Kapitel 89

Auf einmal höre ich einen lauten Knall. Bevor ich zuordnen kann, woher das Geräusch kam, spüre ich auch schon das Brennen auf meiner Wange.

Schockiert reiße ich meine Augen auf und sehe gerade noch, wie Anne ihre Hand zurückzieht. "Wag es nicht, so etwas über meinen Mann zu behaupten!" Gerade will sie erneut ausholen, als die beiden Polizisten auf sie zustürmen. "Stopp!", rufe ich, als ich sehe, wie sie Anne gewaltsam festhalten. Sie lassen etwas lockerer. Anne sackt kraftlos auf die Couch zurück. Ich reibe mir meine Wange, die von der Ohrfeige ordentlich brennt und mit Sicherheit knallrot ist. Harrys Mum wirft mir einen Seitenblick zu, bevor sie plötzlich aufsteht. Ich kneife die Augen zusammen und ducke mich etwas, darauf gefasst, gleich wieder einen verpasst zu bekommen. Als ich jedoch nichts merke, schaue ich vorsichtig auf und sehe gerade noch, wie Anne in die Küche läuft. Ich höre sie unterdrückt schluchzen und irgendetwas klirrt laut. Officer O'Brian blickt mich fragend an, doch ich schüttle den Kopf. Anne braucht einen Moment für sich. Auch ich schließe kurz die Augen, um die vergangenen Minuten Revue passieren zu lassen.

Als sie nach einigen Minuten zurückkommt, spüre ich plötzlich etwas angenehm Kaltes an meiner Wange. Ich öffne meine Augen und sehe Harrys Mutter, die mir ein Kühlpad daran hält und mich weinend und entschuldigend anblickt. Ich ziehe sie neben mich auf die Couch und schließe sie in eine enge Umarmung, die sie dankbar erwidert, indem sie sich an meinen Pullover krallt. Ein lautes Schluchzen entfährt ihr und auch ich kann meine Tränen nicht zurückhalten. Annes ganzer Körper bebt und immer wieder flüstert sie etwas vor sich hin. "Es tut mir so leid, Louis", murmelt sie nach einer Weile an meine Schulter, als ihr Heulkrampf etwas abebbt. "Das muss es nicht", entgegne ich beruhigend.

Als ich zu Officer O'Brian blicke, bemerke ich, dass auch sein etwas jüngerer Kollege auffällig oft blinzeln muss. Wäre die Situation eine andere, würde ich wohl darüber schmunzeln, doch jetzt gerade geht das nicht. O'Brian nickt mir ermutigend zu.

"Anne?", frage ich leise. Sie richtet sich etwas auf, streicht mein Shirt am Kragen glatt und blickt mich traurig an. "Bitte, erzähl es mir", flüstert sie. Ich nicke, greife ihre Hand und halte sie. "Harry meinte, es hat begonnen, als ihr noch in Holmes Chapel gewohnt habt. Jack hat ihn und einen Freund dabei erwischt, wie sie sich geküsst haben. Es kamen wohl mehrere Männer zu ihm und... haben ihn... vergewaltigt und verprügelt", erzähle ich monoton. - "W-warum... wann...", stottert Anne vor sich hin. - "Du warst auf Geschäftsreise und Gemma auf Klassenfahrt. Zwei Wochen lang", sage ich leise. Bestürzt schlägt Anne sich die Hand vor den Mund und starrt mich mit aufgerissenen Augen an. "Z-zwei... Wochen", murmelt sie. Ich nicke langsam. "U-und dann?", fragt sie und ich merke, wie sich der Druck auf meine Hand erhöht.

"Jack hat Harry verfolgen und überwachen lassen. Irgendwann gingen dann plötzlich Harrys Schwimmtrainer und ein paar seiner Teamkollegen in der Umkleide auf ihn los und das Ganze hat sich erneut abgespielt. Harry hat seitdem panische Angst vor solchen Räumen." Anne blickt mich geschockt an. "Deshalb hat er sich immer schon zu Hause umgezogen, wenn wir mit der Familie schwimmen gegangen sind. Ich habe mich immer gefragt, warum er das macht", erzählt sie. Ich nicke bloß. Ich kann förmlich sehen, wie ihr Kopf vor Selbstvorwürfen raucht.

"Nachdem ihr hierher nach London gezogen seid, war laut Harry erstmal Ruhe. Er wurde nicht mehr dauerhaft verfolgt, nur ab und zu mal. Tja und dann haben Jacks Leute wohl Harry und mich zusammen gesehen. Von da an haben sie uns beide beobachtet. Der Grund, warum Harry im Krankenhaus war, war Jack. Vor drei Wochen... er und seine Männer haben es wieder getan. Harry hatte starke innere und äußere Verletzungen durch... durch die Vergewaltigung und die Schläge. Er hatte keinen Fahrradunfall, so wie er es dir gesagt hatte", fahre ich fort. Anne steigen erneut die Tränen in die Augen und ich lege meine Arme tröstend um sie, um ihr den Halt zu geben, den ich selbst gerade genauso nötig hätte. "W-wo ist... ich will zu ihm, fährst du mich zu deiner Wohnung?", fragt Anne, die sich anscheinend gerade erst fragt, wo ihr Sohn ist.

