Ein viel zu netter Mörder - 2
Langsam gingen wir beide auf einen großen Wolkenkratzer zu. Die Eingangstür wurde bereits von einem anderen Leviathan für uns geöffnet. Der fremde Mann trug einen perfekt sitzenden schwarzen Anzug. Grüne Augen musterten aufmerksam jede unserer Bewegungen. Als wir an ihm vorbei in das Hochhaus gingen, fragte er Mr. Giordano sofort: „Sir, darf ich Ihnen behilflich sein? Eventuell könnte ich die Dame hoch in das Apartment tragen. Sie scheint leider in keiner guten gesundheitlichen Verfassung zu sein. Falls Sie einen Arzt wünschen, werde ich sofort einen rufen."
Mr. Giordano warf mir einen Moment lang einen fragenden Blick zu. Ängstlich wich vor dem fremden Mann zurück, der wie Mr. Giordano sehr groß, doch auch etwas kräftiger gebaut war. Ein so muskulöser Leviathan war recht ungewöhnlich, da die meisten, im Gegensatz zu den Gestaltwandlern, ihre Kräfte nutzten, um sich zu verteidigen. Ich bezweifelte jedoch keinen Moment lang, dass dieser Leviathan stark genug war, um mich sicher in das Apartment zu tragen. Meine Zweifel lagen eher bei Mr. Giordano. Was sollte ich tun, wenn er währenddessen versuchte zu fliehen?
„Fürs Erste ist es das Beste, wenn Miss Laurence bei mir bleibt. Die Flammengeborenen haben ihr ziemlich zugesetzt und im Moment scheint sie jemanden um sich haben zu wollen, den sie kennt. Begleite uns trotzdem nach oben, außerdem braucht Miss Laurence eine Mahlzeit, bitte versuche etwas Essbares zu organisieren", befahl Mr. Giordano in einem sehr freundlichen, aber auch einem sehr bestimmenden Tonfall. Es war eindeutig zu erkennen, dass er hier die Befehle gab und es auch so gewöhnt war.
„Natürlich, Sir", antworte der Leviathan sofort, bevor er rasch zur Wand schritt und den Aufzug rief.
Irritiert und neugierig musterte ich Mr. Giordano. Am Ende wurde mein Blick von seinen so ungewöhnlichen Augen gefangen gehalten. Schon damals bei meiner ersten genauen Musterung hatten sie mich fasziniert, doch heute legten sie fast schon einen magischen Bann auf mich. Im Inneren der Iris umschlang das Silber in einem zärtlichen Tanz die hellblauen Farbtöne. Am Rand grenzte der dunkle Ring die Regenbogenhaut von dem Weiß des restlichen Auges ab. Es schien keinerlei Raserei oder gewaltiger Hass in Mr. Giordanos Blick zu liegen. Vielleicht etwas Wut, Aufruhr und eindeutig ein gefährliches intelligentes Aufblitzen, doch konnten dies wirklich die Augen eines Mörders sein?
Die große Hand an meiner Taille übte einen sanften Druck aus, sodass ich mich langsam auf den Fahrstuhl zu bewegte. Wir traten zu dritt durch die mittlerweile offene Tür ein und ich überlegte weiter. Konnte Mr. Giordano wirklich hinter diesen Explosionen stecken? Anderseits hatten wir von ihm den Auftrag für die tödlichen Sender bekommen, wer sollte also sonst für die grauenhaften Explosionen verantwortlich sein? Ich durfte mich auf keinen Fall von seiner wirklich guten Maskerade überzeugen lassen!
„Ist alles in Ordnung, Miss. Laurence?", fragte plötzlich Mr. Giordano besorgt.
Ich lächelte ihm sanft zu und sofort erhellte sich auch sein Gesicht. Wieder musste ich mir ins Gedächtnis rufen, dass das vor mir ein Mörder war, bevor ich antworte: „Mir geht es gut. Ich bin nur sehr hungrig und etwas erschöpft."
Sofort verfinsterte sich die Miene des Leviathans. „Sobald wir in meinem sicheren Apartment angekommen sind, müssen Sie mir unbedingt erzählen, wieso Mr. Samuel Sie gefangen gehalten hat. Ich kann einfach nicht begreifen, wie er eine so hübsche, intelligente, junge Frau wie Sie einsperren und fast verhungern lassen konnte!"
Plötzlich verspürte ich so etwas wie Erleichterung in mir aufsteigen. Der Leviathan wollte also endlich mehr von mir, der angeblichen Waffe gegen die Flammengeborenen, erfahren. Es war also wirklich alles nur Maskerade gewesen! Vor mir stand der Mörder! Es war alles ganz einfach! Nun ja, zumindest wenn er mich nicht im nächsten Moment umbringen würde, doch hätte er das gewollt, hätte er es doch sicherlich schon längst getan!
