Kapitel 90

👆 darf ich vorstellen: Der Polizist Lucas Benett

"Aber wo sollen wir denn anfangen?", fragt Anne und läuft planlos im Wohnzimmer herum. "Warte einen Moment", bitte ich sie und mache mich dann auf die Suche nach den Polizisten. Die ganze Zeit hat man sie reden gehört, doch nun ist schon eine ganze Weile Ruhe. Während ich suchend durch die Villa laufe, lasse ich meinen Blick über die Einrichtung schweifen. Immer noch komme ich nicht darauf klar, wie reich diese Familie sein muss, um sich das alles leisten zu können. Wobei ich eher davon ausgehe, dass Jack alles bezahlt, da Harry ja bereits meinte, dass sie davor nie viel Geld hatten. Aber woher nimmt Jack die ganze Kohle?

Plötzlich höre ich ein Geräusch aus Harrys ehemaligem Zimmer. Verwirrt öffne ich die Tür und entdecke den jungen Polizisten, der gerade sämtliche Schränke mit den Sachen ausräumt, die Harry nicht mit zu mir in die Wohnung genommen hat. "Was soll das, lassen sie seine Sachen in Ruhe!", fauche ich Officer Benett an und zerre ihn vom Schrank weg, als er plötzlich die Schublade auf dem Boden entleert. Erschrocken sieht er mich an und hebt abwehrend seine Arme nach oben. "Hey, ich muss das machen. Das gehört zu meinem Job", sagt er entschuldigend. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und lasse meinen Blick prüfend über ihm schweifen.

Zugegeben, wäre ich schon länger bisexuell und hätte Harry nicht, dann würde ich auf der Strasse wohl einen Blick mehr auf den jungen Polizisten werfen. Seine braunen Haare sind etwas noch oben gestylt, sodass es aber nicht zu gezwungen aussieht. Seine Augen funkeln freundlich und er hat ebenso Grübchen wie Harry.

Ich blinzle kurz und wende dann meinen Blick auf die ausgeleerte Schublade auf dem Boden. "Haben Sie denn schon etwas gefunden, Officer Benett?", frage ich, knie mich hin und betrachte all die Dinge. Es sind zum Teil alte Bilder, Briefe, Alben und CDs. "Nein, bis jetzt noch nicht. Könnten Sie mir vielleicht etwas über Ihren Freund erzählen? Oder über Mr. Fallon?", fragt Benett. Ich nicke bloß und lasse mich auf das Bett fallen, dass mit einer Tagesdecke bezogen ist. Vielleicht hatte Anne die Hoffnung, dass Harry wieder zurück in die Villa zieht. "Harry ist... einfach unbeschreiblich. Er ist warmherzig, liebevoll, kann richtig gut kochen sowie schwimmen, er singt gern und... er hat Stimmungsschwankungen", erzähle ich zögerlich. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es ist mir etwas unangenehm, vor dem jungen Mann so von Harry zu schwärmen. Bei Officer O'Brian war das irgendwie anders, doch der ist in einem anderen Raum.

"Stimmungsschwankungen?", hakt Benett verwundert nach. - "Ja, es... es ist schwer zu beschreiben. Manchmal ist Harry so sorgenlos und erscheint mir richtig glücklich, sodass ich denke, es ginge ihm endlich besser, doch im nächsten Moment ist er unendlich traurig und niedergeschlagen. In solchen Momenten lässt er mich nicht an sich heran, ich kann ihm dann nicht helfen". - "Hat er es mal mit einer Therapie versucht?", fragt Benett und räumt die Schublade wieder sorgfältig ein, woraufhin ich ihn dankbar anlächle. "Nein, die Ärztin im Krankenhaus hat es ihm geraten, doch er hat sich dagegen geweigert. Erst nachdem ich ihm gesagt habe, dass auch ich nicht weiß, wie ich ihm helfen kann, meinte er, dass er es sich mal überlegt. Tja und jetzt.... jetzt ist er einfach weg". Der letzte Satz endet in einem Flüstern, da meine Stimme wegbricht. Als Officer Benett mir tröstend eine Hand auf die Schulter legt, fließen dann auch endgültig die Tränen. Ich zittere und schluchze vor mich hin. Plötzlich spüre ich starke Arme um meinem Oberkörper und einen sanften Atem in meinem Haar. Weinend drücke ich mich an Mr. Benett, der tröstend über meinen Rücken streicht. "Machen Sie sich keine Vorwürfe, Louis. Sie können nichts dafür. Der einzige der etwas dafür kann, ist Mr. Fallon. Und ich verspreche Ihnen, wir geben unser Bestes, ihn und Mr. Styles zu finden", sagt Officer Benett leise und streicht sanft durch meine Haare. Ein paar mal schluchze ich noch vor mich hin, bis ich mich endlich wieder beruhige. Etwas beschämt löse ich mich von meinem Nebenmann, der mir jedoch bloß lächelnd ein Taschentuch reicht. Ich nehme es dankbar an und wische mir die Tränen weg. "Es- es tut mir leid, ich wollte Sie damit jetzt nicht so vollheulen", sage ich, da mir das Ganze nun doch ziemlich unangenehm ist. "Machen Sie sich keine Gedanken. Glauben Sie mir, ich musste schon oft genug meine kleine Schwester bei Liebeskummer trösten, ich bin ein lebendiger Kummerkasten", sagt Officer Benett grinsend und bringt mich damit sogar zum Lachen. "Dann bin ich ja beruhigt", sage ich und schniefe ein letztes mal.

Ich atme tief durch und stehe dann von Harrys Bett auf.

