13
Abgehetzt stürmte Elisabeth in die Mensa. Es war jeden Mittag das gleiche: Wer eine Zehn-Uhr-Vorlesung hatte, musste um zwölf die Beine in die Hand nehmen, um noch einen Tisch abzubekommen. Obwohl freitags deutlich weniger Lehrveranstaltungen als üblich stattfanden – fast so, als wären Dozenten auch nur normale Menschen, die früh ins Wochenende wollten – war der Andrang trotzdem hoch. Heute hatte sie den Kürzeren gezogen und war von Anke und Peter auserwählt worden, ihnen einen Tisch zu reservieren.
Schwungvoll stellte sie ihre Tasche auf dem ersten freien Tisch, den sie sah, drapierte ihren Mantel über einem der Stühle und setzte sich dann auf einen anderen. Selbst mit so offensichtlichen Zeichen musste man noch auf der Hut sein, dass nicht irgendein anderer Student ungefragt einen Stuhl klaute oder sich gar dazu setzte.
Während sie auf ihre beiden Freunde wartete, holte sie ihr Handy hervor. Zu viele Benachrichtigungen warteten auf sie. Seufzend öffnete sie ihren Messenger, wo ihr der Name von Mutter Gina aufgefallen war. Die Clubchefin schrieb nie, wenn es nicht wichtig war.
»Kannst du heute eine halbe Stunde früher kommen?«
Stirnrunzelnd blicke Lily auf die Nachricht. Keine Begründung, keine Erklärung, nur diese simple Bitte. Sie konnte sich nicht helfen, es fühlte sich seltsam an. Da sie jedoch keine anderweitigen Verpflichtungen hatte, zuckte sie schließlich mit den Schultern und tippte ihre Antwort ein.
»Klar, bin um halb neun da.«
Nachdem sie gleich drei Studenten hatte abwimmeln müssen, die unbedingt einen Stuhl von dem Tisch klauen wollten, kamen Anke und Peter endlich auch an. Mit einem theatralischen Seufzen ließ ihre beste Freundin sich auf den Stuhl plumpsen, auf dem Elisabeth ihren Mantel gelegt hatte, während Peter ihnen gegenüber Platz nahm.
»Ehrlich, warum besteht unser Prof darauf, am Freitag so viel Stoff in eine Vorlesung zu packen? Bei mir stehen schon alle Schalter auf Wochenende!«, beschwerte Anke sich, während sie ihre langen glatten Haare in einen Zopf flocht.
»Ich hab lieber heute viel Stoff als am Montag«, kommentierte Elisabeth mit einem Schulterzucken. »Montage gehören für mich abgeschafft. Lieber lerne ich am Freitag hart, als dass ich am Samstag und Sonntag die ganze Zeit daran denken muss, dass ich Montag acht Stunden auf dem Campus hängen muss.«
»Du musst lernen, am Wochenende abzuschalten«, mischte sich Peter ein, der immer noch damit rang, sich im Sitzen seinen Mantel auszuziehen. Als er sich endlich aus dem zweiten Ärmel gekämpft hatte, leuchteten seine Wangen verräterisch rot, doch Lily ließ es unkommentiert. Er richtete sein Haar und fuhr fort: »Wenn du auch am Wochenende nur an die Uni denkst, machst du ja nie Pause. Das ist nicht gesund.«
Lachend schlug sie nach ihm. »Danke, Mama, da wäre ich alleine nie drauf gekommen.«
»Apropos Abschalten!« Anke richtete sich plötzlich wieder energiegeladen auf. »Kommst du heute zur Party?«
Skeptisch schaute Elisabeth ihre Freundin von der Seite an. »Party? Sind wir hier plötzlich in den USA, wo Studenten jedes Wochenende Party machen? Seit wann gehen wir auf Partys?«
»Seit nie! Genau deswegen ja!« Anke klopfte mit Nachdruck auf den Tisch. »Ich habe mitbekommen, dass unsere Kollegen von Ethno was planen. Einer von denen hat wohl nen Saal für seinen Geburtstag gemietet und gesagt, alle von den Geisteswissenschaften sind eingeladen. Das ist die Chance, endlich mal andere Leute kennenzulernen.«
Seufzend schüttelte Lily den Kopf. »Du weißt doch, dass ich freitags und samstags arbeite. Ich kann nicht.«
»Mädels, während ihr das ausmacht, stell ich mich schon mal zum Essen an. Ich hab Kohldampf.« Ohne auf eine Antwort zu warten, stand Peter auf und schlenderte davon.
Verschwörerisch beugte Anke sich zu ihr. »Kannst du nicht krank machen?«
»Könnte ich, aber dann gibt's halt kein Geld. Du weißt doch, dass ich jeden Cent brauche.« Elisabeth hasste es, sich für ihre Geldnot rechtfertigen zu müssen. Mit ihren Eltern würde sie niemals Bafög kriegen, aber sie weigerte sich, das Geld von ihren Eltern anzurühren. Sie hatte Glück, dass sie im Blue Moon endlich ordentliche Bezahlung für wenig Arbeit bekam.
