I. Run



Ich rannte.

Das war wohl das Erste, was ich in dieser Situation tatsächlich realisierte. Ich rannte, wusste nur, dass ich nicht stolpern durfte. Ich rannte, ignorierte die Schmerzen in meiner Lunge. Ich rannte, dachte nicht darüber nach, was passieren könnte, sondern was ich schaffen muss. Ich rannte, hörte die schrecklichen Schreie hinter, neben und vor mir, aber ich durfte nicht stehen bleiben. Denn wenn ich das tat ... dann würde ich definitiv sterben.

Mein Tod war hier an diesem Ort bestimmt. Ich sollte sterben, nein, ich musste eigentlich sterben. Denn dafür war ich überhaupt hier. Dass ich starb. Nur auf welche Weise, das war ungewiss. Aber ich wollte nicht. Ich wollte nicht glauben, dass mein Leben so endete. Ich wollte meinen sicheren Tod nicht akzeptieren. Deshalb rannte ich. Ich rannte um mein Leben.

Die Äste peitschen mir ins Gesicht, Wurzeln versuchten mir meine Beine weg zu ziehen. Löcher, nasses Laub oder Steine waren mir immer im Weg und machten es mir schwer. Aber ich hielt nicht an. Ich drückte die Büsche und Ranken mit meinen Händen weg. Riss Dornen auseinander, sprang über einen Bach und kam sicher auf beiden Beinen auf. Ich atmete schwer, sah nichts in dieser dunklen Nacht. Dennoch rannte ich. Ich rannte immer in eine bestimmte Richtung. Wenn ich doch nur dort ankommen würde ... wenn ich es schaffen würde, dann hätte ich eine Chance. Eine Chance, zu überleben. Eine Chance, wie gering sie auch war. Wenn ich schätzen müsste, würde sich mein Tod um 1 % verringern. Aber es war immerhin 1 %. Keine Null. Deswegen rannte ich noch immer.

Neben mir knisterte es. Ich zuckte zusammen, riss meine Augen auf, als ein gleichaltriges Mädchen durchs Gebüsch brach, neben mir strauchelte und plötzlich zu Boden gerissen wurde. Auf ihr ein großer Wolf mit glühend roten Augen. Sie schrie, doch dann erstarb ihr Schrei. Ich rannte weiter. Blickte nicht zurück. Hielt nicht an. Ich hatte Tränen in den Augen, doch ich rannte weiter. Ich durfte nicht erwischt werden.

Auf der anderen Seite schrie erneut jemand. Es formten sich Worte, durchbrachen die Nacht. Flehende Worte, die bald keinen Zusammenhang mehr hatten. Kurze Zeit später wechselten sie zu Schmerzensschreien, bis sie erstarben. Sie wurden abgelöst. Immer mehr Schreie hallten durch die mondlose Nacht. Sie hatten die Jagd aufgenommen.

Ich keuchte leise, unterdrückte mir weitere Laute. Ich hörte hinter mir etwas heran laufen, spürte bereits meinen Tod im Nacken. Doch ich durfte nicht stoppen. Ich durfte einfach nicht sterben! Selbst wenn mein Herz mich wohl verriet. Es klopfte viel zu laut. Viel zu deutlich für diese anderen Wesen. Sie konnten es hören, sie spürten den Takt, in dem es klopfte. Es beunruhigte mich, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war nur froh, dass ich zu wenig blutete. Die kleinen Kratzer aufgrund der Pflanzen waren nicht mit dem Blutbad der Kreaturen zuvergleichen, welches sie anrichteten. Ich konnte nur hoffen, dass sich der Geruch von Blut vermischte und so mein eigenes überdeckte. Es könnte tatsächlich entscheidend sein.

Ich schüttelte den Kopf, unterbrach meine eigenen Gedanken und hetzte schneller weiter. Mit einem Mal durchstieß ich den Wald und befand mich auf einer Anhöhe. Ich hörte bereits die Wellen, wie sie gegen die Klippen krachten und das Wasser sich spaltete. Ich atmete weiter, lächelte fast. Dank der schwach leuchtenden Sterne konnte ich das Ende der Anhöhe und somit das Ende der Klippen sehen. Nur noch ein wenig. Ein paar hundert Meter und ich könnte ...