"Officer Benett, bitte kommen Sie dringend in den Keller", ertönt es plötzlich aus dem Funkgerät, das an den Gürtel des Polizisten befestigt ist. "Verstanden, ich komme", sagt er hinein. Eilig laufen wir durch die Villa zum Keller, den ich bis gerade nicht einmal bemerkt hätte. Die Tür unterscheidet sich nicht wirklich von der restlichen Wand, mit bloßen Augen ist sie kaum zu erkennen. "Louis, vielleicht sollten Sie erstmal hier warten", bittet mich Mr. Benett mit sorgenvollem Blick. Sofort schüttle ich entschieden den Kopf. "Nein, ich gehe mit rein", sage ich und stoße die Tür auf, ohne dass er mich daran hindern kann.

Als ich meinen Blick hebe, der bis gerade eben noch auf dem Boden haftete, gefriert mir das Blut in den Adern. Mir wird eiskalt und ich beginne zu zittern und gleichzeitig zu schwitzen. Plötzlich dreht sich alles und ich habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Officer Benett reicht mir gerade noch rechtzeitig einen Eimer, von dem ich nicht weiß, wo er den auf einmal her hat. Kaum halte ich den Eimer in meinen Händen, erbreche ich mein gesamtes Frühstück hinein. Kraftlos sacke ich auf den Boden und nehme nur nebenbei mit, wie Officer Benett mich am Rücken stützt und den Eimer festhält, da dieser sonst wohl schon längst aus meinen Händen entglitten wäre. Meine Kotze vermischt sich mit Tränen, die aus meinen Augen schießen und im Eimer landen. Ich zittere am ganzen Körper. Schließlich gebe ich ein gequältes Wimmern von mir, woraufhin der Polizist mich sofort wieder fest umarmt, nachdem er den Eimer beiseite gestellt hat. Er drückt meinen Kopf sanft an seine Brust und wiegt mich beruhigend hin und her, während er leise Worte murmelt.

Als meine Tränen schließlich versiegen, lasse ich meine Augen jedoch trotzdem geschlossen. Ich spüre nebenbei, wie Mr. Benett mir mit einem Tuch sanft den Mund abwischt, etwas zu seinem Kollegen sagt und mich dann plötzlich im Brautstil hochhebt. Kraftlos schließe ich meine Arme um seinen Nacken und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Diesen Anblick des Kellers ertrage ich nicht noch einmal.

Ich höre, wie Mr. Benett eine Treppe hochgeht, noch einige Schritte läuft und mich schließlich auf etwas Weichem ablegt. Ohne die Augen öffnen zu müssen, erkenne ich sofort, dass es Harrys Bett ist. Sein einzigartiger Duft hängt noch ein wenig an der Bettdecke. Weinend ziehe ich die Decke an mein Gesicht und drücke meine Nase hinein.
"Ruhen Sie sich etwas aus, mein Kollege und ich kümmern uns um alles." Damit höre ich, wie sich die Tür schließt und die Schritte sich entfernen.

Als ich jedoch gerade im Halbschlaf bin, spielt sich alles nochmal von vorn ab.

Ich öffne die Tür und gehe in den Keller. Officer Benett ist direkt hinter mir und zieht scharf die Luft ein, als er sieht, was sich vor uns erstreckt.

Es ist ein riesiger Gewölbekeller. Die kompletten Wände sind schwarz und rot verkleidet. Doch davon sieht man nicht viel, denn der Raum ist voll mit Bildern. Überall hängen sie. Und alle zeigen eine Person. Harry.

Harry auf dem Weg zur Uni, Harry im Auto, Harry beim Schwimmen, Harry beim Duschen, Harry beim Schlafen,...

Bei jeder Situation wurde er fotografiert und diese Bilder hier aufgehangen. Selbst im Krankenhaus hat man ihn fotografiert, als er in seinem Bett lag, bleichweiß und mit geschlossenen Augen.
Und plötzlich entdecke ich etwas, was mich zum Erbrechen brachte.
Bilder von... von Harrys Vergewaltigung. Von allen drei Malen. Die drei Männer, die zwei Wochen lang jeden Tag zu ihm kamen, dann in der Schwimmbadumkleide und schließlich hier in diesem Haus in seinem Zimmer.
Und plötzlich laufe ich in meinem Traum zum Schreibtisch, der in der Mitte des Raums steht und öffne die Schublade. Ich finde einen USB-Stick. Als ich diesen an den Laptop anschließe, erkenne ich einige Videos.
Doch bevor ich sehen kann, was der Inhalt dieser Videos ist, bin ich schlagartig wach.

Ich schlage nassgeschwitzt und schwer atmend die Decke von mir weg, stehe schwankend auf und torkle in den Keller zurück.

Bevor ich die Tür jedoch öffnen kann, wird sie von innen aufgerissen und ein bleicher Officer Benett kommt mir entgegen. Als er mich entdeckt, sammelt er sich kurz und blickt mich dann wieder an. "Louis, was tun Sie hier? Sie sollten liegen bleiben", sagt er mit heiserer Stimme. Seine Augen wandern unruhig zwischen meinen hin und her. "Ich hab... ich... da waren Videos", flüstere ich bloß.

"Wo?", fragt Officer Benett. Ich blinzle verwirrt. Was will er denn von mir? Alles um mich herum dreht sich erneut und ich halte mich an der Wand fest. "W-was...", murmle ich unruhig. Alles verschwindet im Nebel und ich merke, wie ich erneut auf den Boden sacke.

Jemand rüttelt mich an der Schulter und gibt mir einen Klaps auf die Wange. "Louis!", ruft jemand. "Louis, wo waren die Videos?", höre ich erneut die Stimme.

"D-das... die... T-tisch". Ich habe keine Ahnung, ob ich das nur in meinen Gedanken gemurmelt habe oder nicht, denn plötzlich verlässt mich das Bewusstsein und die tiefe Schwärze tritt ein.

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