der Frau, die er liebte, zurückzuerobern.

Armand zog sein Handy aus der Hosentasche und starrte auf Sylvias Namen. Sollte er ihr eine Nachricht schreiben und sie um Verzeihung bitten? Oder um eine Aussprache? Menschen machten doch sowas. Die schickten sich Nachrichten für alles und jedes. Sein Finger schwebte über dem Display. Mehrmals begann er eine Nachricht zu tippen, nur um sie dann gleich wieder zu löschen, bis er, frustriert über seine eigene Unentschlossenheit, das Handy wieder in die Hosentasche steckte. Wahrscheinlich würde sie eine Nachricht von ihm ohnehin nicht lesen. Womöglich hatte sie seinen Kontakt schon blockiert.

Er würde bis morgen früh warten, ihr eine Nacht Zeit lassen, auch wenn es ihm schwerfiel. Vor allem der Gedanke an Edgar ließ seine immer noch schwelende Wut wieder hochkochen. Was, wenn Natalia recht hatte, und dieser Bastard versuchen würde, erneut bei Sylvia zu landen? Was, wenn Sylvias Hass auf ihn so groß war, dass sie Edgar bevorzugen würde? Eine seiner Hände ballte sich zu einer Faust. Nein, das würde er nicht zulassen. Das musste er mit allen Mitteln verhindern.

Morgen. Morgen früh würde er Sylvia aufsuchen. Wenn er sich recht erinnerte, dann würde sie an der Universität anzutreffen sein. Dort würde er ein letztes Mal sein Glück versuchen.

Er bückte sich nach einem Kieselstein und warf ihn in hohem Bogen in den Teich, wo sich kleine Wellen ringförmig ausbreiteten, stetig größer wurden, bis sie sich schließlich gänzlich im weiten Wasser verloren.

Eine Chance hast du noch, Armand. Verspiel sie nicht, wenn du nicht wie ein einsamer Kieselstein am Grund des Sees enden willst.

Er hob einen weiteren Kieselstein auf, doch anstatt ihn zu werfen, ließ er ihn in seine Hosentasche gleiten und machte sich auf den Rückweg zum Haus, hinter dem die Sonne wie ein roter Feuerball versank.

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