16.
Nachdem Castiel Deanael komplett befreit hatte, musste Sam dem Engel noch einmal dasselbe sagen, was er in der Nacht zuvor Gabriel erzählt hatte. Der Grund, weshalb er nicht gehen wollte. Deanael schien es einfach nicht verstehen zu wollen, er hatte ihn am Ende sogar ein wenig angefleht wieder mit ihm zu kommen, doch Sam blieb bei seiner Meinung, auch wenn er langsam Mitleid für Deanael empfand. Er hatte zwar eine Menge Brüder und Schwestern dort oben, aber er schien wohl keinem so nahe gestanden zu haben wie Sam.
Die Novak's hatten sie sogar ab einem bestimmten Punkt allein gelassen, damit sie eine einig miteinander sprechen konnten. Nach einer Weile jedoch kam Gabriel zu ihnen und meinte, dass sie einen neuen Fall hätten. Nicht direkt einen neuen Fall, eher einer, der mit den komischen Ereignissen von verschwindenden Menschen, die in Zukunft oder Vergangenheit auftauchten in Verbindung gebracht werden könnten. Dies brachte Sam auf eine Idee. Also fragte er Deanael, ob er vielleicht etwas im Himmel darüber gehört hatte, doch dieser verneinte dies. Er war sich zwar auch nicht sicher, da er in den letzten Tagen fast nur einen Weg gesucht hatte, wie er mit Sam Kontakt aufnehmen konnte, aber er war sich sicher, hätte er so etwas gehört, hätte er es mitbekommen.
„Wenn du nicht mitkommst, werde ich allein gehen müssen," sagte Deanael, während sie zusammen draußen in der Nähe zum Eingang des Bunkers standen. Gabriel hätte sie gerne begleitet, doch Castiel hatte ihn zurückgehalten. Sam war dem Jäger dafür irgendwie dankbar gewesen. Er mochte den kleineren, aber das hier wollte er gern allein machen.
„Du kannst uns besuchen kommen. Wenn Castiel mich hier nicht rauswirft werde ich auch in den nächsten Wochen noch hier sein." Immerhin war Sam nicht aus der Welt geschaffen und der Engel könnte einfach zu ihm herunter fliegen. Doch Deanael schüttelte den Kopf. Die Geste wirkte so menschlich, dass der Riese wieder nicht glauben konnte, dass das Wesen vor ihm wirklich ein Engel sein sollte, obwohl er es mit eigenen Augen gesehen hatte.
„Ich habe unerlaubt Kontakt mit dir und Menschen aufgenommen. Ich sollte mich erstmal unauffällig verhalten bevor ich..." Er räusperte sich. „Ich bin wirklich froh, wenn ich diesen Körper los bin.... In anderen Worten, ich weiß nicht, ob ich es in dem Leben eines Menschens schaffe dich wiederzusehen."
Sam verstand nicht. Deanael hatte so lang nach ihm gesucht und jetzt würde er sich einfach verabschieden und ihn nie wieder sehen? Er öffnete seinen Mund, um zu fragen. Warum musste er sich so lang ruhig verhalten? Doch da war der Engel bereits verschwunden. Ein Geräusch von schlagenden Flügeln begleiteten dessen Verschwinden. Sam würde Deanael nie mehr sehen. Nie mehr in seinem gesamten Leben.
In diesen Gedanken versunken merkte er nicht, wie Gabriel den Bunker verließ und auf ihn zukam.
"Sambo! Ist Deanael schon verschwunden? Der hätte ruhig noch bei unserem nächsten Fall dabei sein können. Ein wenig zusätzliche Engelskraft kann da nicht schaden."
Sam nickte bloß. Er hatte den Mann gerade das erste Mal in seinem gesamten Leben gesehen und doch verspürte er eine Art Sehnsucht, als er sich verabschiedet hatte.
„Mehr für uns," meinte der kleine Jäger und als Sam immer noch nicht richtig auf ihn reagierte, kam er näher und zupfte einmal an dem Shirt des älteren. „Jimmy hat uns gemeldet, dass in einem Park eine blaue Notrufzelle aufgetaucht sei. Wie es aussieht werden jetzt auch noch Objekte hin und her transportiert..."
Doch Sam blickte immer noch geistesabwesend in den Himmel. Fragen wie; ob es die richtige Entscheidung gewesen war, spukten ihm durch den Kopf. Einst war er ein Engel gewesen, aber dies war er mittlerweile nicht mehr. Er wurde nicht umsonst verbannt und ohne seine Erinnerungen ausgesetzt. Man könnte dies beinahe einen Akt der Gnade nennen. Was hätte Sam als erstes getan, wenn er mit seinen Erinnerungen auf der Erde gestrandet wäre.
