Kapitel 13 - Eine geniale Idee
Eine knappe Stunde später saß er wieder in seinem Büro und war immer noch hin- und hergerissen zwischen den zwei Versprechen, die er gegeben hatte.
Sein Smartphone lag vor ihm am Schreibtisch und schien ihn vorwurfsvoll anzustarren. Der nie abreißen wollende Strom an Nachrichten liebeswilliger Menschen zog sich großflächig über das Display und ganz klein in der Ecke, die er für private Nachrichten reserviert hatte, hockte Sylvias Einzeiler und fachte das brandneue Flämmchen in seiner Brust an. Doch wenn er sich jetzt entfernte, dann wäre das womöglich seine letzte Reise. Eine Reise ohne Wiederkehr, sollte Mr. Z wirklich Ernst machen mit seiner Drohung.
Aber was, wenn sie in echten Schwierigkeiten steckte? Sie hatte bei ihrem Abschied nicht so gewirkt, als würde sie ihn ohne triftigen Grund um Hilfe bitten. Was, wenn es wieder etwas mit dem chronisch untreuen Edgar zu tun hatte? Edgar war einer dieser unberechenbaren Typen, gelassen und kalkuliert an der Oberfläche, aber darunter brodelte es oft gefährlich.
Mist. Das konnte nur bedeuten, dass sich die Dinge für Sylvia zum Schlechteren gewendet haben mussten.
Er presste seine Fingerspitzen gegen seine Augenlider und rieb sie in kleinen Kreisen, bis ein weißer Sternenregen vor seinem Gesicht tanzte. Warum auch hatte er sich in diese Sackgasse hineinmanövriert? Sein Herz sprach eine eindeutige Sprache, doch sein Verstand stellte sich taub.
Er hörte, wie seine Bürotür sich öffnete und sagte, ohne aufzublicken: „Selena, ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie sich den Abend frei nehmen können. Ich komme alleine zurecht."
„Bist du dir da sicher?"
Nun wollte er erst recht nicht aufblicken. Das war nicht seine Sekretärin. Nein, diese Stimme konnte nur einer gehören.
„Natalia, was um alles in der Welt machst du hier?" Er blickte sie aus seinem Augenwinkel an.
„Na, wonach sieht es aus?" Mit einem verheißungsvollen Lächeln schwenkte sie eine große schwarze rechteckige Box mit einem verschnörkelten goldenen CM-Logo.
Cucina Maurizio. Sein Magen antwortete mit einem unmissverständlichen Grummeln.
„Wusste ichs doch, dass du wieder aufs Essen vergessen hast." Sie platzierte die Box mitten auf seinem Marmorschreibtisch und warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Du siehst ja miserabel aus", konstatierte sie trocken.
„Bist du extra hier hergekommen, um mir das zu sagen?" Das war jetzt nicht besonders nett von ihm, noch dazu, wo es ja offensichtlich war, dass sie sogar ans Essen gedacht hatte. Aber er war genervt, müde und gereizt und er wollte jetzt eines sicher nicht: Gesellschaft. Schon gar nicht, wenn das wesentliche Element der Gesellschaft in ungezügeltem Sex bestand und er ihr das auch noch schuldete. Das fehlte ihm gerade noch zu seinem Dilemma mit Mr. Z und Sylvia.
„Armand, das ist jetzt aber nicht sehr nett von dir. Ich war extra noch bei Maurizio und hab deine Lieblingsnudeln mitgebracht, Penne Diavolo, und den neuen Weißen, den mit der leichten, blumigen Note." Ihr kirschroter Mund verzog sich zu einer Schnute, während sie begann, die Sachen auszupacken und auf dem Tisch zu arrangieren. „Ich bin auch nicht hier, um meine Gegenleistung einzufordern, falls du das befürchtest. Ich dachte nur, du könntest etwas Aufmunterung gebrauchen nach deinem Termin mit Mr. Z." Sie stellte ihm die dampfende Nudelbox vor die Nase. „Ich nehme an, er war nicht gerade begeistert von deiner Vorstellung Marke Eigenbau."
Na, toll. Jetzt fühlte er sich auch noch richtig schlecht, dass er sie so angeschnauzt hatte. Sie hatte sich bloß um ihn Sorgen gemacht und er hatte natürlich sofort ein anderes Motiv dahinter vermutet. Dabei war sie heute zur Abwechslung mal nicht in Lingerie erschienen, sondern in einem für ihre Verhältnisse züchtigen, weil hochgeschlossenen, knielangen feuerroten Seidenkleid, das ihre ausladenden Kurven umfloss wie roter Wein und, wie jedes Kleidungsstück, äußerst vorteilhaft betonte.
Ihre dichten schwarzen Haare hatte sie zu einem kunstvoll verschlungenen Dutt hochgesteckt und ihre langen nackten Beine steckten in schwarzen Lackpumps. Er hatte sich schon immer gefragt, wie sowohl sie als auch sämtliche Sekretärinnen in Wolkenstadt es immer schafften, auf diesen schwindelerregend hohen Absätzen dahinzuschweben als wären sie barfuß.
