Kapitel 16 - Ein Neuanfang

Mist! Wieso musste ihn auch gerade jetzt Tarkov anrufen und ihn voll labern darüber wie toll der neue Duftsimulator ist? Wenn er nicht für kurze Zeit abgelenkt gewesen wäre, dann hätte er Natalias Anruf nicht verpasst und müsste sich jetzt nicht ihre vorwurfsvolle Nachricht anhören. Die Aufnahme, die Natalia ihm zudem von Sylvia geschickt hatte, wie sie schluchzend im Maserati neben Natalia kauerte, ihr Gesicht kreidebleich und verheult, war ihm in die Glieder gefahren wie ein Blitz in eine alte Eiche.

Zwar hatte er keine Ahnung, was passiert war, aber er würde seine Unsterblichkeit darauf verwetten, dass es was mit Edgar zu tun hatte.

Bastard!

Wenn der noch einmal seine dreckigen Klauen auch nur in die Nähe von Sylvia bewegte, wenn er nur daran dachte —  nein, wenn er es nur in Erwägung zöge, daran zu denken —  würde er ihm auf ewig einen Liebesfluch aufhalsen. Und dann würde er ihn noch k.o. schlagen und zur Sicherheit gleich noch ein zweites Mal draufhauen.

Die Wut kochte dermaßen in ihm hoch, dass er gut Lust hatte, etwas in seinem Büro zu zerschlagen, aber das würde Sylvia jetzt auch nicht helfen. Er hatte ohnehin schon zu viel Zeit hier verplempert.

Unruhig ging er vor seinem Marmorschreibtisch auf und ab wie ein eingesperrtes Raubtier in einem goldenen Käfig, während er sich mit seinen Händen durch seine Haare fuhr.

Wenn er ehrlich war, dann war er ja selbst an dem ganzen Schlamassel schuld. Wäre er nicht so verdammt feige und zögerlich gewesen, dann wäre Sylvia jetzt nicht in einem solch zerrütteten Zustand.

Er starrte aus dem Fenster auf die Wolkenberge, deren er schon überdrüssig war und verpasst seinem Louse-quinze Sessel einen gezielten Fußtritt.

Was hielt ihn denn noch hier? Endlose Überstunden und ein übellauniger Boss, der es nur darauf anlegte, ihn auf ewig an seinen Job zu ketten. Was hatte er denn von seiner Unsterblichkeit, wenn das gesamte Leben nur aus einer endlosen Aneinanderreihung von Arbeitstagen und Überstunden und dann noch mehr Arbeitstagen und wieder Überstunden bestand? Wer würde ihm denn garantieren, dass Mr. Z ihn je aus seinem Job entlassen würde, sodass ihm überhaupt noch Zeit blieb, den Rest seiner Unsterblichkeit in Freiheit zu genießen? Was, wenn Mr. Z gar nicht vorhatte, ihn je von seiner Pflicht zu entbinden? Dann saß er hier wirklich auf ewig fest. Ein Sklave seiner Arbeit ohne Hoffnung auf Erlösung. Nie hatte er bis jetzt gewagt, diesen Gedanken so konsequent zu Ende zu denken. Immer hatte er sich damit getröstet, dass Mr. Z ihm ganz sicher seine Freiheit schenken würde, auch wenn er es jedes Mal weiter in die Zukunft zu schieben schien.

Endlos drehte sich die Gedankenspirale in Armands Kopf, als er sie zu einem abrupten Halt zwang. Es gab aus all dem nur einen einzigen logischen Schluss.

Er brauchte einen Neuanfang.

Und nicht nur das. Er brauchte Sylvia. So sah es aus. Er brauchte ihre meergrünen Augen, ihre Sommersprossen, ihr verhaltenes Lächeln, ihre weiche Hand. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihm ganz warm in der Brust. 

In all den tausenden von Jahren als Liebesgott war ihm eine Sache nie passiert, und das war, dass es ihn selbst erwischt hatte. Und doch konnte kein Zweifel daran bestehen, dass das, was in seinem Innersten wuchs, das zarte Pflänzchen der Liebe war.

Und wenn er nicht komplett daneben lag, dann brauchte Sylvia ihn genauso.

Es war also höchste Zeit, dass er seinen „Arsch runterbewegte", wie Natalia es so nett ausgedrückt hatte. Mit den Konsequenzen würde er sich später befassen. Jetzt, da er bereit war, alles aufs Spiel zu setzen, juckte Mr. Zs Ultimatum ihn reichlich wenig. Der konnte sich seine Unsterblichkeit in seinen überheblichen Hintern schieben.

Mit einem plötzlichen Schub an rebellischem Elan machte er sich aus seinem Büro davon. Die konsternierten Blicke von Selena ignorierte er geflissentlich. Sie würde schon bald genug merken, dass er nicht mehr wiederkehren würde.