Etwas oder jemand krachte in meine Beine. Ich strauchelte, fiel hin und überschlug mich. Ich wurde rücklings auf den Boden genagelt. Über mir ein Mann mit leuchtend roten Augen und aufgerissen Mund. Mein Herz setzte auf, als ich die Reißzähne sah. Diese konnte selbst ich als Mensch in dieser Dunkelheit erkennen. Ich handelte instinktiv, zog ruckartig meine Knie nach oben und traf den Mann perfekt zwischen seinen Beinen. Er jaulte auf, ließ locker. Mit einem Ruck beförderte ich ihn von mir runter, fing schon im aufstehen das Laufen an. Ich sah nur noch mein Ziel. Das Ende der Klippen und somit das Meer.

Hinter mir hörte ich Jaulen, Rufe und Schreie. Vor mir hörte ich nur das Rauschen des Meeres. Ich dachte nicht daran, was hinter mir war. Nur das, was sich vor mir befand,war wichtig. So kam es mir wie ein langgezogener Augenblick vor, als ich endlich am Rand stand. Ich drehte mich außer Atem um, sah rote Augen, große furchteinflößende Tiere, böse Wesen. Doch in diesem Moment lächelte ich. Ich breitete meine Arme aus. Und stürzte mich in die Tiefen hinter mir.

Noch im Fall hob ich meine Arme über den Kopf und kam mit einem perfekten Köpfer im Wasser auf. Ich atmete tief ein, tauchte unter, schwamm etwas tiefer und nutzte denSchwung um direkt gerade aus weg zu schwimmen. Ich hatte eine andere Klippe gesehen, gegenüber von meiner. Es war eine Art Bucht. Ein Halbkreis geformt vom Meer bestehend aus Klippen. Wenn ich dort drüben wäre, könnte ich entkommen. Ich könnte weiter an der Wand entlang klettern, die Wesen könnten mich nicht riechen durch das Meerwasser. Meine Fährte wäre weg.

Ich tauchte auf, schnappte nach Luftund sah kurz hinter mich. Mit einem erleichterten Ausatmen stellte ich fest, dass mir niemand gefolgt war. Das hatte ich tatsächlich nicht bedacht. Ich wäre am Ende gewesen, wenn mir wirklich jemand gefolgt wäre. Jedoch war das nicht der Fall. Ich nahm erneut tief Luft, tauchte unter und schwamm weiter. Unter der Oberfläche konnte man mich hoffentlich nicht gut genug sehen. Ich hatte keine Ahnung, was es alles an Wesen gab oder welche Fähigkeiten sie hatten. Uns Menschen wurde das nie gelehrt. Nur immer, wie gefährlich und bösartig sie waren. Nützliche Informationen natürlich nicht. Meine Taktik bestand nur aus Hoffen und Pokern. Ich hoffte, dass ich richtig pokerte.

Beim nächsten Auftauchen fiel mir auf, wie kalt das Wasser überhaupt war. Ich fröstelte, versuchte weiterhin anständig Luft zu holen, doch langsam ging sie mir aus. Ich entschied mich, einfach normal weiter zu schwimmen. Selbst das war nach kurzer Zeit sehr anstrengend. Ich atmete noch schwerer als beim Rennen. Ich war es einfach nicht gewohnt, weit zu schwimmen und dass auf Schnelligkeit. Mir blieb leider keine andere Wahl. Ich musste überleben. Ich durfte einfach nicht sterben. Wobei Ertrinken heute Nacht wohl einer der schönsten Tode entspräche. Gut, jeder das Seine, aber ich konnte ihn wenigstens selbstständig wählen. Noch immer hörte ich das leise Geschrei der anderen hilflosen Seelen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber hätte ich nur versucht, einen oder eine Person zu retten – ich wäre dabei selbst gestorben.

