Kapitel 94
Zeitsprung 1 Jahr (29. April 2015)
Heute jährt sich Harrys Todestag das erste mal. Vor genau einem Jahr fanden die Polizisten die Blutlache und seinen Ring. Und dieser Tag wurde als sein offizieller Todestag eingetragen. In der Zwischenzeit ist nicht viel passiert. Meine Schwester Lottie ist mit ihrem inzwischen Verlobten Lewis Burton in ein Familienhaus an den Rand Londons gezogen. Auch Gemma wohnt nun bei ihrem Freund, während Anne allein in einer kleinen Wohnung lebt. Sie hat den Verlust von Jack nun relativ gut verkraftet, anders als den Tod ihres Sohnes. Niall und ich haben inzwischen beide unsere Abschlussprüfungen absolviert. Ich bin nun anerkannter Physiotherapeut und Niall ist Kinderarzt in dem Krankenhaus, wo auch Anne arbeitet. Liam und Zayn dagegen haben beide noch diesen Sommer ihre Prüfungen, danach wollen sie irgendetwas in der Geschäftsführung machen.
Tja und ich... ich habe seit ein paar Wochen wieder Kontakt zu Officer Benett. Beziehungsweise inzwischen Lucas für mich. Wie trafen uns irgendwann beim Einkaufen, als ich völlig Gedankenverloren einfach eine Schokoladentafel in meine Jackentasche gesteckt hatte. Lucas erwischte mich dabei und wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er sich nun auf Entführungsfälle spezialisiert hat und fast alle davon lösen konnte. Lucas ist schon in seinen jungen Jahren (mit 23) Anführer dieser Komission. Irgendwie kam es dann dazu, dass er mich auf einen Kaffee eingeladen hat. Unser Treffen musste leider immer wieder verschoben werden, entweder hatte er keine Zeit oder ich. Doch in einer Woche ist es dann soweit. Als ich bei Anne zu Besuch war, erzählte ich ihr von Lucas. Vor allem aber, dass ich das Gefühl habe, er wolle mehr von mir als reine Freundschaft. Anne gab mir den Tipp, mich einfach darauf einzulassen. Ob es klappt, weiß ich nicht, doch sie versicherte mir, dass Harry gewollt hätte, dass ich wieder jemanden kennenlerne.
Und selbst wenn ich mich nicht auf Lucas einlassen kann, er hat mir trotzdem bewiesen, dass er sehr einfühlsam und liebevoll ist. Und nicht zu vergessen, dass er wirklich gut aussieht. Seine braunen Haare sind inzwischen durch die Sonne etwas heller, ebenso wie die braunen Augen und er hat einiges an Muskeln aufgebaut, aber nicht so viel, dass es blöd aussieht. Tatsächlich wohnt Lucas auch nicht weit weg von mir, lediglich knappe zehn Minuten.
Ich bin auch aus dem Schwimmtraining ausgestiegen. Da ich gegen Ende ohnehin nie zum trainieren erschienen bin, habe ich es aufgegeben. Auch Harry zuliebe.
Tja und auch wenn sich vieles verändert hat... meine Liebe zu Harry ist immernoch die gleiche. Ich bin mir sicher, selbst wenn ich eines Tages eine Person treffen werde, für die ich Gefühle entwickeln kann, dann werden diese niemals so stark sein wie die für Harry. Er war etwas besonderes.
Genau das wird mir auch wieder bewusst, als ich mit Anne und Gemma am See stehe, wo wir uns von Harry verabschiedet haben. Seit einem Jahr habe ich seinen Ring kein einziges mal abgelegt, er ist immer bei mir und ich behüte ihn wie meinen Augapfel. Vorsichtig beuge ich mich etwas herab und lege drei weiße Rosen auf die Wasseroberfläche. Eine von Gemma, eine von Anne und eine von mir. Anschließend stehe ich wieder auf und umarme beide Familienmitglieder fest. "Er fehlt mir immernoch so sehr", murmelt Anne und blickt auf das Wasser. - "Mir auch. Aber das ist auch gut so. Es zeigt, dass wir ihn nie vergessen werden", sagt Gemma leise.
"Ich mache mir immernoch solche Vorwürfe, warum wir nie etwas gemerkt haben, ich meine... Louis, du hast auf den ersten Blick erkannt, wie schlecht es Harry auf den Bildern in unserem Familienalbum ging und ich... ich als seine eigene Mutter war einfach nur blind und bin auf Jack hereingefallen", spricht Anne. Man hört deutlich ihre Wut auf sich selbst heraus. - "Anne, du kannst es nun nicht mehr ändern. Selbst wenn du es gewusst hättest, im Endeffekt war nur Jack allein an allem Schuld, niemand sonst", beruhige ich sie und lege einen Arm um ihre Schultern.
