Der Tod und der Feuerengel auf Plauderflug - 1
Es war sehr praktisch, dass in der heutigen Zeit so gut wie jedes Gebäude einen Aufzug besaß. Obwohl ich derzeit untergewichtig war, schienen Samuel nach fünf Minuten die Arme schwer von meinem Gewicht zu werden. Wer konnte es ihm verübeln? Ich hätte nicht einmal meine Zimmerpflanze Elli fünf Minuten lang im Brautstil tragen können, ohne dass ich sie fallen gelassen hätte. Zu meiner Verteidigung war Elli zwar fast eingegangen, doch der mit schwerer Erde gefühlte Porzellantopf war nicht klein. Dank dem Aufzug blieb es Samuel erspart mich hunderte von Stufen hinauf zum Dach zu tragen. Ein weiterer Vorteil waren die verspiegelten Wände des kleinen Raums, denn so konnte ich mich zum ersten Mal seit dem Aufwachen betrachten.
Ich sah einfach fürchterlich aus. Meine Wangen waren seltsam eingefallen und die Augen, die mich aus dem Spiegel zurück anstarrten, hatten jeglichen Glanz verloren. Sie wirkten erschöpft und schwach. Der Eindruck wurde von den mittlerweile rötlich schwarzen Augenringen noch verstärkt. Meine bereits zuvor leichenblasse Haut wirkte nun fast durchsichtig, sodass man Angst haben musste im nächsten Moment die Umrisse eines Schädels erkennen zu können. Die Krönung meines Erscheinens waren jedoch weiterhin die feuerroten Haare. Man hätte meinen müssen, dass die leuchtende Farbe mir neues Lebenslicht einhauche, doch neben dem kräftigen Rot, sah mein restliches blasses ich nur noch ungesünder aus. Ich bezweifelte zwar, dass ich mich in nächster Zeit viel unter Menschen aufhalten würde, doch sollte ich zufällig einmal einem Kind begegnen, würde es mit Sicherheit schreiend zu seiner Mami rennen.
Diese erheiterten Gedanken halfen mir mich seelisch auf mein Treffen mit Aidan vorzubereiten. Zumindest versuchte ich mir das einzureden, bis Samuel mich vor einer Tür vorsichtig wieder auf meine schwachen Beine stellte. Als er auch noch mit einer mitfühlenden Stimme fragte: „Bist du sicher bereit?", wusste ich, dass ich mich die ganze Zeit selbst angelogen hatte.
Wut köchelte bereits jetzt in mir. Auch die Panik lauerte am Rande meines Verstandes und wartete begierig darauf, dass mein Zorn endlich verflog und sie eine Chance hatte. Meine Stimme triefte nur vor Sarkasmus, als ich Samuel genervt antwortete: „Aber sicher bin ich bereit!"
Wundervolle braune Augen blickte mich erstaunt an, scheinbar hatte mein kleiner Flammengeborener eine andere Reaktion von mir erwartet, doch wie hätte er auch ahnen können, dass sich mein Galgenhumor mit meinen Schauspielerkünsten verbündet hatte. Ich wich nicht einen Millimeter unter Samuels wachsamen Blick zurück, sodass er schließlich dazu gezwungen war die Tür vor uns zu öffnen.
Das Krankenhaus besaß ein großes Flachdach. An seinem Rand waren in regelmäßigen Abständen gleißend helle Lichter angebracht. Sie strahlten mit aller Kraft die benachbarten Gebäuderiesen, genauso wie den dunklen Nachthimmel an. Das grelle Licht war bereits aus weiter Ferne gut zu erkennen. Ich konnte mich noch sehr genau an die hitzige Diskussion erinnern, als die Lampen installiert worden waren. Ein Großteil der menschlichen, gestaltwandlerischen und leviathanischen Bevölkerung hatten in den Lampen eine riesige Energieverschwendung gesehen, doch schließlich hatten sich trotzdem die Flammengeborenen und einige wenige andere Individuen durchgesetzt.
Bis heute hatte ich den Grund für die Lichter nie begriffen, doch nun fiel mir ihr Vorteil schlagartig auf. Die gleißende Helligkeit vereitelte fast vollkommen neugierige Blicke von der Straße oder von anderen Gebäuden auf die Mitte des Krankenhausdaches. Kein einfacher Mensch würde von einer tieferen Position durch den Lichtschleier hindurchblicken können, sondern würde sofort geblendet werden. Das bedeutete selbst eine Person wie Aidan, der mit seinen hell leuchtenden Flügeln bei der Landung sicher aufgefallen wäre, war direkt über und auf den Dach so gut wie unsichtbar. Es war also kein großes Wunder, dass sich viele Flammengeborene für die Lichter auf dem Krankenhaus eingesetzt hatten.
Eben als ich vom Teufel dachte, fiel er mir auch ins Auge. Aidan stand innerhalb des dunkelsten Flecks auf dem Dach. Natürlich war er einmal mehr halbnackt, denn ein T-Shirt beim Fliegen mitzutragen, war von ihm zu viel verlangt. Stoisch betrachtete er Samuel und mich. Er machte weder eine Bewegung auf uns zu, um uns zu begrüßen, noch eine zurück. Man bekam fast den Eindruck einer Statur gegenüberzustehen, würden die Flammen in seinen wilden Tattoos nicht unruhig umher tanzen. Das Feuer in Aidan schien aufgewühlt zu sein, doch die Miene des Mannes verriet nicht einen Hinweis auf seinen Gemütszustand. War er vielleicht zornig, weil ich auf ihn losgegangen war, doch was erwartete er bei einer solchen Provokation von mir? Vielleicht taten ihm seine Worte auch leid, immerhin hatten sie mich ins Krankenhaus befördert, anderseits konnte ich mir das bei Aidan auf keinen Fall vorstellen.
