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»Also, schieß los.«
Mit einer genervten Grimasse lockerte Alexander den Knoten seiner Krawatte. Er würde sich nie an diese lästigen Dinger gewöhnen. Sein Gegenüber quittierte seinen verkrampften Gesichtsausdruck mit einem schiefen Grinsen, riss sich jedoch sofort zusammen, als Alex ihm über den schweren Schreibtisch hinweg einen bösen Blick zuwarf.
»Wenig Auffälligkeiten diesen Monat«, begann er seinen Bericht. »Wir haben eine neue Tänzerin, die ziemlich gut ankommt. Sie wurde bereits zwei Mal Opfer von Übergriffen, scheint's aber gut wegzustecken.«
Langsam lehnte Alexander sich in seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Welche Art von Übergriffen?« Dass er am liebsten sofort alles über diese neue Tänzerin wissen wollte, verschwieg er lieber.
»Nichts Wildes zum Glück. In beiden Fällen hat ein Gast versucht, sie anzufassen. Sie hat genug Selbstbewusstsein, um das zu unterbinden. Musste nur gestern einschreiten, weil die Säcke nichts begriffen haben.« Kevin schüttelte den Kopf, während er das sagte.
Alex fuhr sich mit einem Finger über das Kinn. Bartstoppeln machten sich dort wieder bemerkbar, aber er hatte keine Geduld, sich jetzt darum zu kümmern. Sein Bart wuchs eh schneller, als er ihn jemals glattrasieren konnte. Stattdessen ließ er die Hand wieder sinken und schaute zu dem Türsteher hinauf, der vor seinem Tisch stand. »Also trägt sie kein Rot? Warum nicht?«
Der bullige Mann zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung. Manchmal trägt sie's, manchmal nicht. Nach Lust und Laune. Spricht doch nix dagegen, oder, Boss?«
Für einen Moment ließ Alexander seinen Blick über das viel zu kleine Büro mit den viel zu voll gestopften Regalen gleiten. Er selbst hatte die Regel mit den Armbändern eingeführt. Sie sollte dazu dienen, die Frauen zu ermächtigen. Alle anderen Tänzerinnen jedoch trugen das rote Band, das den Gästen das Anfassen erlaubte. »Ich will nur nicht, dass unsere Kunden verwirrt sind. Oder dass sie sich ständig verteidigen muss.«
»Alle anderen scheinen ja kein Problem zu haben, ihre Griffel bei sich zu behalten. Denke nicht, dass es da Probleme gibt.« Wieder zuckte der schwarz gekleidete Mann mit den Schultern.
»Na gut.« Alex ließ das Thema fallen, auch wenn er noch nicht ganz zufrieden war. Etwas anderes interessierte ihn viel brennender. »Hab ich die Kleine schon mal gesehen?«
»Ne. Sie hat nach deinem letzten Besuch hier angefangen und nur kurz vorher spontan ne Bewerbung rein gegeben.«
Alexander griff nach dem Stapel Papiere neben sich und durchblätterte ihn, bis er bei den letzten Bewerbungen ankam. »Welche ist es?«
Kevin wischte schnell zwei Blätter weg, dann tippte er auf einen Bogen, der im Gegensatz zu den anderen kein Foto enthielt. Skeptisch schaute Alex zu ihm auf. »Ihr habt sie ungesehen genommen?«
Sofort hob der stämmige Mann beide Hände. »Mutter Gina hat das entschieden. Das Mädchen hat die Bewerbung persönlich überreicht. Muss Eindruck hinterlassen haben.«
Mit gerunzelter Stirn überflog Alex die wenigen Zeilen auf dem ausgefüllten Bogen. Elisabeth Petersen. Lily war ein klassischer Spitzname für Elisabeth. Das passte. Sie hatte eine Adresse auf St. Pauli, aber sie studierte. Sie hatte als Kind Ballett gemacht, hatte danach aber in zwei zwielichtigen Clubs auf der Reeperbahn gearbeitet. Misstrauisch verzog er den Mund zu einer dünnen Linie. Winterhude, wo er sie gestern eingesammelt hatte, war kein Ort, wo Tänzerinnen normalerweise wohnten. Aber wenn sie hier nicht einmal regelmäßig rot trug, dann ließ sie sich ganz sicher auch nicht für Sex bezahlen. Was also hatte sie da gemacht? Und andersherum, was machte eine Studentin, die Ballett getanzt hatte und eventuell aus Winterhude stammte, in seinem Club?