Nachdem wir uns alle von Harry verabschiedet hatten, fuhren wir zurück nach London. Ich lieferte beide Damen bei ihren Wohnungen ab und fuhr zu meiner eigenen weiter. Und ja- ich habe inzwischen endlich ein eigenes Auto. Meine Familie hatte letztes Jahr zusammen mit Harrys Familie Geld angespart, um mir einen Wagen zum Geburtstag zu schenken, wofür ich wirklich dankbar bin. Ich bin deutlich flexibler und komme besser zur Arbeit. Auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, dass der eigentliche Grund für das Geschenk war, weil meine Familie nicht wollte, dass ich weiterhin spätabends noch mit der Tube fahren muss. Als ich in meiner Wohnung ankomme, lasse ich Wasser in die Badewanne laufen und gehe in mein Schlafzimmer, um mir frische Gammelklamotten aus dem Schrank zu nehmen. Traurig betrachte ich den zweiten Kleiderschrank neben meinem Bett. Darin befinden sich noch immer Harrys Klamotten. Ich konnte sie einfach nicht wegräumen, genauso wie immernoch seine Bettdecke in meinem Bett liegt. Bisher durfte auch nie eine andere Person darin schlafen. Anfangs war Niall oft bei mir, doch ich habe ihn nachts immer auf die Couch verbannt. Auch wenn es mir leid tat, doch es ging nicht anders. Wobei ich auch nicht glaube, dass er es mir übel nimmt.
Seufzend nehme ich mir meine Klamotten und gehe zurück ins Badezimmer, wo ich mich direkt in die Badewanne lege. In der Luft liegt ein Geruch nach Rosen. Harry hatte das immer geliebt... Ich lasse meine Hand über meine Seite streichen, zu der Stelle, wo einst meine Niere entnommen wurde. Inzwischen ist davon nicht mehr viel zu spüren, nur dass die Haut dort etwas weicher und heller ist. Und ich trage immernoch die Lüge mit mir herum. Ich konnte Harry nie erzählen, dass ich ihm eine Niere gespendet habe.
Nach einer Weile steige ich aus der Badewanne, lasse das Wasser ablaufen und ziehe mich an. Anschliessend gehe ich in die Küche und stelle Nudelwasser auf den Herd. Dazu gibt es heute einfach Tomatensauce. Normalerweise koche ich noch immer nach Harrys zahlreichen Rezepten, die ich alle fein säuberlich in einen Ordner geheftet habe, doch heute ist mir nicht so danach. Während das Essen warm wird, richte ich noch meine Tasche für die Arbeit morgen. Ich habe mittags ein Vorstellungsgespräch... in dem Krankenhaus, wo Anne und Niall arbeiten. Ich bewerbe mich als Kinderphysiotherapeut für Kinder mit Beeinträchtigungen oder für welche, die eine Operation hatten. Bisher habe ich hauptsächlich mit älteren Menschen gearbeitet, doch Harry und ich haben immer davon geträumt, Kindern zu helfen und somit könnte ich dies nun endlich tun.
Während ich esse, lese ich mir nochmal einige Bücherseiten durch, damit ich für morgen fit bin, falls sie mir komplizierte Fragen stellen.
Gerade als ich mit allem fertig bin, entdecke ich eine Nachricht auf meinem Handy.
Lucas: Hey, Louis! Ich hätte am Freitagnachmittag Zeit für den Kaffee. Wäre schön, wenn das dann klappen würde:) - L
Da ich freitags immer nur bis Mittag arbeiten muss, schreibe ich Lucas schnell zurück, dass ich Zeit habe und mich freue. Und dem ist auch wirklich so. Ich muss einfach mal wieder hier raus. Den ganzen Tag bin ich in der Praxis, wo ich mit Absicht Überstunden mache, um nicht Zuhause in der leeren Wohnung herumzusitzen. Doch das geht jetzt schon ein ganzes Jahr so, ich muss also endlich mal etwas verändern. Harry wird nicht wieder zurückkommen, egal wie sehr ich es mir wünsche.
~*~
Ich knete nervös meine Hände durch und fummle an meinem T-shirt herum. Das gute an dem Beruf als Physiotherapeut ist, dass man den ganzen Tag Jogginghosen tragen kann, so auch heute für das Vorstellungsgespräch. Ich stehe vor dem Büro der Leiterin der therapeutischen Station im Krankenhaus und warte darauf, endlich aufgerufen zu werden. Vor ein paar Minuten kam bereits ein anderer Bewerber heraus, der mir niedergeschlagen viel Glück gewünscht hat. Er meinte, dass das Gespräch bei ihm alles andere als gut lief, da seine Nervosität zu groß war. Hoffentlich geht mir das gleich nicht auch so. Normalerweise kann ich mit Stress ganz gut umgehen, doch manchmal auch nicht.