Es ist eine Schande, aber genau jetzt musste ich egoistisch denken. Wenn ich schon im Rest meines bisherigen Lebens immer zuerst an die anderen dachte, jetzt muss ich ein einziges Mal an mich denken. Ich wollte weder zerfleischt, gefressen, ausgetrunken, verbrannt, vergewaltigt, vergiftet oder sonst noch was werden. Es hab viele Wesen und viele Arten zu Sterben. Keine war angenehm davon. Denn Gnade kannten diese Kreaturen nicht. Schon gar nicht, wenn ein hilfloses Mädchen darum winselte. Das erregte sie nur noch mehr.

Meine Muskeln brannten, als ich endlich das Gestein der Klippen berührte. Hier war der Wellengang gering,das Wasser klatschte so ziemlich gar nicht an die Wände. Trotzdem musste ich aufpassen, als ich weiter an dem Gestein schwamm oder mich entlang schob. Zwischendurch setzte ich immer Pausen ein, lauschte auf ein verdächtiges Geräusch und tauchte im Zweifelsfall schnell unter. Nach gefühlten Ewigkeiten kam ich an einen kleinen Wasserfall an. Er peitschte so vom Gestein weg, dass locker jemand unter den Wassermassen ungesehen hoch klettern konnte. Die Wand war nass –selbst Profikletterer ohne Ausrüstung würden sich dieses Unterfangen zweimal überlegen. Wenn ich abrutschte und stürzte, könnte ich mir mehr als nur weh tun. Ich seufzte. Mir blieb doch nichts anderes übrig. Ich war schätzungsweise weit genug weg und ich musste aus dem kalten Wasser heraus.

Ich schwamm um den Wasserfall herum und suchte mir passende Griffstellen. Mit einem Ächzen hievte ich mich aus dem Wasser und begann das Klettern. Immer wieder hielt ich inne, überprüfte meinen Halt und den Weg nach oben. Zweimal rutschte ich aus und plumpste ins Wasser zurück, aber an diesen Stellen war ich keine drei Meter weit geklettert. Als ich dann nicht mehr weit vom Rand entfernt war, kletterte ich ein wenig nach links, weg vom Ursprung des Wasserfalls und hin zum trockenen Gestein. Ich wagte nicht, nach unten zu sehen. Ich hatte Angst, große Angst. Ich wollte nicht fallen. Ich wollte nicht aufgeben. Ich wollte überleben.

Allerdings brannten meine Arme und Beine. Ich bekam kaum noch anständig Luft, meine Finger fühlten sich taub an. Ich hatte kaum noch die Kraft, mich an der Wand halten zu können. Ich keuchte, Schweiß lief mir über das Gesicht. Ich klammerte mich an den kleinen Felsvorsprung vor mir fest, konnte keine Kraft mehr aufbauen, um weiter zu kommen. Ich sah nach oben. Es waren nur noch wenige Meter bis zur Kante. Ich hatte so viel geschafft. Würde ich jetzt, nach all der Anstrengung schon aufgeben? Nein. Ich biss die Zähne zusammen, nahm Schwung und griff mit meiner rechten Hand nach oben. Ich packte mit meiner Linken ebenfalls zu, zwang mich, einen Schritt zu klettern. Ich keuchte, zog mich langsam Stück für Stück diese verdammte Wand hoch. Ich konnte es schaffen. Es war vielleicht nur noch ein einziger Meter. Ich musste nur noch meine Hand ausstrecken. Sie ausstrecken und dann ... dann war ich ...

Ich blinzelte, als meine Finger nachgaben und ich nach unten sackte. Meine Füßen verloren den Halt, das Gestein gab nach. Kurz darauf spürte ich, wie ich fiel. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich nach oben. Konnte nicht fassen, dass jetzt alles vorbei war.


Plötzlich griff eine Hand nach meinen Handgelenk. Mit Leichtigkeit wurde ich nach oben gehoben und landete elegant im Brautstil auf den Armen meines Retters. Mit offenen Mund und klopfenden Herzen starrte ich den Mann mit smaragdgrünen Augen an. Sie leuchteten rot auf, als er mich taxierte. In diesem Moment viel das wenige Licht der Sterne auf uns und offenbarten seine dunkelroten Haare. Mir stockte der Atem.

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