Sein nächster Halt war sein Haus. Er schnappte sich seinen uralten Lederrucksack, der seit seiner Jugend ungenutzt im hintersten Winkel seines Schrankes lagerte und darauf wartete, endlich wieder zum Einsatz zu kommen. Mit einigen schnellen Handgriffen packte er ein paar Dinge ein, die ihm vielleicht auf der Erde von Nutzen sein konnten, wie seine nicht unwesentliche Sammlung an Goldmünzen und Bargeld, denn er war sich sicher, dass Mr. Z wohl umgehend seine Kreditkarte sperren würde, wenn er von seinem Ungehorsam erfuhr. So war wenigstens sichergestellt, dass ihm nicht sofort das Geld ausgehen würde. Dann schmiss er noch ein paar persönliche Habseligkeiten hinein, ein wenig Kleidung. Mehr brauchte er nicht. Das Haus auf der Erde war ja relativ gut ausgestattet, um für die nächste Zeit über die Runden zu kommen. Einen Moment lang starrte er auf den gepackten Rucksack, als plötzlich wieder Zweifel in ihm aufstiegen.

Was, wenn Sylvia gar nichts von ihm wissen wollte? Wenn er all den verstohlenen Blicken eine Bedeutung beimaß, die sie nicht besaßen? Wenn sie sich zwar von Edgar „entlieben" wollte, von ihm aber genauso wenig wissen wollte? Er griff nach den Trägern seines Rucksacks und seufzte.

Wieso um alles in der Welt war die Liebe für ihn plötzlich eine so komplizierte Sache, nur weil es ihn nun selbst betraf? Doch dann erinnerte er sich erneut an das Bild, das ihm Natalia von Sylvia geschickt hatte. Das mindeste, was er tun konnte, war, ihr eine Schulter zum Ausweinen zu bieten. Verständnisvoll und zuvorkommend zu sein war seine Spezialität. Vielleicht würden sich die Gefühle auf Sylvias Seite dann doch noch einstellen.

Und wenn nicht?

Er schulterte seinen Rucksack.

Dann hatte er eine gute Tat getan und Sylvia wieder ihr süßes Lächeln auf ihr hübsches Gesicht zurück gezaubert. Das sollte ihm Belohnung genug sein. Er trat durch die Eingangstür und nach einem letzten Blick auf sein Haus kehrte er Wolkenstadt den Rücken.

Das kleine efeubewachsene Haus auf der Erde lag eingewickelt in die Strahlen der Morgensonne wie ein grünes Paket vor ihm, als Armand um Luft ringend vor der Tür landete. Wenn er froh war, etwas los zu sein, dann diese Art und Weise durch den Raum zu reisen. Er hasste es, wenn seine Lungen sich anfühlten als würden sie in einen Schraubstock gepresst. Der einzige Vorteil war, dass er offensichtlich noch vor Natalia und Sylvia hier angekommen war, wie ihm ein kurzer Blick auf die leere Auffahrt verriet. Das Geräusch von quietschenden Reifen und das Auftauchen eines sich rasant bewegenden roten Flecks auf der Straße zum Haus kündigte jedoch zweifelsfrei die Ankunft der beiden an.

Das Gartentor öffnete sich und der rote Maserati — was fand Natalia eigentlich an dem Auto so toll? — rollte den überwachsenen Kiesweg herauf zum Haus. Kaum war das Auto zum Stehen gekommen, schwebte Natalia mit der üblichen Geschmeidigkeit einer Wildkatze aus dem roten Flitzer und er beeilte sich, um Sylvia die Beifahrertüre zu öffnen.

Wie ein Häufchen Elend saß sie zusammengesunken in dem Sitz, ihr blonder Pferdeschwanz verstrubbelt, ihr Gesicht blass und verweint. Ihre Hände hatte sie krampfhaft um ihre Tasche geklammert und zuerst schien sie seine Anwesenheit nicht einmal zu bemerken. Bei dem Anblick zog sich das eiserne Band um seine Brust zusammen. Am liebsten würde er sie einfach aus dem Auto heben, sie ins Haus tragen und sie so lange in seinen Armen festhalten, bis das Lächeln auf ihrem Gesicht zurück war und jedwede Erinnerung an Edgar in Ihrem Gehirn ausgelöscht war. Doch würde sie das auch wollen?

„Wie lange willst du denn da noch rumstehen und Sylvia anstarren, als würdest du sie gleich —"

„Natalia, bitte halt doch wenigstens einmal deinen Mund." Er wandte seinen Blick nicht von Sylvia ab, die nun, wie aus einer Trance erwacht, zu ihm aufblickte.

„Armand, du ... du bist hier", stammelte sie und blickte ihn ungläubig aus ihren geröteten Augen an. „Ich dachte, du hättest keine Zeit."

„Das war vorher." Er kratzte sich am Nacken. „Ab jetzt habe ich immer Zeit für dich." Er lächelte und glaubte, den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht gesehen zu haben, aber vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet.

Natalia ging um die Motorhaube herum und kam neben ihm zum Stehen. Sie legte eine Hand auf das Autodach, während sie die andere in die Hüfte stemmte. „Das ist also der Dank dafür, dass ich deinem Mädchen zu Hilfe gekommen bin?"

