12
Er war gerade erst ein paar hundert Meter gefahren, da spürte er plötzlich einen scharfen Schmerz in seiner Wange. Uralte Instinkte schlugen an und ohne darüber nachzudenken, trat er aufs Gas. Seine Frontscheibe zierte ein Loch und war durch die Kugel so zersplittert, dass er kaum noch sehen konnte. Trotzdem wusste er: Er musste hier weg, so schnell es ging.
Ein weiterer Schuss löste sich irgendwo in der Ferne und schlug ein weiteres Loch in seine Windschutzscheibe. Diesmal verfehlte die Kugel ihn um Haaresbreite und bohrte sich in das Polster der Rückbank.
Fluchend duckte Alex sich. Wer auch immer dort schoss, er hatte es auf seinen Kopf abgesehen. Das war kein Einschüchterungsversuch, hier stand sein Leben auf dem Spiel. Es war zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen, doch der Winkel, mit dem die beiden Schüsse sein Auto getroffen hatten, deuteten darauf hin, dass der Schütze sehr weit entfernt in einem der Hochhäuser hockte.
Ohne lange darüber nachzudenken, bog Alex in die nächste Querstraße ab. Ein dritter Schuss ließ das hintere Seitenfenster zerspringen, doch er ignorierte den Scherbenregen. Sein Blut rauschte in seinen Ohren und wo vorher noch Müdigkeit gewesen war, pumpte nun Adrenalin durch sein Blut. Irgendjemand, der genau wusste, wie sein Auto aussah und wann er das Gebäude verlassen würde, hockte in einem dieser Hochhäuser und wollte ihm an den Kragen.
Mit einem weiteren Fluch hielt er den Wagen an. Seine Wange brannte und er spürte, wie ihm warmes Blut über das Kinn lief. Es war nur ein Streifschuss, doch Blutungen im Gesicht waren nie zu unterschätzen. Hektisch zog er eines seiner Messer hervor, um ein Stück Stoff aus seinem Hemd zu schneiden. Unter Schmerzen presste er den Stoff fest auf seine rechte Wange, während er sich umständlich mit der linken Hand abschnallte.
Er konnte nicht wissen, ob das der einzige Schütze im Umkreis war. Wenn noch andere auf ihn und sein Auto lauerten, war es zu gefährlich, einfach so weiterzufahren. Er würde seinen Weg zu Fuß fortsetzen müssen. Wütend schnappte er sich sein Handy und Portemonnaie, stieg aus und schlug die Tür laut zu. Mit einer Geste versperrte er seinen Wagen – wobei das bei den zerbrochenen Scheiben kaum noch einen Unterschied machen würde.
Seine rechte Hand immer noch auf seine Wange gepresst, lief er mit langen Schritten los, ziellos tiefer in das Wohngebiet hinein. Alle seine Sinne waren auf seine Umgebung konzentriert, er lauschte aufmerksam auf jedes noch so kleine Geräusch. Nirgends regte sich etwas. Vielleicht hatte er Glück und es gab wirklich nur diesen einen Schützen.
Langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder. »Fuck!« Er konnte den lauten Fluch nicht zurückhaltend. Tief Luft holend blieb er stehen. »Verdammte Scheiße! Diese verfluchten Wichser!«
Mit jedem Atemzug, den er tat, verwandelte sich seine Todesangst mehr und mehr in Wut. Wer auch immer hinter dem Mordversuch steckte, er durfte nicht ungeschoren davonkommen. Wenn die anderen in der Organisation Wind davon bekamen, dass man ihm ungestraft auflauern konnte, würde das sein Standing nur noch weiter verschlechtern. Und wenn die Arschlöcher, die den Schützen auf ihn angesetzt hatten, dachten, er würde sich nicht wehren, würden sie es immer wieder versuchen.
»Ich hab keine Zeit für diesen Scheiß.« Frustriert fuhr er sich durch sein dichtes Haar. Er hatte wirklich Besseres zu tun, als irgendwelchen Auftragskillern hinterher zu schnüffeln, aber er hatte keine Wahl. Er musste seine Ehre verteidigen.
Leise vor sich hin fluchend setzte Alex seinen Weg fort. In seine Wohnung konnte er heute nicht zurück. Kurz spielte er mit dem Gedanken, stattdessen zu seiner Villa zu fahren, doch er verwarf den sofort. Das Gebäude war sicher wie eine mittelalterliche Festung, aber lag am Stadtrand. Der Weg dahin war zu weit, und zu viele Leute wussten, dass er dort wohnte. Auch wenn er in der Villa sicher war, der Weg dahin war es nicht.
