Kapitel 10
„Und du bist dir sicher, dass wir da hinmüssen?!" Michis braune Augen leuchteten skeptisch, während er sich nachdenklich am Bart kratzte. Ich dagegen stieß ein tiefes Seufzen aus und stopfte weiter verbissen meinen alten ausgedienten Sattelschrank voll, in dem sich schon Bandagen, Decken und viele andere Dinge stapelten. „Oh Michi, ganz ehrlich, eigentlich habe ich schon wieder keine Lust darauf, an dieser Queen- Show teilzunehmen!" murrte ich und spuckte den Titel der Show beinahe angeekelt aus. Ich hatte keine Lust darauf, ein erneutes Mal, um eine kindliche Plastikkrone zu kämpfen und mich von meinen Mitkonkurrentinnen anzicken zu lassen, doch erneut hatte mein Stolz diese Entscheidung gewonnen und mit einem hirnrissigen „Ja, ich bin dabei!" dafür gesorgt, dass ich nun morgen früh Olympio in den Transporter laden würde und in das Internat zurückfahren würde, aus dem ich vor drei Monaten Hals über Kopf geflohen war. Mit einem Augenrollen dachte ich an die letzten Erinnerungen, die wie ein Film an meinem Auge vorbeizogen. London. Georgie. Lucia. EM. Danci. Ein eiskalter Schauder jagte mir unvermittelt den Rücken hinunter und unwillkürlich schüttelte ich mich und stopfte danach nur noch verbissener den Stapel an Stallutensilien in meinen Sattelschrank, den ich neben der alten Blechbüchse aufgehäuft hatte. „Also Val, mir gefällt die Idee wirklich gar nicht, da ein ganzes Wochenende in Quarantäne zu gehen, nur damit sich die Amis sicher sein können, dass ihr nichts einschleppt." Brummte Michi und stemmte sich von der Boxenwand ab, an der er eben noch lässig gelehnt hatte und trat ein paar Schritte auf mich zu. „Ja denkst du, ich schrei hurra?!" erwiderte ich etwas zu schnippisch und warf meinem breitschultrigen Pferdepfleger allerdings sofort einen entschuldigen Blick zu, als ich meinen giftigen Tonfall bemerkte. „Ach Herzle, das schaffen wir schon irgendwie! Und bitte, tu mir jetzt einen Gefallen und hör auf den armen Sattelschrank zu malträtieren! Der hält sonscht nicht mehr lange durch!" Mit einem dankbaren Lächeln ließ ich von der Blechbüchse ab und hievte mich wieder in eine stehende Position, um Michi danach fest zu Umarmen. Was würde ich nur ohne meinen Pferdepfleger mit dem unverbesserlichen schwäbischen Dialekt machen? -genau, nichts! „Und jetzt fort mit dir, gang' deine Koffr packa, und lass mi' im Stall klar Schiff macha, okay?!" mit gespielt ernster Stimme schickte er mich ins Hotel zurück und zwinkerte mir aber ein letztes Mal zu, als ich mich nochmal zu ihm umdrehte.
Ring. Ring. Ring. Mit einem gleichmäßigen, unnachgiebigen Klingeln riss mich mein Wecker am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aus meinem Schlaf und vertrieb gleichzeitig die wirren Träume, die mich die ganze Nacht fest umschlungen gehalten hatten. Mit einem tiefen Seufzen stellte ich das Piepsen aus und sank ermattet in die Kissen zurück, nicht sicher, ob ich von dem abrupten Wecken verärgert oder erleichtert sein sollte, da die Träume mir immer noch Gänsehaut bereiteten. Ich würde zurück ins Internat fahren. Ich würde dort alle wiedersehen. Und das allerschlimmste: Ich würde dort für drei Tage eingesperrt sein, um sicher zu gehen, dass weder Pferd noch Reiter irgendwelche Krankheiten oder Viren in die USA einschleppen würden. Mit einem Grunzen wollte ich mich gerade wieder fester in die dicke Daunendecke einwickeln, als es unvermittelt an meiner Tür klopfte. „Val, ich weiß, dass du noch im Bettle liegsch! Hoch mit dir! Wir müssed so langsam, aber wirklich los!" Michis starker Bass drang durch meine Tür hindurch und entlockte mir ein weiteres, unwilliges Grunzen. Konnte ich nicht direkt in den Flieger steigen?! Mit dieser Frage rutschte ich aus meinem warmen Bett und tapste barfuß zu meinem Schrank hinüber, vor dem ich beinahe über meinen Koffer gestolpert wäre, der noch offen und ziemlich leer vor meinem Schrank stand. Shit! Das hatte ich gestern Abend noch machen wollen, war aber dann von Charlys Anruf abgelenkt worden.