"Anne, der Grund warum wir hier sind, ist... Harry ist verschwunden. Seit gestern Mittag. Deswegen habe ich dich abends angerufen, ob er hier ist. Wir glauben... also... dass Jack ihn hat". - "Aber... aber Jack ist auf Geschäftsreise", bringt sie hervor.

"Glaubst du das etwa wirklich noch? Nach allem was ich dir gerade erzählt habe?", entgegne ich entsetzt. - "I-ich weiss nicht... das ist doch bestimmt alles ein Irrtum. Jack ist toll und liebenswürdig, er könnte keiner Fliege etwas zu leide tun", sagt sie und schüttelt wild den Kopf. Ich seufze laut und lege dann meine Hände an ihre Wangen, damit sie mir in die Augen schaut. "Anne, ich lüge nicht. Und wem glaubst du eher? Deinem Sohn, den du seit seiner Geburt an kennst oder einen Mann, der vor wenigen Jahren auf einmal hier aufgekreuzt ist? Dann sag mir doch mal, als was Jack arbeitet! Und wohin ging denn seine Geschäftsreise?" - "I-ich weiß es nicht. Er sagt immer, er arbeitet für eine Kanzlei, aber mehr weiss ich nicht", bringt sie hervor. Ich sehe sie mit einem Blick an, der so viel verrät wie: ich hab es dir doch gesagt. Plötzlich schlägt Anne sich die Hände vor den Mund und schluchzt erneut laut auf. "Oh gott, das- er... er hat mein Baby entführt?"

Ich zucke verzweifelt mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Deswegen sind wir hier. Du musst uns helfen, ihn zu finden".

"Natürlich, was kann ich tun?", fragt sie sofort. Ab dann übernehmen die beiden Polizisten.
"Haben Sie ein aktuelles Foto von Mr. Styles und ihrem Mann?", fragt Officer O'Brian. Anne steht auf, holt ein Fotoalbum und schlägt es auf. Augenblicklich muss ich lächeln, als ich ein Bild von Harry sehe, als er gerade circa zwei Jahre alt ist. Er sitzt auf einer Schaukel und strahlt glücklich. Die grünen Augen stechen besonders hervor. Während Anne ein aktuelles Foto von beiden Männern heraussucht, reicht sie mir sanft lächelnd das Album, damit ich es mir anschauen kann. Ich nehme es dankbar an und blättere es langsam durch. Man sieht Harry mehrfach mit seiner Schwester und Anne. Was mir aber besonders auffällt ist, dass auf nahezu jedem Bild sein Vater abgebildet ist. Und jedes mal grinst Harry diesen glücklich an, sei es mit Zahnlücken oder ohne.

Doch plötzlich ist ein riesen Cut im Album. Eine Seite ist frei, dahinter ist Robin nicht mehr zu sehen. Dass muss Die Zeit gewesen sein, in der er gestorben ist. Denn auch an Harry merkt man die Veränderung. Die wunderschönen grünen Augen haben nicht mehr den Glanz in sich. Sie sind matt und blicken jedes mal unglücklich in die Kamera. Auf einem Bild ist dann Jack mit Harry und Gemma zu sehen. Während Gemma neutral schaut, ist Harrys Blick gequält. Und dann erkenne ich auch warum. Als ich genauer hinschaue, sehe ich zahlreiche blaue Flecken an Harrys Armen und seinem Hals. Jack hat seine Hand auf der Schulter meines Freundes liegen. Doch sie scheint regelrecht zuzudrücken, da bereits die Fingerknöchel weiß hervorstechen.

Wortlos löse ich das Bild aus dem Album und reiche es dem jüngeren Officer. Mr. Benett heißt er. Er blickt mich zuerst fragend mit seinen braunen Augen an, doch als ich auf Harrys Arme deutet, nickt er verstehend und zeigt es seinem Kollegen. Dieser betrachtet es eine Weile und reicht es Anne. "Können Sie mir sagen, wann dieses Bild entstanden ist?", fragt er. Anne überlegt ein bisschen, doch dann meint sie: "Da haben wir Gemma gerade nach der Klassenfahrt vom Flughafen abgeholt. Das war ein toller Tag." Ich ziehe scharf die Luft ein, woraufhin ich einen verwirrten Blick ernte. "Anne, was hatte ich vorhin gesagt, wann Jack Harry misshandelt hat?", frage ich. Sie zieht die Augenbrauen verwirrt zusammen. "Vor ein paar Jahren, als Gemma und ich... Um Gottes Willen", unterbricht sie sich selbst. "D-das kann doch nicht....ich... bitte nicht...."