Jetzt reiß dich mal zusammen, Armand. Du brauchst nicht auch noch Natalia zum Feind.
„Tut mir leid, ich hatte nur einen echten Scheißtag heute, aber es war nicht nett, meinen Frust an dir auszulassen." Er beugte sich über die verführerisch duftende Nudelbox. Der Geruch von Knoblauch, Pfefferoni und würzigem Käse stieg ihm in die Nase und ließ ein wenig von seinem Frust verdunsten.
„Gut zu wissen, dass du deine Manieren noch nicht ganz verloren hast, wenn sie auch schon ziemlich eingerostet sind. Wie hat diese arme Frau da unten— wie hieß sie noch gleich —?" Sie blickte ihn fragend an.
„Sylvia", sagte er kurz angebunden, während er mit der Gabel eine mit Käse triefende Nudel herausfischte.
„Ja, genau, Sylvia. Wie hat sie das nur eine Nacht lang mit dir ausgehalten?"
Mit einer eleganten Bewegung aus dem Handgelenk servierte sie ihnen beiden zwei Gläser Wein, schnappte sich ihre eigene Box und setzte sich auf die gepolsterte Armlehne seines Louis-quinze Sessels.
„Sie hat die Nacht ja nicht mit mir verbracht, sondern nur bei mir, in getrennten Schlafzimmern. Das habe ich dir auch genauso erzählt, nur du hast es wohl wieder vergessen." Er schluckte den ersten Bissen hinunter und eine exquisite Geschmacksexplosion erfüllte seinen Mund.
„Lecker, hm?" Natalia schob sich eine Gabel mit kunstvoll aufgerollten Spaghetti in den Mund.
„Mhm", war alles, was er darauf mit vollem Mund sagen konnte.
„Hast du deiner kleinen Erdenfreundin wenigstens deine Nummer gegeben?"
„Natalia, wenn's einen Preis für die neugierigste Göttin in ganz Wolkenstadt geben würde, dann würdest du den ganz sicher einheimsen." Er stocherte tiefer in seiner Nudelbox herum. Die besten Pfefferoni waren meistens unten versteckt.
„Heißt das ja oder nein?" Sie nahm einen Schluck von ihrem Weinglas. Offensichtlich war sie auch ein Champion im Ignorieren von Einwänden.
„Ja, hab ich, aber wenn's nach Mr. Z geht, dann darf ich Wolkenstadt ohnehin nicht mehr verlassen, sonst bin ich nicht nur meinen Job, sondern auch meine Unsterblichkeit los. Sein Ultimatum war unmissverständlich."
„Ich hab dir doch gesagt, er war extrem angepisst." Sie nickte vielsagend und warf dann einen Blick auf sein auf dem Tisch liegendes Smartphone, wo Sylvias Nachricht immer noch in der Ecke blinkte, ein kleiner flackernder Ruf nach Aufmerksamkeit.
Mist. Er hatte vergessen, die Nachricht wieder zuzumachen.
„Was hast du ihr denn für ein Angebot gemacht?" Sie deutete mit ihrer Gabel auf das Display und warf ihm dann einen herausfordernden Blick zu.
Na toll. Er hatte jetzt genau keine Lust darauf, Natalia die Details seines Dilemmas darzulegen.
„Nichts Bestimmtes. Ist jetzt auch nicht wichtig", sagte er ausweichend.
Natalia angelte sich mit ihrer Gabel eine Pfefferoni aus seiner Nudelbox. „Komm mir bloß nicht damit. Wenn eine Frau einem ihr bis vor kurzem unbekannten Lebensretter danach fragt, ob sein Angebot noch stünde, dann muss es wichtig sein. Und nach allem, was du mir über sie erzählt hast —, auch wenn ich mir sicher bin, du hast einen Haufen Sachen weggelassen — ist sie wohl noch immer in einer psychisch äußerst labilen Verfassung. Das würde ich nicht ignorieren an deiner Stelle." Sie ließ die Pfefferoni mit einem einzigen Flutsch zwischen ihren roten Lippen verschwinden.
„Und seit wann bist du denn jetzt auch Expertin in menschlicher Psychologie?"
Das wird ja immer besser. Jetzt analysiert sie auch schon ganz ungeniert in meinen Angelegenheiten rum.
Sie zuckte mit einer Schulter. „Ich bin fast so alt wie du, Armand, und ich bin eine weibliche Göttin." Sie beschrieb mit ihrer Gabel kleine Kreise vor ihrer Brust. „Ich kenne mich da aus. Also, willst du ihr nicht wenigstens antworten? Wo hast du denn wieder deine Manieren? Die Nachricht ist jetzt schon über eine Stunde her. Wer weiß, was sie mittlerweile angestellt hat. Willst du etwa zulassen, dass sie sich wieder etwas antut? Dann hast du Mr. Zs Wut für nichts und wieder nichts riskiert."