„Sam?" sprach Gabriel leise mit einem fragenden Unterton in der Stimme. Mit einer Hand hielt er immer noch den Zipfel vom Shirt des Größeren in der Hand. Endlich wandte sich der Angesprochene an Gabriel, indem er den Kopf zu ihm drehte.
„Mmh?" brummte Sam und sah dem Jäger in die dunklen Augen. Ein komisches Gefühl stieg in ihm auf.
„Ich..." Gabriel räusperte sich. Er brach den Augenkontakt ab und sah zur Seite. „Ich bin froh, dass du geblieben bist."
Plötzlich ging ein Ruck durch Sam's Körper. Er schlang seine Arme um Gabriel und zog ihn an sich, bevor sein Kopf auch nur irgendetwas dagegen hätte unternehmen können. Sein Herz machte einen Satz, als er spürte, wie der Kleinere zögerlich die Arme um ihn legte.
So umschlungen blieben sie einige Minuten, welche sich für sich für die beiden anfühlten wie Sekunden.
Genau solch einen Satz hatte Sam gebraucht, damit er sich sicher sein konnte. Er hatte das Richtige getan. Seine ehemalige Familie mochte im Himmel leben, aber seine jetzige verweilte auf der Erde. Seinem neuen Zuhause.
Vermutlich hätten sie noch viel länger so gestanden, wurden jedoch von Castiel unterbrochen, welcher in voller Montur aus dem Bunker trat und zu seinem Wagen lief. Dabei rief er die Worte:„Ivonne braucht unsere Hilf-... Hört auf damit und beeilt euch!"
Kaum eine Minute später waren Castiel, Gabriel und Sam im Auto.
„Ivonne hat mich eben angerufen und gebeten, dass wir sofort zu ihr kommen," erklärte Castiel auf dem Weg. Er fuhr etwas schneller, als die Verkehrszeichen erlaubten und fuhr enger um die Kurven. Währenddessen war das schöne Gefühl, welches Sam vorhin bei Gabriel verspürt hatte, komplett verschwunden und wich der Sorge um seine Freundin.
„Was ist denn passiert?" stellte Sam die Frage. Vor ihm sah er, wie sich Gabriel den Bauch hielt und leicht zur Seite des Fensters kippte.
„Irgendetwas mit Nick. Sie hat immer wieder seinen Namen gesagt," sprach Castiel weiter und fuhr scharf in die nächste Kurve, sodass die Reifen kurz quietschten.
„Mmmh, fahr vorsichtiger," jammerte Gabriel, dessen Gesicht langsam die Farbe seiner grünen Jacke annahm. Nur hörte der jüngere der beiden nicht auf ihn.
„Das beunruhigende ist, dass sie genau an der Stelle ist, an welcher wir uns mit Jimmy treffen wegen der Notrufzelle treffen wollen."
Schluckend lehnte sich Sam zurück. Was war nur mit Nick passiert, dass Ivy sich gezwungen fühlte Castiel anzurufen? Woher hatte sie überhaupt seine Nummer bekommen? Kopfschüttelnd verwarf er den letzten Gedanken. Er konnte von Glück sprechen, dass sie seine Nummer hatte.
Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, bis Castiel langsamer fuhr und schlussendlich mit einer scharfen Bremsung vor dem Eingang einer Wiese zum Stehen kam.
Sie sprangen quasi aus dem Auto, Gabriel etwas langsamer, als Sam und Castiel und sie liefen im Schnellschritt auf das feuchte Grün. Bäume standen im Weg und blockierten teilweise die Sicht. Sie wurden mit Stille konfrontiert. Keine Menschenseele war zu sehen oder zu hören. Selbst die Vögel schienen geflüchtet zu sein.
Es würde eine Ewigkeit dauern den gesamten Park nach Spuren zu ihnen zu durchsuchen. Sie hatten sich bereits dazu entschieden sich aufzuteilen, da hörten sie einen Schrei, welcher Sam das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Ivy, dachte er und sprintete in die Richtung, aus welcher er gekommen war, ehe jemand auch nur seinen Namen hätte rufen können. Sam wich Baum und Gestrüpp aus. Er betete, dass Ivy in Ordnung sei. Dass ihr und Nick nichts passiert seien.
Was er nicht erwartet hatte war, dass er plötzlich gegen eine Regenfront prallte und von einem auf den nächsten Moment komplett durchnässt war.
„Bitte!" Erst der erneute Schrei Ivy's trieb Sam weiter voran. Die Blätter auf dem Boden ließen ihn des öfteren den Halt verlieren, doch er konnte sich in letzter Minute immer noch retten.