Ich lege schnell meine Arme um sie, als Anne erneut in Tränen ausbricht. "Ganz ruhig, du konntest das nicht wissen", murmle ich beruhigend, auch wenn ich meine eigenen Tränen nur mit Mühe zurückhalten kann. Wie konnte Anne die ganzen Jahre über nichts bemerken?? Hat sie ihren Sohn denn ein einziges Mal gefragt, wie es ihm geht? Jeder Blinde erkennt auf den Bildern, dass Harry gebrochen war. Beziehungsweise noch immer ist. Und seine eigene Mutter denkt, er wäre glücklich... Hat Jack ihr etwa so den Verstand vernebelt?

"Mrs. Twist, dürfen wir uns in Ihrem Haus mal umsehen? So können wir uns eher ein Bild Ihres Mannes machen", erklärt Officer O'Brian. - "Ja, natürlich, gehen Sie ruhig", murmelt Anne.

Während die Polizisten das Haus durchsuchen, um irgendwelche Hinweise zu finden, bleiben Anne und ich auf der Couch sitzen.

"Louis?", fragt sie nach einer Weile. - "Ja?" - "Kannst du mir etwas über Harry erzählen? Wie ihr euch kennengelernt habt und solche Dinge? Ich... ich habe das Gefühl, ich habe meinen Sohn in den letzten Jahren viel zu sehr aus den Augen verloren. Mir ist es nie so bewusst aufgefallen, doch wenn ich jetzt darüber nachdenke... ich habe ihm nie zugehört, wenn er mir etwas erzählen wollte... immer war ich mit meinen Gedanken bei Jack. Es... es ist einfach- Liebe macht bekanntlich blind, oder?", fragt sie mit weinerlicher Stimme. - "Anscheinend wohl schon", sage ich kühl. Auch wenn ich Anne mag, aber wie kann eine Mutter die ganzen Sachen, die passiert sind, denn nicht wahrnehmen?! Meine Mum hat selbst durch das Telefon hindurch noch vor mir bemerkt, dass ich auch auf Männer stehe. Kann eine einzige Person einen wirklich so abhängig von sich machen, dass man seine Umgebung ausblendet und damit alle anderen Menschen, die einem wichtig sind?

"Harry und ich... wir haben uns gleich am ersten Abend getroffen, als ihr nach London gezogen seid. Ich habe ihn vor der Schwimmhalle stehen sehen und... ich weiß nicht, seine Augen haben mich sofort in den Bann gezogen. Tja und dann wenige Tage später haben wir uns direkt geküsst, nachdem er mir fast den Knöchel gebrochen hat... natürlich ausversehen." Als ich daran denke, wie dumm Harry und ich uns zu Beginn angestellt haben, muss ich grinsen. Wie heisst es so schön? Was sich liebt, das neckt sich. Auch wenn Harry mich mit Sicherheit nicht die ganze Zeit absichtlich umgerannt hat, so hat wohl das Schicksal für uns entschieden, dass wie zusammengehören. Auch Anne lächelt liebevoll, als ich ihr von dem Zusammentreffen erzähle.

"Tja und dann haben wir uns ständig gestritten, weil ich gemerkt habe, dass ich etwas für Harry empfinde und es nicht wahrhaben wollte. Bis ich dann dachte, dass er etwas mit meinem besten Freund angefangen hat, obwohl das einfach nur Schwachsinn war. An Weihnachten haben wir uns dann versöhnt und ich habe ihn mit zu meiner Familie nach Doncaster genommen. Und seitdem sind wir ein Paar", erzähle ich. Anne hört mir aufmerksam zu und unterbricht mich kein einziges mal.

"Ich freue mich wirklich, dass er dich gefunden hat, Louis. So hat er zumindest seit einigen Monaten eine Person, der er vertrauen kann, wenn ich es schon nicht sein konnte... was ich natürlich mir selbst zuzuschreiben habe. Ich mache mir solche Vorwürfe. Warum verdammt habe ich ihm nicht ein einziges mal zugehört?", fragt sie, steht auf und geht ans Fenster. Leider weiß ich keine Antwort auf ihre Frage, sodass ich ruhig bleibe und hoffe, sie findet selbst eine.

Jedoch ist jetzt erst einmal wichtig, dass wir Harry finden. Egal was sonst noch alles passiert, wir uns vor Selbstvorwürfen auffressen, dies bringt ihn nicht zurück.

"Anne?", frage ich und stehe entschlossen auf.

"Hm?"

- "Lass uns Harry finden".

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