Schmollend spielte Anke mit ihrem schwarzen Zopf. »Was arbeitest du überhaupt? Du willst das nie erzählen.«
Elisabeth ließ ihren Kopf auf die Tischplatte sinken und schaute von der Seite her zu ihrer Freundin auf. Sie wollte es ihr wirklich, wirklich nicht erzählen, aber gleichzeitig fühlte sie sich immer schlecht, wenn sie so offensichtlich etwas verschwieg. Sie hatte einfach Angst, dass sie verurteilt werden würde. Auch wenn sie Anke gut kannte und glaubte, dass ihre Freundschaft wirkliche Tiefe hatte, sie wollte das Gespräch nicht führen.
Es wurmte sie selbst, dass es ihr so schwerfiel. Sie schämte sich nicht für ihre Arbeit, aber sie war sich der Vorurteile zu bewusst, als dass sie sie hätte ignorieren können. Sie hatte sich schon von ihren Eltern abgewendet und baute jetzt ganz auf ihre wenigen Freunde, um Stabilität zu finde. Die Angst, auch diese noch zu verlieren, war zu groß. Sie wollte nicht alleine sein.
»Ist ja schon gut«, murmelte Anke plötzlich kleinlaut. »Hör auf, mich aus so großen Kulleraugen anzuschauen. Du siehst aus wie ein Welpe, dem man auf den Schwanz getreten ist.«
Mit einem leisen Lachen richtete Elisabeth sich wieder auf. »Danke. Ehrlich. Ich weiß, ich mache ein großes Geheimnis um alles, aber ich schwöre dir, ich bin in meiner Freizeit keine eiskalte Killerin und ich erpresse auch kein Schutzgeld.«
Anke blies ihre Wangen auf und stützte ihr Kinn auf einer Hand ab. »Och man, ich wollte schon immer mit einer Mafiabraut befreundet sein. Ich wette, du schämst dich nur zuzugeben, dass du in irgendeinem Großraumbüro im Callcenter sitzt, weil das zu langweilig und normal für dich ist.«
Grinsend schlug Elisabeth ihr gegen den Oberschenkel. »Das sagst du nur, weil du in einem Callcenter jobbst und das furchtbar ätzend findest.«
Zu ihrer Erleichterung ließ Anke das Thema daraufhin fallen und beschloss stattdessen, sich ebenfalls in die Reihe an der Essensausgabe anzustellen. So war Lily wieder alleine am Tisch, während sie darauf wartete, dass Peter zurückkam, damit sie sich ebenfalls anstellen gehen konnte.
Irgendwann würde sie Anke vom Blue Moon erzählen, aber heute war nicht dieser Tag.
***
Das Blue Moon war bereits voll, als Lily sich durch den Hintereingang zu den Garderoben schlängelte. Sie selbst startete immer erst um zehn Uhr, aber die meisten Tänzerinnen waren schon ab sieben auf der Bühne. Sie legte ihre Sachen auf dem ihr zugewiesenen Tisch ab, zog sich aber noch nicht um. Für ein Gespräch mit der Chefin wollte sie nicht nackt sein.
Mutter Gina sah sie sofort, als sie den Clubraum betrat. Sie winkte ihr hinter dem Tresen zu und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, zu den Büros auf der anderen Seite zu gehen. Angespannt presste Elisabeth sich durch die eng stehende Menge. Die Managerin wirkte nicht böse, aber sie hatte trotzdem ein ungutes Gefühl im Magen.
Sie hatte kaum auf einem der zwei Stühle vor dem großen Schreibtisch Platz genommen, da trat die Mutter hinter ihr ein. Sie schloss sorgfältig die Tür, bevor sie mit langsamen Schritten um den Schreibtisch rumging. Es steigerte Lilys Anspannung nur, dass Gina sich nicht hinsetzte.
»Ich habe im System gesehen, dass du letzte Woche auf einem Zimmer warst.«
Unwohlsein ergriff Lily. Mit einem Mal wurde sie sich bewusst, dass sie immer noch eine Angestellte hier im Club war, die nicht einfach tun und lassen konnte, was sie wollte. Mit trockenem Mund erklärte sie: »Ich habe mir nichts dabei gedacht. Es klang so, als könnten wir jeden Abend frei entscheiden, welche Farbe wir tragen. Wenn ich mich anmelden muss dafür oder so, dann mache ich das natürlich in Zukunft!«
Ginas Blick wurde weich und endlich setzte sie sich auch hin. »Du bist nicht in Schwierigkeiten, Elisabeth. Wenn du Schwarz tragen willst, ist das deine Entscheidung. Aber als Mutter dieses Nachtclubs ist es meine Aufgabe, alle meine Küken zu beschützen. Ich will nur sichergehen, dass du zu nichts gedrängt wurdest.«
Erleichtert, dass sie nicht in Schwierigkeiten war, schüttelte Lily den Kopf. »Gedrängt? Wer sollte mich dazu gedrängt haben? Außer Sina wusste nicht mal jemand, dass ich mir ein schwarzes Band genommen habe.«
»Bist du dir sicher, dass dich ... der Kunde nicht gezwungen hat?« Sie bemerkte sie kurze Pause, doch Lily wusste nicht, worauf Mutter Gina hinauswollte.