Sam preschte voran, sprang durch ein weiteres Gestrüpp und kam zu einem plötzlichen Halt.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Riese auf das Geschehen vor ihm. Sie standen mitten auf einer Lichtung. Der Regen prasselte auf sie nieder und doch konnte er die rote Flüssigkeit am Boden nicht fortspülen.
Nick stand erhabenen Hauptes in der Mitte. Seine Hand umschloss in einem festen Griff den Hals von Castiel's Zwillingsbruder. Jimmy kniete am Boden, neben ihm Ivy. Verzweifelt versuchte er mit seinen Händen den Griff von Nick zu lösen, doch es gelang ihm nicht.
In ihrer Nähe stand eine blaue Box schief in der Erde. Ihr Licht wurde immer wieder heller und wieder dunkler, als würde sogar sie um ihr Leben kämpfen.
Es dauerte etwas, bis Sam es sah. Die Kleinigkeit, die ihm endlich den Schub verlieh, dass er sich wieder in Bewegung setzte.
Nick's Augen glühten in einem dunklen Rot.
"Lass ihn los!" flehte Ivy erneut. Ihre Stimme klang flehend und brüchig. Als hätte sie schon Stunden mit Schreien verbracht.
Auf einmal passierte alles wie in Zeitlupe. Sam überwand die letzten Meter so schnell er konnte. Er sah noch, wie Jimmy's Arme zu Boden fielen und sein Körper reglos zur Seite kippte. Sam streckte die Hand nach ihm aus. Das große zähnefletschende Lächeln von Nick jagte ihm einen Schauer über den Rücken. In jenem Moment fühlte er tatsächlich Furcht vor dem Mann, mit welchem er zuvor noch friedlich zusammen in einem Zimmer gesessen hatte.
Und dann ertönte ein Schuss. Er durchschnitt die Luft, wie ein geschärftes Messer erwärmte Butter. Es ging alles viel zu schnell.
Die Zeit lief wieder normal weiter. Nick kippte zur Seite und Ivy schrie. "Nicholas!"
Sam hatte keine Zeit dafür. Er musste sich erst um Jimmy kümmern.
Das nasse Laub war nun egal. Sam war sowieso bis auf die Unterwäsche durchnässt und das bisschen Dreck würde ihn nicht aufhalten.
"Hey. Hey Jimmy." Sam kniete sich neben den bewusstlosen Mann. Er war mit Blut beschmiert und seine Klamotten an mehreren Ecken zerrissen. Der junge Mann, welcher Castiel wie aus dem Gesicht geschnitten war, regte sich nicht.
"Jimmy!" rief nun der nächste nach dem Mann. Es war Castiel. Er kam an gesprintet und warf sich neben seinen Bruder. Panik war evident in seinem Gesicht zu sehen. "Nein. Nein nein nein nein!"
Trotz der Nässe wurde Sam's Hals staub trocken. Was sollte er machen? Konnte er überhaupt etwas machen? War er nicht noch zu einem kleinen Teil ein Engel? Was hatten Engel denn für Fähigkeiten?
Mit einem Mal verfluchte Sam sich doch dafür, dass er sich nicht mehr an seine Vergangenheit erinnern konnte. Tief durchatmend schloss Sam die Augen. Irgendetwas musste es da geben. Irgendeine kleine Kleinigkeit musste er einfach übersehen haben. Wenn es noch ein Teil von ihm war, dann müsste sich sein Körper zumindest daran erinnern, oder nicht? Oder eher seine Seele, denn den Körper hatte er immerhin noch nicht so lang.
Sam nahm einen weiteren Atemzug. Das ganze Chaos und das Stimmengewirr ausblendend hob er seine Arme und hielt beide seiner Hände über den Körper des Verwundeten.
Bitte, flehte Sam in seinen Gedanken und es geschah etwas. Er fühlte sich auf einmal warm und leicht. Als würden all seine Probleme gelöst. Als würde alles wieder gut und jeder würde wieder glücklich.
Leider dauerte dieses Gefühl nicht sehr lang an. Kurz darauf verwandelte es sich in eine schmerzhafte Leere, die Sam den Atem raubte. Nein, er konnte nicht mehr. Er war am Ende. Sam hatte alles gegeben und doch war sein Alles so gut wie gar nichts gewesen.
Keuchend öffnete Sam die Augen und sackte zurück. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er die Luft angehalten hatte.