Ärgerlich ließ ich meinen Kopf gegen den schweren Einbauschrank plumpsen. Warum musste mir immer sowas passieren?! Aber es half ja alles nichts, also öffnete ich kurzentschlossen die breiten Flügeltüren und stopfte alles was mir dabei in die Queere kam in den großen Reisekoffer. Dann flitzte ich in das anliegende Bad und füllte in derselben Windeseile meinen Kulturbeutel. Shampoo, Zahnbürste, Haarbürste, Handtücher, und noch viele weitere Artikel kramte ich aus dem tiefen Hängeschrank, dessen Türen gleichzeitig als Spiegel dienten. Dann hetzte ich zurück in mein Zimmer und kramte nach halbwegs brauchbaren Klamotten, die ich nun auf der Fahrt anziehen konnte. Als ich schließlich zehn Minuten später- ich hatte noch einen erbitterten Kampf mit meinem Koffer geführt, der sich partout nicht schließen lassen wollte- missmutig in den Spiegel vor mir blickte, sah ich eine äußerst blasse Version von mir, deren Haare in einem schlampigen Pferdeschwanz zusammengebunden waren und deren Körper in einer schwarzen, Leggings ähnlichen Reithose steckte, die mit einer fetten schwarzen Winterjacke kombiniert wurde.
Alles in allem musste ich gestehen, dass ich mir meine Rückreise nach NRW definitiv glamouröser vorgestellt hatte, aber nun warf ich einen letzten bösen Blick auf mein Spiegelbild, schnappte mir Koffer und Tasche und watschelte zum Aufzug. Gerade hatte ich auf den edlen silbernen Knopf gedrückt, der den Aufzug herbeordern sollte, da schoben sich die Türen auch sofort auf und hießen mich willkommen. Schnell drückte ich auf E und checkte ein letztes Mal, ob ich auch wirklich an meinen Laptop samt Ladekabel, sowie an mein Handyladekabel gedacht hatte. Wenige Sekunden später öfneten sich die Aufzugtüren mit einem Pling und entließen mich in die Vorhalle, in der zu dieser unmenschlich frühen Zeit keine Menschenseele zu sehen war, weshalb ich diese mit schnellen Schritten durchquerte.
Kaum draußen angekommen, bereute ich es nochmals zutiefst, nicht doch wieder unter die warmen Decken gekrochen zu sein, denn erneut blies ein unnachgiebiger Wind über mich hinweg und ließ mich unwillkürlich erschaudern. Warum musste es nur so verdammt kühl sein?! Mit zusammengekniffenen Augenbrauen hastete ich über den Vorhof und hielt erst wieder an, als ich den silbernen Transporter erkannte, der direkt vor den Stallungen geparkt hatte. Seitdem ich nicht mehr für das deutsche Nationalteam startete, war der Vertrag mit dem großen LKW- Hersteller ausgelaufen, weshalb ich meinen heißgeliebten Truck hergeben hatte müssen. Nun fuhren Michi und ich in einem weniger luxuriösen und vor allem kleineren Transporter umeinander, der nur Platz für maximal zwei Pferde bot und nur eine winzige Wohnfläche besaß. Doch ich beschwerte mich nicht, im Gegenteil, durch meine vermeintliche Turnieraufgabe und dem Tod von Danci brauchte ich weder einen großen Truck, in dem viele Pferde Platz fanden, noch einen großen Wohnbereich, in dem ich während Übernachtungsturnieren schlafen konnte. Also hievte ich meinen schweren Koffer in den winzigen Wohnbereich, der direkt hinter dem Fahrersitz begann und steckte danach meine Hände in meine Jackentaschen und betrat den Stall, in dem bereits die großen Lampen hell leuchteten. „Val, gut das du da bisch, dann könn' mer eigentlich glei' los!" Michi lächelte mich fröhlich an und klopfte Olympio, der noch emsig an seinem Heu mümmelte den breiten Rücken. Also dann, dachte ich mir, auf ins Gefecht!
Ihr Ziel liegt auf der linken Seite! Die monotone Stimme des Navigationsgerätes riss mich aus meinen Gedanken und brachte mich dazu, verschämt an meinem Daumennagel zu kauen. Hier waren wir also wieder. Das große schmiedeeiserne Tor. Die schmale Straße, die in den Kiesparkplatz mündete, auf dem die ganzen Luxuskarren der anderen Schüler parkten. Unwillkürlich hielten meine Augen Ausschau nach einem weißen Audi SQ5 und als sie nicht fündig wurden, machte sich ein undefiniertes Ziehen in meinem Bauch breit. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen wendete ich den Blick vom Parkplatz ab und blickte durch die Frontscheibe des Transporters, in der bereits die ersten Stallungen zu sehen waren. „Hast du Infos darüber bekommen, in welchen Stall wir einstallen?" fragte ich Michi vorsichtig, dessen Gesicht mir keinen Anhaltspunkt darüber lieferte, ob es ihm gefiel, wieder auf dem Internatsboden zu stehen. „Stalltrakt P!" Ein zynisches Lächeln verzerrte mein Gesicht, als ich Michis vielsagende Stimme hörte. Stalltrakt P. Genau in diesen Stalltrakt hatte ich Danci vor gut einem Jahr eingestellt und hatte hoffnungsvoll zu dem Schulgebäude hochgeblickt, das auf einer kleinen Anhöhe etwas weiter entfernt aufragte. Und nun, fast genau ein ganzes Jahr später war ich zwar Princess- Gewinnerin und Euro- Teamgold- Gewinnerin, aber meine beste Freundin, meine Selenverwandte weilte nicht mehr unter uns.