»Ist sie heute Abend gebucht?«
Kevin kratzte sich am Kopf, ehe er mal wieder mit den Schultern zuckte. »Keine Ahnung, ist ja nicht mein Bier. Aber ich glaube, sie arbeitet nur freitags und samstags. Hab sie noch nie sonntags hier gesehen.«
»Also nächste Woche«, gab Alex entschlossen von sich, während er sich schwungvoll erhob. »Nächsten Freitag schaue ich sie mir mal genauer an.«
»Stimmt was nicht mit dem Mädchen?«
»Kann ich noch nicht beurteilen«, war alles, was Alexander dazu sagte. Er konnte selbst nicht genau den Finger darauflegen, was ihn störte. Es gab genügend andere Mädchen in seinen Clubs, die sich eine billige Wohnung auf St. Pauli genommen hatten und sich hier ihr Geld verdienten, während sie studierten. Dass er sie in Winterhude getroffen hatte, passte nicht zum Rest. Und das Ballett. Dazu brauchte man Geld. Und wer Geld hatte, verdiente sich seinen Lebensunterhalt sicher nicht mit Tanzen.
Kevin zuckte erneut mit den Schultern, ehe er seine Mappe mit den Rechnungen der letzten Woche auf den Tisch legte und dann das kleine Büro verließ. Das einzige, was in diesem winzigen Raum edel wirkte, war der alte Schreibtisch aus Echtholz. Ansonsten war das fensterlose Zimmer chaotisch, schmucklos und, wenn man genauer hinsah, schäbig. Es gab andere Hinterzimmer in diesem Club, die wesentlich prächtiger wirkten, doch die hatte Alex für die Mutter und ihre rechte Hand herrichten lassen. Er war sowieso so selten hier, da brauchte er nichts Besonderes. Nur ein Fenster zum Lüften wäre schön gewesen.
Mit einem ergebenen Seufzen klappte er die Mappe mit Rechnungen auf und machte sich daran, sie stichprobenartig mit den Abrechnungen der Buchhalterin zu vergleichen. Er wollte ihr vertrauen, aber er war in der Vergangenheit schon mehr als einmal auf unzuverlässige Mitarbeiter reingefallen. Es war fast Mitternacht, aber wenn er schon mal hier war, konnte er auch ein paar Stunden investieren, die er mit Zahlen und Rechnungen verbringen würde.
***
Der große Clubraum war in Dunkelheit getaucht und nur ein Scheinwerferlicht erhellte eine einzelne Stange auf der Bühne. Interessiert beugte sich Alexander vor. Er hatte fast eine ganze Woche auf diesen Moment gewartet und war mehr als überrascht, dass dies Lilys Nummer war. Es geschah nicht häufig, dass Mutter Gina eine Tänzerin alleine auftreten ließ, und noch ungewöhnlicher war es, dass sie einem Frischling diese Verantwortung zutraute. Nachdenklich fuhr er sich mit dem Daumen über seine Lippen, während er aufmerksam darauf wartete, dass die Tänzerin vortrat.
Die ersten Takte eines langsamen, harten Basses ertönten und mit ihm erschien ein langes Bein in schwindelerregend hohen High Heels im Licht. Dem Bein folgte ein Körper, der in weniger als nichts gekleidet schien: Weiße Stofffetzen schienen von unsichtbaren Schnüren gehalten einige wenige Flecken Haut zu verdecken, doch der Blick eines jeden Mannes wurde sofort zu den trainierten Oberschenkeln, dem runden Hintern und dem verlockenden Dekolletee gelenkt. Das Gesicht der Tänzerin lag im Schatten, während sie ihre offenen, roten Haare nach vorne fallen ließ und voller Entschlossenheit mit beiden Händen die Stange umgriff.
Alex schluckte und lehnte sich zurück. Er hatte vorher gewusst, dass Lily attraktiv war, aber die Dunkelheit hatte ihren vollen Charme verschluckt. Ob Mutter Gina sie deswegen sofort genommen hatte? Weil sie wusste, dass diese Tänzerin genau seinem Typ entsprach? Zierlich, aber dennoch sportlich, feurige Haare, die vielleicht ein ähnliches Temperament verbargen. Und wie sie da stand, ganz in weiß, beinahe vollkommen entblößt vor dem männlichen Publikum, die Schultern hochgezogen, der Blick gesenkt. Sie sah verletzlich aus, als wäre sie viel zu schüchtern, um auch nur einen Schritt zu machen.
Für mehrere Herzschläge verharrte die Tänzerin in dieser Position, bis sie zeitgleich mit dem ersten Beatdrop schwungvoll beide Beine hochriss und sie kopfüber um die Stange wickelte. Alexanders Mund blieb offen stehen. Diese Frau war definitiv durchtrainiert, auch wenn ihr zierlicher Körper das nicht vermuten ließ. Immer wieder hing ihr ganzes Gewicht nur an ihren Händen, die sich fest um das harte Metall schlossen, während ihre Beine in der Luft schwebten und zum Takt der Musik Bewegungen ausführten.