"Was hast du da gemacht?" fragte Gabriel, welcher anscheinend mittlerweile ebenfalls am Tatort angekommen war. Sam schüttelte bloß den Kopf. Er war sich selbst nicht einmal sicher, was er da getan hatte. Es war der erste Reflex, welchen er bei dem Gedanken daran, dass er helfen wollte, bekommen hatte.
"Oh mein Gott, Jimmy," murmelte Castiel. Jimmy hatte sich bewegt. Castiel klammerte sich an seinen Zwilling, als würde er ohne ihn ertrinken. Hatte Sam es geschafft? Würde er überleben?
Jimmy öffnete die Augen und da war es ebenso um Gabriel geschehen. Er fiel auf die Knie und umarmte beide seiner Brüder. Da war ihnen allen für einen Moment wohl das Herz in die Hose gerutscht.
Erleichtert ließ sich Sam in das nasse Laub zurückfallen. Der Riese weiß nicht, wie lang er dort gelegen und einfach nur Richtung Himmel gestarrt hatte, während die Brüder sich in den Armen lagen. Etwas war zumindest komisch. Sam hatte was vergessen und er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was es gewesen sein könnte.
"Schön, dass ihr zu meiner kleinen Willkommensparty gekommen seid."
"Nick! Hör doch bitte auf! Was ist nur in dich gefahren?"
Mit einem Ruck saß Sam wieder kerzengerade und drehte sich in um. Castiel und Gabriel taten es ihm gleich. Beide saßen sie so, dass, wer auch immer gerade gesprochen hatte, Jimmy nicht verletzen konnte, ohne an den beiden vorbei zu kommen.
Nick stand nur wenige Meter von der Gruppe entfernt. An seiner Seite war Ivy. Seine Augen glühten zwar nicht mehr rot, aber das Blut, welches nicht nur seine Kleidung rot färbte, sondern auch seine eigentlich blonden Haare. Dies ließ ihn schon ziemlich unheimlich wirken.
Nick fasste sich mit einer Hand an die Brust, dort, wo sein Herz sein müsste.
"Kein schlechter Schuss Cassy. Nur ist knapp daneben auch vorbei."
"Aber... Das kann nicht sein. Ich bin mir sicher, dass ich genau..."
"Mein Herz getroffen hast?" grinste Nick, während Ivy's Augen sich vor Schock und Angst weiteten. "Boohoo Cassy. Hast du deine Beute heute nicht erlegt?" Nick fing an zu lachen, doch das dauerte nicht lang an. Es endete in einem bestialischem Hustanfall, welcher ihn in die Knie zwang.
Schluckend beobachtete Sam das ganze Szenario. Sein Körper fühlte sich erschöpft an. Als wäre seine gesamte Energie auf Jimmy übergegangen, aber im Notfall könnte er bestimmt noch ein paar Schläge austeilen, um die Jäger zu beschützen. So sehr er auch gegen Gewalt war, so sehr wollte er seine Freunde schützen.
"Bitte! Helft ihm doch!" schrie Ivy den Jägern zu. Tränen strömten ihre Wangen herunter und tropften auf die bereits nassen Blätter. "Helft ihm, bitte!"
Aus ihr sprach die pure Verzweiflung. Eine Verzweiflung, die ein Mensch mit einem "normalen" Leben wohl kaum nachvollziehen könnte. Noch vor wenigen Wochen hatte sie nicht an übernatürliche Kreaturen geglaubt und nun wurde sie in diese Welt hineingeworfen. Nicht nur das, jetzt schein auch noch etwas mit ihrem geliebten Bruder nicht zu stimmen. Sam konnte sich gar nichts ausmalen, was diese Frau alles durchgemacht hatte und was immer noch vor ihr stand.
Sam sah zu Gabriel und dem Rest herüber. Castiel hatte diesen typischen ernsten Gesichtsausdruck drauf, welcher nichts Gutes verheißen ließ. Nick sah viel zu erbärmlich aus, als dass er irgendeine weitere Gefahr für sie darstellen könnte und doch überlegte Castiel vermutlich bereits, wie sie ihn am schnellsten aus der Welt schaffen könnten.
Das war in Sam's Augen einfach nicht gerecht.
"Lass mich," grummelte Nick. Ivy hatte wohl versucht ihm aufzuhelfen. Der blonde Mann saß zusammengesunken auf dem Boden. Er war ganz blass geworden. Wie es schien machte ihm der Blutverlust doch mehr aus, als er zu Beginn gedacht hatte.
Bedeutete das, das Nick noch ein Mensch war? Sie könnten ihm noch helfen!
Plötzlich hob Castiel den Arm. In seiner Hand eine Waffe.
Sam's Herz setzte für einen Schlag aus.
"NEIN! NICHT!"
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