Grimmig ging er in Gedanken seine Optionen durch. Wenn sie wussten, wie sein Wagen aussah und wann er aus dem Meeting kommen würde, musst er annehmen, dass seine kleine Wohnung ebenfalls aufgeflogen war. Sie diente ihm als Rückzugsort und Lagerplatz für besonders brisante Informationen. In all den Jahren, in denen er sie gemietet hatte, war sie nie aufgeflogen. Selbst Michail wusste nichts davon.
Aber er konnte nicht riskieren, jetzt dahin zurückzukehren. Entweder sie wussten schon von der Wohnung, dann wäre es eine Falle. Oder er würde riskieren, vom Schützen oder seinen Kollegen beobachtet zu werden, dann würde er sie direkt dorthin führen.
Mit einem weiteren Fluch stellte er sich der Realität. Er würde – mal wieder – in einem seiner Clubs übernachten müssen. Er würde sich eine neue Wohnung als Versteck suchen müssen. Das war nicht so leicht getan, denn der Organisation entging nur wenig von dem, was in Hamburg geschah.
»Diese ganze verfickte Scheiße nur, weil wir alle an beschissenen Traditionen festhalten müssen. Bescheuerte Meetings vor Ort mit allen, so was Beknacktes.«
Entschlossen klappte er den Kragen seiner Jacke hoch und beschleunigte seine Schritte. Zu Fuß würde er vermutlich eine Stunde bis zum Blue Moon brauchen. Je eher er dort war und eine heiße Dusche bekam, desto besser.
***
»Hey, Sascha«, begrüßte ihn die tiefe Stimme von Mutter Gina, kaum dass er durch den schweren Samtvorhang am Eingang des Clubs getreten war. »Was verschafft mir die Ehre deines Besuches unter der Woche?«
Er warf ihr einen bösen Blick ob des Kosenamens zu, doch sagte dazu nichts. Auch wenn er der Besitzer war, es war besser für seine Gesundheit, auf der guten Seite von Gina zu bleiben. »Irgendwelche Affen meinten, sie müssten unbedingt erfahren, was in meinem Kopf vorgeht. Wortwörtlich.«
Augenblicklich ließ die ältere Frau ihre Maske aus verführerischer Nahbarkeit fallen und eilte mit großen Augen auf ihn zu. Mit beiden Händen umgriff sie sein Gesicht und drehte es, um die Wunde an seiner Wange zu begutachten. »Heilige Scheiße, Alex. Jemand hat auf dich geschossen?«
Er nickte. »Ist jetzt nicht so überraschend und auch nicht das erste Mal.« Mit einem schiefen Lächeln strich er Ginas Hände aus seinem Gesicht und legte ihr seine auf die Schultern. Er überragte sie um einiges, doch was Gina an Größe fehlte, machte sie durch Umfang und Autorität weg.
Sofort stützte sie beide Fäuste in die Hüften und schaute ihn auf eine Art an, dass er sich fühlte, als würde sie auf ihn herabsehen. »Alexander, sprich nicht so nebensächlich von einem Mordversuch! Das ist eine ernste Sache.«
Müde rieb er sich über sein Gesicht. »Nicht heute, nicht jetzt, Gina, ja? Ich will einfach nur eine heiße Dusche und ein Bett.«
Sofort wurde ihre Miene weich. »Aber natürlich. Kein Problem. Willst du die Suite?«
Er nickte bloß, während Mutter Gina hinter die Theke wackelte und dort auf der Tastatur herumtippte, um die Suite für den Rest der Nacht und den nächsten Tag zu sperren. Plötzlich hielt sie inne und blickte zu ihm auf. »Du hast die letzte Woche gebucht? Mit Lily?«
Stöhnend stützte er sich auf dem Holz der Theke ab. »Müssen wir das jetzt besprechen? Gib mir einfach den Schlüssel.«
Gina zog nur eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor der Brust, doch Alex gab keinen Millimeter nach. Mit einem theatralischen Augenverdrehen reichte sie ihm schließlich die Schlüsselkarte. »Na schön. Aber morgen reden wir darüber, junger Mann. Ich mache Frühstück in der Küche und wehe, du schummelst dich vorher raus!«
Wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte Alex gelacht. So jedoch nickte er nur ergeben und schleppte sich mit schweren Schritten die zwei Treppen hoch zur Suite, wo er sich umstandslos ins Bett fallen ließ und augenblicklich einschlief.
***
Als Alex am nächsten Morgen die Treppe hinunter stieg, drang ihm schon auf halbem Weg der Geruch von Bacon an die Nase. Mutter Gina hatte es offenbar ernstgemeint, als sie ihm in der Nacht angeboten hatte, für ihn Frühstück zuzubereiten. Er hatte gehofft, dass er sich ihrer Anwesenheit entziehen konnte, doch das war nun nicht möglich. Er wusste, sie würde ihn nur noch mehr löchern, wenn er sich jetzt davon stahl.