Samuel legte stützend einen Arm um meine Taille, so dass es mir leichter fiel mit Beinen aus Pudding zu Aidan zu stolzieren. Als wir schließlich bei ihm angekommen waren, schwiegen alle Anwesenden betroffen. Keiner von uns wagte den scheinbar sehr wacklig gebauten Frieden durch eine nichtssagende Begrüßung zu zerstören. Schließlich nahm sich Samuel doch ein Herz, denn wir alle wussten, dass wir nicht ewig auf dem Dach verharren konnten: „Ihr beide kennt den Plan. Ich werde nun zum Haupteingang gehen. In etwa 5 Minuten sollte ich aus dem Gebäude laufen."
Aidan und ich nickten beide kurz und knapp, dann musterten wir uns gegenseitig, ich wie ein wütender Hund, während er weiterhin die stoische Statur spielte. Samuel seufzte einmal mehr an diesem Tag. Leicht genervt und verzweifelt strich er sich durch die Haare, bevor er sich zu mir herab beugte. Ich wand ihm mein Gesicht nicht zu, weswegen ich nur einen kleinen Abschiedskuss auf die Wange bekam. Das Kribbeln und Samuels Worte: „Bitte bringt euch nicht gegenseitig um", ignorierte ich vollkommen. Schließlich nahm er sehr langsam seinen Arm von meiner Taille. Mein Gewicht thronte nun vollkommen alleine auf meinen eigenen Beinen und sofort bekam ich Gleichgewichtsprobleme, trotzdem weigerte ich mich etwas zu sagen. Wer sollte mir auch helfen? Aidan sicher auf keinen Fall.
Mit jeder Sekunde die wir beide alleine auf dem Dach verharrten, wuchs die Wut in mir an, denn Aidan sagte weiterhin absolut überhaupt nichts. Fast glaubte ich, dass der Mann wirklich zu einer Statur mutiert war. Das grausame Schicksal auf ewig nichts anderes zu tun, als leblos durch die Luft zu starren, wäre ihm auch ganz recht geschehen.
Plötzlich fegte ein starker Windstoß über das Dach. Mit meinem wackeligen Gleichgewicht konnte ich der Kraft der Natur absolut nichts entgegensetzen. Wie ein Blatt im Wind wehte ich davon. Leider war mein Gewicht etwas schwerer als das eines ganzen Blätterhaufens, weswegen ich anstatt elegant davonzutanzen, stumm zur Seite kippte. Ich streckte meine Hände aus, um mich abzufangen, doch das war überhaupt nicht nötig, denn zwei starke Arme hielten mich noch gerade so rechtzeitig auf.
„Alles in Ordnung?", fragte Aidan. Seine Stimme war seltsam rau und er räusperte sich rasch.
„Nichts ist in Ordnung, Kohlkopf! Lass mich sofort los!", begann ich zu schimpfen. Damit war es wohl klar, wer denn ersten Angriff startete, aber es war doch sicher besser das Thema endlich anzusprechen, anstatt sich anzuschweigen.
„Wenn ich dich jetzt loslasse, fällst du auf den Boden", erinnerte mich Aidan an meine unvorteilhafte Lage. Seine Stimme klang nun wieder so überheblich und kalt wie sonst.
Ich schätzte, dass aus genau diesem Grund meine Sicherungen einmal mehr durchbrannte, denn ich behauptete sofort: „Nur zu, der kalte Boden ist mir lieber als deine Umarmung."
Es folgte keine Antwort. Die Arme, die mich hielten, verschwanden einfach und ich stürzte auf den harten Boden. Der einzige Vorteil war, dass ich nicht wirklich tief fiel und mir so nicht einmal ein paar kleine Schürfwunden zuzog.
„Bist du jetzt zufrieden, Menschlein?", fragte die Nerv tötende Stimme über mir.
„Auf jeden Fall, danke der Nachfrage, Mr. Kaltherzig", zischte ich zurück. Mit blitzenden Augen forderte ich Aidan auf, endlich mit der Sprache herauszurücken, doch er schien sich weiterhin um das Thema herumdrücken zu wollen.
„Du weißt, dass ich dich gleich tragen werde, oder? Sonst kommst du nicht unbemerkt von hier davon", erinnerte er mich natürlich sogleich unbarmherzig.
„Das weiß ich!", stieß ich hervor und riss mich zusammen, um nicht noch einige ganz andere Worte hinzuzufügen. Wo war mein verdammtes Diplomatiegeschick geblieben, wenn ich es unbedingt brauchte? Ich hatte doch Jahre lang gut verhandelt und nun führte ich mich auf wie ein trotziges Kind. Ich kramte in meinem Verstand, doch mir wollte einfach nichts Diplomatisches oder zumindest etwas Ausgefuchstes, mit dem ich Aidan erpressen konnte, einfallen. Also saß ich weiterhin beleidigt auf den kalten Boden und schwieg. Immerhin schrie ich nicht wie ein Kind, denn genau danach fühlte ich mich. Aidan hatte mich mit seinen Worten tief verletzt, doch das wollte ich ihm auf keinen Fall zeigen. Viel lieber spielte ich den wütenden Dummkopf, als die tödlich getroffene intelligente Frau, die ich eigentlich war.
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