Wir gelangten im obersten Stockwerk an. Die Fahrstuhltür öffnete sich und ich betrachte mit großen Augen meine Umgebung. Wir befanden uns in einem kleinen gemütlichen Eingangsbereich. Ich hatte einen Flur erwartet oder zumindest mehrere Türen, die das Obergeschoss in einzelne Wohnungen aufteilten, doch scheinbar gehörte Mr. Giordano die ganze Etage. In diesem Moment trat ein Leviathan, ebenfalls in einem schwarzen Anzug, aus der Tür gegenüber von uns heraus und nickte uns zu. „Wir haben auf Sie gewartet. Bis jetzt ist alles noch ruhig."
„Bis jetzt?", fragte ich automatisch nach. Irgendetwas schien mit dieser Formulierung überhaupt nicht zu stimmen.
Mr. Giordano zuckte nur gelassen mit den Schultern und antworte: „Es ist bloß eine Redewendung, die sich hier eingebürgert hat. Meistens erfolgt, nachdem ich ein Sicherheitsteam angefordert habe, kurz darauf ein Anschlag. Ich habe mich bei sehr vielen Menschen, Gestaltwandlern, Flammengeborenen und selbst Leviathanen unbeliebt gemacht."
Immer noch lag beim Gehen die große Hand an meiner Taille. Erst als wir hintereinander durch die Tür traten, löste sich der Griff leicht, bloß um mich kurz danach sofort wieder zu stützen.
„Sie können Ihre Schuhe hier abstellen oder sie anlassen, wie Sie möchten", erklärte Mr. Giordano sanft.
Ich nickte und begann aus meinen Schuhen zu schlüpfen. Als ich wieder aufstand, wurde mir sofort eine Wolldecke von einem weiteren fremden Leviathan gereicht. Wie groß war dieses Sicherheitsteam wohl? Mr. Giordano ergriff anstelle von mir die Decke und legte sie sanft über meine Schultern, danach führte er mich in den Wohnbereich. Es war ein sehr weitläufiger offener Raum mit vielen Sitzgelegenheiten, ob nun schwarze Ledersessel, eine große Tischecke oder mehrere Sofas. Einige der Sitzmöglichkeiten waren zum Fenster hin ausgerichtet, wo man eine unglaubliche Aussicht auf die Stadt genießen konnte. Scheinbar ganz von alleine ging ich mit leisen Schritten über den Holzboden, an einigen grünen Zimmerpflanzen vorbei, zu der großen Glasfront. Mehrere Minuten lang beobachtete ich staunend das Meer aus Lichtern, das sich vor mir erstreckte. Eine solche Schönheit musste einfach bewundert werden. Ich fühlte mich selbst wie ein Stern unter tausend anderen, geborgen und einfach nur glücklich dieses wundervolle Schauspiel aus Licht und Dunkelheit erleben zu dürfen.
„Ich habe Ihnen etwas zu Essen gemacht und auch etwas zum Kühlen mitgebracht", ertönte plötzlich eine Stimme hinter mir und riss mich von dem Schauspiel los.
Erschrocken wirbelte ich herum und blickte ängstlich in die grünen Augen des Leviathans, der bereits am Eingang auf uns gewartet hatte. Rasch warf ich einen kurzen Blick auf die Packung Eiswürfel in der einen und das vertraute Fertiggericht, bestehend aus Reis und Gemüse, in der anderen Hand, bevor ich mich panisch im Raum umsah. „Wo ist Mr. Giordano?", fragte ich sofort mit dünner Stimme. Hatte ich versagt? War er geflüchtet? Panisch begann ich wie Espenlaub zu zittern.
Der Sicherheitsmann vor mir, bemerkte sehr rasch meine Angst und befahl mir sofort: „Sie müssen sich beruhigen! Es ist alles gut! Niemand wird Ihnen hier etwas antun."
Die Versicherungen machten mich jedoch nur noch paranoider. Ängstlich wich ich nun auch vor dem scheinbar doch so netten Leviathan zurück. Wenn er einer von Mr. Giordanos Männern war, dann half er ihm vielleicht in diesem Moment zur Flucht. Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein?! Wieso hatte mich dieser wunderschöne Anblick derartig aus der Fassung gebracht!? Ich hatte hier eine Aufgabe und war nicht zum Sight Seeing da, immerhin mussten die Explosionen endlich ein Ende haben.
„Miss. Laurence!", erklang die besorgte Stimme des fremden Leviathans. „Bitte glauben Sie mir doch, was immer die Flammengeborenen Ihnen angetan haben, es wird Ihnen hier nichts Derartiges geschehen!"
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