»Guten Morgen, Boss«, begrüßte sie ihn gut gelaunt, während sie gerade Spiegeleier auf einen Teller häufte. »Möchtest du außer Eiern und Speck noch etwas?«
Ergeben ließ er sich auf einen der Stühle fallen, die an der langen Tafel in der Mitte der Küche standen. Da man im Club auch Essen bestellen konnte, hatten sie eine professionell eingerichtete Küche im Gebäude, die zudem auch als Esszimmer für das Personal diente, wenn die Küche geschlossen war. Müde rieb Alex sich über sein Gesicht. »Eigentlich will ich nur einen starken Kaffee.«
Das tiefe Lachen der korpulenten Frau erfüllte den großen Raum. »Natürlich, der harte Kerl, der sich nur von Kaffee und Zigaretten ernährt. Du hast dir deine Muskeln bestimmt nur mit Nikotin und Kaffein antrainiert, mh?« Energisch wedelte sie mit dem Pfannenwender vor seinem Gesicht herum. »Hör auf, den Gangster raushängen zu lassen, und sag mir, was du essen willst.«
Er warf ihr einen finsteren Blick zu, ergab sich jedoch seinem Schicksal. »Schön. Pack noch ne Scheibe Toast mit Butter dazu und alles ist gut.«
Nachdem die ältere Frau ihm sein Frühstück serviert und sich dann mit einer Tasse heißen Tees vor ihn gesetzt hatte, begann Alex zu essen. Sie hatte ja recht – er brauchte Eiweiß, um seinen Körper auf diesem Niveau zu halten. Er war früher immer ein spindeldürrer Junge gewesen, aber in seiner Branche machte man sich nur umso mehr zur Zielscheibe für jene, die einem den Rang streitig machen wollten. Also hatte er notgedrungen angefangen zu trainieren. Das hatte den positiven Nebeneffekt, dass Frauen ihm praktisch um den Hals fielen, so dass er sich nie über Einsamkeit beschweren konnte.
»Also«, setzte Gina an, als sie offenbar beschlossen hatte, dass er lange genug Zeit zum Essen gehabt hatte. »Erzählst du mir jetzt von Lily?«
Genervt legte er seine Gabel weg. »Was gibt es dann da zu erzählen? Sie hat ein schwarzes Armband getragen, also hab ich uns ein Zimmer gemietet.«
Stirnrunzelnd verschränkte Mutter Gina die Arme vor der Brust. »Lily trägt nie Schwarz. Sie hat bei ihrer Einstellung sehr deutlich gemacht, dass das niemals eine Option für sie sein wird und dass sie die Stelle nur annimmt, wenn das für uns okay ist.«
Ärger stieg in Alex auf. »Wenn du etwas zu sagen hast, sag es.«
»Sie ist neu, Alex, und bringt sehr viel Geld. Sie ist nur ein junges Mädchen, das sich ihren Lebensunterhalt hier verdient, bis sie ihr Studium abgeschlossen hast, um was Besseres zu finden. Hast du nicht selbst letztens erst gesagt, dass sie hier nichts verloren hat?« Ginas strenger Blick lag auf ihm, als wollte sie ihn damit durchbohren. »Ich kann es nicht gebrauchen, wenn du deine Position hier ausnutzt und unsere Mädchen zu etwas zwingst, was sie nicht wollen.«
Ruckartig beugte er sich vor und erwiderte ihren Blick mit gleicher Härte. »Das denkst du also? Du stehst hier in der Küche und machst in aller Seelenruhe Frühstück für mich, obwohl du denkst, dass ich zu sowas fähig wäre? Ernsthaft, Gina?«
Sie schien sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, sondern zuckte nur mit den Schultern, ohne den Blick abzuwenden. »Ich sitze hier und frage dich, weil ich ehrlich interessiert bin. Hör auf, dich so aufzuregen, nur weil ich mich um meine Angestellten sorge.«
»Bullshit!« Alex musste sich zwingen, Gina nicht anzuschreien, so aufgebracht war er. »In deinem Kopf hast du dir doch alles schon ausgemalt. Wie ich mich Lily als der Besitzer des Clubs vorgestellt habe und sie so lange bedrängt habe, bis sie das Gefühl hatte, sie muss mit mir ins Bett, wenn sie ihren Job behalten will. Genau das denkst du doch, oder nicht?«
»Junger Mann!«, setzte die ältere Frau an, doch Alex unterbrach sie sofort.