Seine Kehle schnürte sich plötzlich zu. Natalia sprach genau das aus, was er selbst nichtmal zu denken gewagt hatte. Den einen Gedanken, den er weggeschoben hatte, um sich vor einer Entscheidung drücken zu können.
Feigling. Genau das bist du, Armand.
Er stellte die Nudelbox samt Gabel auf den Tisch und genehmigte sich einen langen Schluck Wein. Dann nahm er sein Smartphone und starrte es an, als hoffte er immer noch, es würde ihm seine unangenehme Entscheidung abnehmen. „Was soll ich ihr denn antworten? Ich kann hier nicht weg, auch wenn ich das möchte."
Er hasste sich selbst für seine Feigheit und Unentschlossenheit, aber wenn er sich am selben Tag noch einmal Mr. Zs Anordnung widersetzte, dann könnte er auch gleich seine Koffer packen und auf ewig von hier verschwinden.
„Du brauchst also jemanden, der dich kurzfristig auf der Erde vertritt und sich um deine Sylvia kümmert, sehe ich das richtig?"
„Erstens, sie ist nicht meine Sylvia, wann verstehst du das endlich? Und zweitens gibt es so jemanden nicht." Er stieß einen Seufzer aus und war schon dabei, Sylvias Nachricht wegzuklicken, da schnappte sich Natalia sein Smartphone und bevor er etwas dagegen tun konnte, war sie schon eifrig am Tippen.
„Doch, natürlich gibt es den." Sie strahlte ihn an und hielt ihm das Handy unter die Nase.
Klar gilt das noch.
Bleib wo du bist, Süße.
Hilfe ist unterwegs, Armand
Süße? Oh, Mann!
Sowas würde er doch niemals schreiben, schon gar nicht an eine Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte.
„Was soll denn das jetzt werden? Bist du von allen guten Göttern verlassen? Ich hab dir doch gesagt, ich sitze hier fest." Jetzt war er wirklich angepisst. Warum musste sie sich auch in alles einmischen?
„Du magst hier vielleicht festsitzen, aber ich nicht." Sie wackelte mit ihren Augenbrauen und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
„Oh, nein, nein! Auf keinen Fall. Kommt ja gar nicht in Frage!" Ein Kaleidoskop an Szenarien, eines chaotischer als das andere, tauchte in seinem Kopf auf. Natalia auf Sylvia loszulassen käme einem über eine zarte Frühlingswiese hinwegfegenden Tornado gleich.
„Was? Wieso denn? Vertraust du mir denn so wenig? Ich war schließlich schon mindestens so oft wie du auf der Erde."
„Darauf kommt es doch hier nicht an. Das ist — " Er kratzte sich am Hinterkopf. Scheiße. Irgendwie musste doch diese Situation noch zu retten sein. „— eine spezielle Angelegenheit", sagte er, wohl wissend, wie wenig überzeugend das klang.
„Darum bin doch genau ich die Richtige. Spezielle Fälle sind sozusagen meine Spezialität." Mit einem breiten Grinsen platzierte sie ihre Nudelbox am Tisch, rutschte flink von der Armlehne und strich ihr Kleid glatt.
„Natalia, das geht nicht. Du kannst da jetzt nicht einfach bei ihr aufkreuzen."
„Komm schon, jetzt hab dich nicht so. Du bist schließlich nicht der Einzige, der sich hier oben zu Tode langweilt. Ich war schon lange nicht mehr auf der Erde unten, und mal nicht mit einem Rachefeldzug im Gepäck zu reisen, ist eine willkommene Abwechslung. Ich verspreche dir auch, dass ich mich als deine ‚Cousine' vorstellen werde." Sie malte mit ihren Fingern zwei Anführungszeichen in die Luft. „Ich kann es kaum erwarten, deine kleine Erdenfreundin kennenzulernen."
Sie rieb sich die Hände und warf dann einen Blick auf ihr eigenes Smartphone, das sie aus einer Falte in ihrem Kleid, die offensichtlich eine Tasche beherbergte, zog. „Ich war so frei, mir die Koordinaten und auch gleich alle Daten über sie rüberzukopieren. Dann musst du dich um nichts mehr kümmern." Mit schnellen Schritten stöckelte sie auf die Tür zu.
„Natalia, bitte." Er sprang von seinem Stuhl auf und eilte ihr nach. „Das ... das ist eine komplett wahnsinnige Idee." Die Penne und Pfefferoni in seinem Magen rebellierten.
„Es ist eine geniale Idee, Armand, wenn du nicht deine Unsterblichkeit aufs Spiel setzen und trotzdem sichergehen willst, dass Sylvia nichts passiert." Sie legte ihm eine Hand auf seine Brust und sein Herz zog sich zusammen. „Vertrau mir einfach. Du wirst sehen, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen wird. Wenn nicht, dann hab ich wenigstens ein wenig Spaß unten auf der Erde." Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, drehte sich zur Tür und rauschte davon.
Natalia vertrauen?
Armand starrte wie versteinert auf die verschlossene Tür.
Spaß unten auf der Erde?
Er ließ seine Stirn gegen die Tür sinken.
Armand, du bist geliefert.
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