Erneut schüttelte sie den Kopf. »Ich habe das Band angelegt, ehe ich an dem Abend überhaupt mit einem Gast gesprochen habe.« Dass sie es extra für Alex angelegt hatte, verschwieg sie lieber.
Die ältere Frau seufzte tief, während sie ihren Kopf auf ihren Händen abstützte. Für mehrere Momente schien sie über etwas nachzudenken, doch dann schüttelte sie selbst den Kopf. »Okay. Ich will nur nicht, dass du das Gefühl hast, dass du Schwarz tragen musst. Natürlich freue ich mich über jede Tänzerin, die das macht, aber bei uns wird Selbstbestimmung groß geschrieben. Mach nichts, was du nicht willst, egal, wer das von dir verlangt. Und wenn irgendjemand aufdringlich wird, kommt sofort zu mir, okay?«
Lily hatte das Gefühl, dass sie etwas an der ganzen Situation nicht verstand, doch sie hatte keine Ahnung, was das sein könnte. »Ich weiß. Ich weiß, wie viel es wert ist, dass wir hier so in Schutz genommen werden.«
Gina nickte, dann stemmte sie sich vom Stuhl hoch. »Okay. Okay.« Sie brach erneut ab und hielt in der Bewegung inne. Dann schaute sie Lily entschlossen an. »Ich sollte dir demnächst mal den Besitzer vorstellen. Immerhin füllst du seine Taschen mit deiner Arbeit.«
Irritiert schaute Lily zu der Mutter hoch. Das war ein Themenwechsel, mit dem sie nicht gerechnet hatte. »Ich dachte, es ist nicht wichtig, dass ihn kennenlerne?«
Ein schelmisches Lächeln stahl sich auf die vollen Lippen der anderen Frau. »Für deine Arbeit hier ist es auch nicht wichtig. Aber bist du nicht gespannt auf das Gesicht des Mannes, den du hier reich machst?«
Darauf konnte sie nur lachen. »Reiche Menschen sind wesentlich langweiliger, als die meisten denken. Glaub mir, ich hab Erfahrung. Ich brauche kein Gesicht. Ich will nur meine Arbeit machen und bezahlt werden.« Unwillkürlich hielt Lily inne und besann sich darauf, dass sie hier immer noch mit ihrer Chefin sprach. »Aber ich wäre natürlich geehrt, wenn ich ihm einmal die Hand schütteln dürfte.«
»Dann werde ich mal sehen, ob ich das nicht arrangieren kann.« Gina grinste inzwischen breit. »Ich freue mich zu hören, dass du so abgeklärt auf die Welt schaust. Da muss ich mir keine Sorgen machen, dass du dich von einem Mann in Anzug beeindrucken lässt.«
Langsam erhob Elisabeth sich ebenfalls von ihrem Stuhl. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass sie etwas nicht verstand, und jetzt kam es ihr so vor, als würde sich die Mutter einen Scherz auf ihre Kosten erlauben. »Verpasse ich hier gerade was?«
»Aber nein, Schätzchen. Ich teile nur deine Meinung, dass die Anzugträger dieser Welt bei weitem nicht so beeindruckend sind, wie sie selbst gerne von sich glauben.«
Mit diesen Worten öffnete Gina die Tür und bedeutete ihr zu gehen. Das Gespräch war offensichtlich beendet. Stirnrunzelnd und noch immer misstrauisch schlängelte sich Lily durch die Menge zurück zur anderen Seite des Clubs, um zu den Garderoben zu kommen.
Sie vertraute Mutter Gina, daran gab es keinen Zweifel. Alle Tänzerinnen lobten sie in den höchsten Tönen und sie hatte selbst den direkten Vergleich zu den anderen Clubs, in denen sie vorher getanzt hatte. Dass sie sich Sorgen darum gemacht hatte, dass eine neue Tänzerin plötzlich entgegen ihrer Worte Schwarz getragen hatte, sprach ebenfalls für sie.
Ihr gefiel nur nicht, dass sie vermutlich nicht rausbekommen würde, was es mit den Scherzen über den Besitzer auf sich hatte, bis sie ihn selbst kennenlernte. Sie hatte die anderen Tänzerinnen schon nach ihm gefragt, aber die hatten alle nur gekichert und ihr gesagt, dass er verdammt heiß war. Und dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war, wenn jemand gegen die Regeln verstieß. Damit konnte sie wenig anfangen.
Gegen ihren Willen war sie jetzt doch neugierig. Während sie sich in ihr weißes Outfit zwängte, starrte Lily entschlossen in den Spiegel. Es gab nur einen Anzugträger, der sie im Moment wirklich interessierte – und das war Alex. Der Besitzer konnte ihr ganz egal sein, bis sie ihn tatsächlich kennenlernte. Neugierde hin oder her, ihr Fokus galt ihrem Auftritt.
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