»Komm mir nicht mit junger Mann! Nur weil du meine Mutter gekannt hast, gibt dir das kein Recht, mich wie einen Schuljungen zu behandeln! Mir gehört der Laden. Mir, nicht dir! Und wenn ich will, sitzt du morgen auf der Straße.« Fluchend ließ Alex sich zurücksinken und fuhr sich mit beiden Haaren durch sein Haar.
»Es war deine Idee.« Er konnte ein Zittern in Ginas Stimme hören, als sie leise das Wort ergriff. »Du wolltest diese Hölle in etwas verwandeln, wo die Mädchen sich sicher fühlen. Du wolltest, dass ich mich um alles kümmere und dafür sorge, dass keinem von ihnen was passiert. Für mich gehört dazu, sie auch vor dir zu schützen, Alexander. Oder bist du am Ende doch nicht anders als alle anderen Besitzer vorher? Willst du sie genauso ausnutzen wie alle anderen vorher?«
Der Stachel saß. Wütend stand er vom Tisch auf und drehte Gina den Rücken zu, um sich mit beiden Fäusten auf der Arbeitsfläche abzustützen. Tief holte er Luft und schloss die Augen. Dann atmete er lange aus, ehe er sich wieder umdrehte und die Clubmutter direkt ansah. »Ich meinte meine Worte ernst, Gina. Und sie gelten auch für mich. Unterstell mir bitte nie wieder so etwas. Du weißt genau, dass ich niemals so sein würde. Nicht nach dem, was ... ich würde es einfach nicht tun. Ich respektiere unsere Tänzerinnen und Kellnerinnen.«
Ihre Gesichtszüge wurden weicher. »Okay. Warum hat Lily zugelassen, dass du ein Zimmer mietest?«
Er zuckte mit den Schultern. »Das musst du sie vermutlich selbst fragen. Mir hat sie auch gesagt, dass sie nie Schwarz trägt. Aber sie wollte es. Wirklich. Danach hat sie mir gesagt, dass sie nie wieder Schwarz tragen wird, aber ich gerne wieder ein Zimmer für sie mieten kann. Gina, sie weiß doch nicht einmal, wer ich bin. Für sie bin ich nur irgendein Gast im Club.«
Ein ungläubiges Lachen kam von Gina. »Ernsthaft? Du hast es ihr nicht gesagt?«
Er grinste schief. »Wir hatten ein unorthodoxes Kennenlernen. Wenn ich ihr gesagt hätte, dass der Club mir gehört, wäre sie bloß peinlich berührt weggelaufen.«
Ein Lächeln huschte über Ginas Lippen. »Na gut. Das will ich dir mal glauben. Aber ich meine es ernst, Alex. Zieh Lily und auch sonst keine andere in deine Geschäfte rein.«
Augenrollend griff Alex nach seinem Kaffeebecher, der noch auf dem Tisch stand. »Du kennst mich. Ich bezahle unsere Frauen, gerade weil ich sie aus allem raushalten will. Solange sie nur käufliche Mädchen sind, wird sich nie irgendjemand für sie interessieren. Ich gedenke, es so zu lassen.«
Traurigkeit schwappte über ihr Gesicht, doch Alex weigerte sich, darauf einzugehen. Er wusste, dass es Mutter Gina nicht gefiel, dass er sich Michail angeschlossen hatte, doch für jemanden wie ihn gab es keinen anderen Weg im Leben. Er hatte keine Wahl, schon gar nicht, seit er für drei Clubs der Organisation verantwortlich war. Nur über seine Leiche würde er zulassen, dass irgendjemand anderes jemals diese Clubs haben konnte.
»Danke für das Frühstück. Ich sollte langsam mal schauen, wie ich meine Sachen aus meiner Wohnung kriege, ohne dabei draufzugehen.« Er nickte der mütterlichen Frau zu, die sich nun ihrerseits erhob und nach der pinken Schürze griff, die sie zum Essen abgelegt hatte.
»Du solltest zumindest nochmal beim Verbandskasten vorbeischauen und deine Schramme im Gesicht desinfizieren, ehe du losgehst.« Alex öffnete gerade den Mund, um zu protestieren, da hob sie eine Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Ah, ah, ah, ich will nichts hören. Egal, wie hart im Nehmen ihr Gangster seid, eine entzündete Wunde macht trotzdem keinen Spaß. Und ich wette, du hast keine aktuelle Tetanus-Impfung.«
»Ich weiß nicht einmal, was das ist«, gab Alex grummelnd zurück, doch er fügte sich der Anweisung. Die Blutung hatte in der Nacht noch gestoppt und heute Morgen hatte er sich das Blut von der Wange gewischt, so dass es nicht mehr schlimm aussah. Aber es würde ihm vermutlich auch nicht schaden, mit Desinfektionsmittel dranzugehen.
Er hob die Hand zum Gruß, dann verschwand er mit langen Schritten aus der Küche.
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