Doch unter all der Akrobatik war noch mehr. Wie sie ihre Hüften bewegte. Wie sie immer wieder kurz ihre Beine spreizte, um dann ihre Schenkel eng um die Stange zu pressen. Wie immer für den Bruchteil einer Sekunde ihr Blick ins Publikum wanderte, voller Feuer, voller Herausforderung. Doch auf jeden heißen Blick folgte eine Abkehr vom Publikum. Sie kauerte sich zusammen, entzog ihnen den freien Blick auf ihren Körper, als wäre sie plötzlich schüchtern.
Tief sog Alex die Luft ein und öffnete die ersten Knöpfe seines blütenweißen Hemdes. Er hatte die Tänzerin nur wenige Minuten gesehen, doch war er bereits jetzt überzeugt, dass Mutter Gina absolut richtig gehandelt hatte, als sie diese vom Fleck weg eingestellt hatte. Als Besitzer diverser Clubs in Hamburg hatte Alexander schon viele Tänzerinnen gesehen. Es gab immer einige, die tatsächlich gut aussahen und auch gut tanzen konnten, doch das hier war so viel mehr.
Er hatte das Bedürfnis, sie von der Bühne zu zerren und sie vor den Blicken aller anderen Männer zu schützen. Er wollte sie packen und in sein kleines Kabuff ziehen, ihre Beine spreizen und sich in ihr versenken, immer wieder, bis sie anflehte, sie kommen zu lassen. Und wenn ein Blick auf die im Schummerlicht sichtbaren Männer an anderen Tischen irgendein Indikator war, dann hatte nicht nur er diese Gedanken. Sie würde seiner Organisation noch sehr, sehr viel Geld bringen.
Doch da war noch mehr. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass es kein Zufall gewesen war, dass sie letzte Woche neben seinem Auto aufgetaucht war. Er hatte einem Geschäftspartner seines Bosses eine freundliche Nachricht überbracht und war damit gerade fertig geworden, als sie plötzlich an sein Fenster klopfte. Natürlich bestand immer das Risiko, dass der als Taxi getarnte Wagen die Aufmerksamkeit eines Passanten auf sich zog, aber normalerweise reichte ein Hinweis darauf, dass das Schild auf dem Dach nicht leuchtete, um interessierte Kunden abzuweisen. Sie hingegen war einfach eingestiegen und hatte sich nicht mal um das fehlende Taxameter gekümmert.
Und sie arbeitete zufällig in einem seiner Clubs?
Sie hatte authentisch panisch und misstrauisch gewirkt, nachdem sie realisiert hatte, dass er kein normaler Taxifahrer war. Und er hatte durchaus das Gefühl gehabt, dass sie wie ein offenes Buch war. Aber genau das konnte auch Teil eines Spiels sein, Teil ihrer Tarnung. Wenn man ihn ausspionieren wollte, gab es kaum eine bessere Taktik, als ihm eine wehrlose, hübsche Frau in die Arme zu werfen.
Er fokussierte seinen Blick wieder auf die Tänzerin. Sie schaute immer wieder ins Publikum mit diesem Feuer in ihren Augen. In diesen Momenten erinnerte nichts an die verzweifelte junge Frau, die er in seinem Auto gehabt hatte. Aber dann, wenn sie sich abwendete, wenn sie sich klein machte und an die Stange schmiegte, als wäre sie ihre Erlösung, dann konnte er wieder diese Verletzlichkeit sehen. Schauspielern konnte sie auf jeden Fall.
Ihr Blick fiel auf die erste Reihe. Auf ihn. Ohne mit der Wimper zu zucken hielt er ihren Blick. Schock. Sie verlor beinahe den Halt an der Stange. Ihre Choreografie brachte sie dazu, den Publikum kurz den Rücken zuzudrehen. Konzentriert beugte er sich weiter vor und starrte unverwandt zu ihr hoch.
Als sie wieder nach vorne schaute, blickte sie direkt zu ihm hinab. Panik flackerte in ihren Augen.
Dann war die Emotion weg und wieder ersetzt von dem feurigen Blick, den sie sonst für das Publikum übrig hatte. Aber er konnte sehen, ihre Griffe waren zittriger. Mehrmals setzte sie einen Schritt neben dem Beat der Musik.
Das konnte gespielt sein, aber dieser erste Moment. Dieser erste Schock, als sie ihn gesehen hatte, das war echt gewesen. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn hier zu sehen. Wenn sie wirklich auf ihn angesetzt worden war, dann hätte sie sicher gewusst, dass er der Besitzer des Clubs war und hier auftauchen konnte. Sie hätte sogar darauf gesetzt.
Vielleicht war es einfach alles Zufall. Während auf der Bühne langsam die Musik zu Ende kam und das Licht ausging, lehnte er sich wieder zurück. Alles sprach dafür, dass es nur Zufall war. Er war einfach viel zu paranoid. Teil des Geschäfts, aber trotzdem lästig.
Alex atmete langsam aus und schloss die Augen. Sie würde sicher gleich vorbeikommen. Dann konnte er sie zur Rede stellen.
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