Plötzlich öffnet sich die Tür und eine Dame mittleren Alters steht vor mir. Ihre orangenen Haare hat sie in einem lockeren Pferdeschwanz nach oben gebunden und eine dicke Brille sitzt auf ihrer Nase. Sie trägt eine weite Hose und dazu eine enge Bluse. Alles in allem sieht sie wirklich schick aus. Sie mustert mich einen Moment, ehe sie mir die Hand hinstreckt. "Miranda Adams, schön dass Sie da sind", stellt sie sich vor. Ich erwidere den Händedruck, der erstaunlich energisch ist und lächle sie freundlich an. "Louis Tomlinson, freut mich Sie kennenzulernen". Sie nickt und winkt mich zu sich ins Büro. Anschließend deutet sie auf einen weich gepolsterten Stuhl, auf dem ich mich niederlasse. Sie setzt sich mir gegenüber an den Schreibtisch. "Mr. Tomlinson, wundern Sie sich nicht, aber ich spare mir sämtliche Förmlichkeiten, sowie Fragen zu ihren Lebenslauf oder Ähnlichem, immerhin haben Sie mir bereits einen schriftlichen Überblick zukommen lassen", beginnt Mrs. Adams und wirft ihren Zopf zurück. - "Damit habe ich kein Problem", entgegne ich, woraufhin sie zufrieden nickt.
- "Also... warum haben Sie sich hier beworben? Liegen nicht noch andere Praxen oder Kliniken in der Nähe ihres Wohnorts, zu denen Sie einfacher hinkommen?" - "Das mag sein, doch mich hat keine davon wirklich angesprochen, außer dieser hier. Ich finde den Umgang mit den Patienten, insbesondere den Kindern, unglaublich interessant. Ich möchte ihnen gerne helfen, damit sie eine möglichst beschwerdefreie Kindheit erleben können, ohne ständig von Schmerzen geplagt zu sein".
Mrs. Adams sieht mich einen Moment an, zückt dann einen Kugelschreiber und notiert sich einiges. Da mein Sessel allerdings zu tief eingesunken ist, kann ich leider nicht lesen was sie alles aufschreibt.
"Wie kommt es, dass Sie ein komplettes Semester pausiert haben? War Ihnen der Stress dort bereits zu viel?" Ich schlucke und versuche, ihrem Blick standzuhalten. Dann räuspere ich mich einmal. "Mein Freund... er ist letztes Jahr leider verstorben. Das war der Grund für die Pause", antworte ich knapp. Mrs. Adams blickt mich mitfühlend an und spricht mir dann ihr Beileid aus. Dass sie nichts zu meiner Sexualität gesagt hat, finde ich ausgesprochen gut. Würde ja gerade noch fehlen, wenn dies ein Problem für diesen Beruf darstellen sollte.
"Können Sie denn gut mit Kindern umgehen?", lautet die nächste Frage. - "Das würde ich schon sagen. Ich habe sechs kleine Geschwister, die sich immer riesig darauf freuen, wenn ich nach Hause komme, um mit den jüngsten zu spielen, also... naja ich würde sagen, wenn ich nicht mit ihnen umgehen könnte, würden sie sich nicht auf mich freuen". Ich zucke mit den Schultern und beobachte, wie Mrs. Adams' Mundwinkel belustigt zucken.
- "Und haben Sie schon Erfahrung in Ihrem Beruf sammeln können, oder bestand die gesamte Zeit nur aus Studium?" - "Ich habe noch nicht viel Erfahrung mit der Praxis. Natürlich habe ich zahlreiche Massagen oder Mobilisationsübungen immer an Freunden üben können, doch ich bin erst seit ein paar Monaten fest in einer kleinen Praxis angestellt."
Im Anschluss muss ich ihr noch einige Fragen zur Anatomie und Krankheitslehre beantworten. Zum Glück wusste ich alle Antworten und Mrs. Adams sieht nach unserem Gespräch sehr zufrieden aus. Als wir alles Theoretische abgeklärt haben, führt sie mich eine Runde durch die Klinik und zeigt mir einige wichtige Räume. Zusätzlich stellt sie mir ein paar junge Patienten vor. Als ich gerade auf Mrs. Adams warten soll, da sie von einer Pflegerin benötigt wird, setze ich mich auf einen Sessel im Wartebereich. Ein paar Kinder rennen im Gang herum und spielen Fangen. Sie kreischen und lachen laut. Ein kleiner, circa siebenjähriger Junge sticht mir in die Augen. Er humpelt ganz schön beim Gehen, aber vor allem fällt mir auf, dass er nicht mit den anderen Kindern spielt. Der Junge scheint in seiner eigenen Welt zu stecken. Er hat blonde Locken und kleine Grübchen. Besonders fesseln mich jedoch seine Augen. Sie sind grün. Smaragdgrün.
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Wie findet ihr das neue Cover?😊
Das Buch ist bald schon zu Ende, aber ich schreibe bereits fleißig am zweiten Teil😉
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