Er blickte sie aus dem Augenwinkel an, während er Sylvia seine Hand hinhielt, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. „So habe ich das nicht gemeint. Ich bin dir natürlich dankbar für deinen Einsatz."

„Das klingt schon besser." Natalia trommelte mit ihren Fingern auf das Autodach. „Dieser Edgar-Typ war schon sowas von überfällig. Aber der wird sich nicht mehr in die Nähe von Sylvia wagen, dafür kann ich garantieren. Ein gezielter Tritt in die Eier bleibt im Gedächtnis haften."

Armand presste seine Lippen zusammen. „Ich hoffe, er hat seine Lektion gelernt."

„Danke", hauchte Sylvia, als er seinen Arm um ihre Taille legte und sie an sich drückte. Wie sehr hatte er die Wärme ihres Körpers vermisst. Er würde sie am liebsten für immer so nahe bei sich haben, um ihren Körper Stück für Stück erforschen zu können. Um ihr die süßesten Töne zu entlocken, wenn er —

Armand, lass dich jetzt nicht zu irgendwelchen Fantastereien hinreißen. Sylvia braucht eine Schulter zum Ausweinen, keinen Liebhaber.

„Natalia war einfach unglaublich", sagte Sylvia, als sie zu ihm aufsah. „Ich hab sowas noch nie gesehen. Sie ... sie hat rot geglüht und ihre Augen. Die waren einfach der Wahnsinn."

„Ja, meine Cousine kann einen sehr beeindruckenden Auftritt hinlegen", sagte er mit einem warnenden Blick auf Natalia. Nur für den Fall, dass sie kurz ihre Rolle hier vergaß und einer ihrer anzüglichen Bemerkungen fallen ließe. Er wollte nicht, dass Sylvia einen falschen Eindruck von seiner Beziehung zu Natalia gewann. Obwohl er wohl irgendwann damit rausrücken musste, dass sie weder seine Cousine war, noch ein Mensch, genauso wie er, auch wenn seine Tage als Gott definitiv gezählt waren.

Nach dem ganzen Desaster mit Edgar wäre Sylvia wohl mehr als schockiert, wenn sie herausfinden würde, dass er sich regelmäßig zu Schäferstündchen mit Natalia hatte hinreißen lassen. Mit seiner Entscheidung, seinem Leben in Wolkenstadt den Rücken zuzukehren, gehörten diese aber somit auch endgültig der Vergangenheit an. Er meinte es ernst mit dem Neuanfang. Sein Leben war nun hier auf der Erde und er würde alles dran setzen, um es mit Sylvia an seiner Seite teilen zu können.

Natalias Augenbrauen wanderten hoch bis zum Haaransatz, aber sie bemerkte lediglich lapidar: „Das ist Teil meines Jobs, nichts weiter."

„Danke trotzdem", wandte sich jetzt Sylvia an sie. „Wärst du nicht rechtzeitig gekommen, dann wäre das für mich nicht so glimpflich ausgegangen."

„Keine Ursache." Natalias rote Lippen weiteten sich zu einem diebischen Lächeln. „Es war mir eine Freude, Edgar auf den Knien vor mir zu sehen."

Und nun hoben sich auch Sylvias Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. „Ging mir genauso."

„Sollen wir ins Haus gehen?", schlug Armand vor, als er spürte, wie Sylvias Körper neben ihm zitterte.

„Geht nur ihr zwei", winkte Natalia ab, während sie den Koffer mit Sylvias Sachen aus dem Auto hievte. „Mein Einsatz hier ist getan. Außerdem sollte ich wieder zurück, bevor ich auch noch Probleme mit Mr. Z bekomme."

„Bist du sicher, dass du nicht noch mit reinkommen willst?", fragte Sylvia.

„Ja, ganz sicher", sagte sie zu Sylvia und dann zwinkerte sie Armand zu. „Außerdem bin ich mir sicher, dass dich mein Cousin jetzt lieber ganz für sich alleine haben will." Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und wandte sich dann Sylvia mit einem Lächeln zu. „Viel Spaß mit Armand. Falls du mal wieder etwas Action brauchst, dann melde dich bei mir. Armand hat meine Nummer."

Sylvia hielt ihr ihre Hand hin und sagte: „Ich werds mir merken und danke für alles."

Natalia schüttelte ihre Hand und dann war sie schon auf dem Weg zur Fahrertüre. „Wir sehen uns." Sie winkte Armand kurz zu und bedachte ihn mit einem Blick, der, ganz untypisch für Natalia, irgendwie wehmütig war.

Dann verschwand sie in ihrem roten Maserati, legte ein zackiges Wendemanöver ein und brauste auf das Gartentor zu, das sich eilends für sie öffnete. Er blickte dem Auto noch nach, bis es am Horizont nichts mehr als ein kleiner roter Punkt war und schließlich ganz entschwand.

„Sollen wir?", fragte er Sylvia, die eng an ihn geschmiegt stand.

„Ja, etwas Ruhe und Entspannung klingt wirklich himmlisch." Sie blickte zu ihm auf und als er in ihren meergrünen Augen versank, wusste er, dass er angekommen war.

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