„Val!" Charlys atemlose Stimme riss mich aus meinen düsteren Gedanken und lenkte meine Aufmerksamkeit auf meine beste Freundin, die mit schnellen Schritten auf den Sprinter zugelaufen kam. Michi hatte noch nicht ganz den Motor ausgeschaltet, als Charly auch schon die Beifahrertür aufriss. „Na immer langsam mit de' junge Pferdla!" brummte Michi leicht verärgert und warf meiner besten Freundin einen strafenden Blick zu. „sorry Michi, ich freu mich nur so, meine beste Freundin endlich wieder zu sehen!" plapperte sie sofort drauf los und ich wusste, warum ich dieses Monster zu meiner rechten vermisst hatte. „Na komm, Charly, dann hilf mir mal schnell Olympio auszuladen!" liebevoll nahm ich meine beste Freundin am Arm und ging einmal um den Transporter herum. „Du wirst nicht glauben, was passiert ist!" platzte Charly auch sofort heraus, als wir gemeinsam die Verladerampe öffneten und wartete erst gar nicht auf eine Regung meinerseits, bevor sie die Bombe platzen ließ: „Alisons Eltern haben letzte Woche einen Insolvenzantrag gestellt und am gleichen Tag noch musste Alison auch schon abreisen! Der Traum mit der Queen- Show ist ausgeträumt! Stattdessen wird Sam kurzfristig einspringen und für Deutschland in die USA fliegen!" Geschockt hielt ich inne. Alisons Eltern pleite? Das schmerzte mich für die quirlige Blonde, denn mit ihrer Stute Dakari war sie ein absolutes Traumpaar gewesen und hatte sich auch mit ihr verdient den zweiten Platz in der Princess- Show erritten.
„Puh!" seufzte ich, „das muss ihr aber auch echt wehgetan haben, oder?" Charly nickte nur, während sie Olympio geübt losband und die Rampe hinunterführte. Ich schnappte mir in der Zwischenzeit bereits den wuchtigen Putzkasten- er hatte nicht mehr in den Sattelschrank gepasst, weshalb ich ihn kurzerhand einfach neben Olympio verfrachtet hatte- und watschelte auch schon meiner besten Freundin hinterher und beobachtete meinen Hengst genau. Der trug seinen Kopf hocherhoben und hatte seine Nüstern weit geöffnet, als wolle er alle Gerüche direkt aufsaugen. Als Charly das Stalltor vor ihm öffnete und mit meinem stattlichen Fuchs das Stallgebäude betrat, ließ er ein ohrenbetäubendes Wiehern vernehmen und blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, um auf das entfernte Wiehern eines der anderen Hengste zu waren.
Dann setzte er in aller Seelenruhe seinen Gang fort und ließ sich von meiner besten Freundin anstandslos in eine der Boxen bringen. Ich ging leise hinterher und fühlte ein unbestimmbares Kribbeln in mir, dass mich unglaublich nervös machte. Ich kannte diesen Stall- wie oft hatte ich einfach nur in Dancis oder Olympios Box gesessen oder über das Leben nachgedacht, wie oft hatte ich eines meiner Pferde hier zum Reiten fertig gemacht, wie oft hatte ich hier mit Charly gelacht- und dennoch fühlte ich mich in diesem Moment so unglaublich fremd. Völlig in meinen Gedanken versunken, stand ich da, den Putzkasten in der einen Hand, und beobachtete meine beste Freundin, die gerade Olympio das Halfter von den Ohren streifte und sanft den Hals tätschelte.
Und dann spürte ich ihn. Meine Atmung verschnellerte sich wie von selbst und mein Herz schlug einen unkontrollierten Salto. Wegen ihm war ich nach Baden- Württemberg geflohen. Ich hatte ihn nie wiedersehen wollen. Und doch stand er nun hinter mir.
„Hallo Prinzesschen!" seine raue Stimme jagte Schauer über meinen Rücken und ließ mich reflexartig die Augen zusammenkneifen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top