Kapitel 85

"Harry, jetzt bleib doch bitte mal still liegen!"

Ich höre ein lautes Seufzen und das Rascheln der Bettdecke. Ich verdrehe die Augen und ändere meine Liegeposition.

Harry und ich versuchen beide schon seit Stunden zu schlafen. Es ist bereits vier Uhr morgens und ich habe noch kein Auge zugemacht. Sobald ich einschlafe, dreht Harry sich wieder auf die andere Seite und ich bin hellwach. "Tut mir leid... ich... ich bin einfach so nervös", seufzt Harry. Ich gähne einmal herzhaft, reibe mir dann über die Augen und rolle mich auf die Seite, sodass Harry und ich uns mit dem Gesicht zugewendet liegen. "Machst du dir solche Sorgen?", frage ich vorsichtig. Harrys Augen funkeln im Mondlicht, das durch das Fenster hereinscheint, als er mich ansieht und nickt. "Was ist wenn sie mir nicht glauben?", fragt er mit zittrigen Stimme. Einen Moment lang weiß ich leider keine Antwort darauf. Ich kann Harry ja schlecht sagen, dass Jack dann frei bleibt und Harry weiterhin Angst haben muss.

"Wenn sie dir nicht glauben, lassen wir uns eine andere Identität geben und setzen uns ins Ausland ab", sage ich entschlossen. Harrys Mundwinkel zucken ein wenig und so spinne ich meine Idee weiter. "Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich hätte ja Lust auf Florida. Dort können wir mit Delfinen schwimmen, das wollte ich schon immer mal machen. Dann bauen wir ein riesen Haus mit Meerblick und einem riesigen Garten. Oh nein warte- besser noch: wir kaufen einen Stall dazu, dann kaufe ich dir ein Pferd. Oder zwei. Und wenn wir uns eingelebt haben, heiraten wir und adoptieren viele Kinder. Ich sehe dich schon vor mir, wie du mit ihnen jeden Tag die Hausaufgaben machst und dann die Mädels mit zum Reiten nimmst, während die Jungs mit mir schwimmen gehen. Am besten werden die Familienabende, wenn wir alle zusammen Spiele spielen oder einen Film schauen..."

Als ich plötzlich ein leises Schnarchen höre, blicke ich neben mich. Harry liegt etwas dichter bei mir und schläft. Auf seinen Lippen liegt ein kleines Lächeln. Zufrieden ziehe ich seinen Kopf vorsichtig auf meine Brust, weshalb Harry auch gleich seinen Arm um meinen Oberkörper legt.

~*~

Nachdem wenigstens Harry noch ein paar Stunden schlafen konnte, bekommen wir zum Frühstück beide keinen einzigen Bissen runter. Harry trinkt noch eine große Tasse Kaffee und kurz darauf laufen wir auch schon zur Tube. Passend zu unserer Stimmung beginnt es auch noch zu regnen. Die Wolken ziehen sich zu einer grauen Wand zusammen und immer wieder rempeln uns unterwegs einige Leute mit ihren knallbunten Regenschirmen an. Da die meisten Menschen um diese Zeit bereits entweder in der Uni oder auf der Arbeit sind, ist wenigstens die Tube zum Glück ziemlich leer und wir bekommen noch einen Sitzplatz. Ich greife nach Harrys Hand und verschränke unsere Finger unauffällig miteinander. Man weiss ja nie, wer einem zuschaut. Seufzend starre ich aus dem Fenster, an dem die Regentropfen sich ein Wettrennen liefern. Im Hintergrund höre ich immer wieder das Quietschen von nassen Schuhen der Menschen, die mit uns fahren.
Harry ist bleichweiß im Gesicht und kaut nervös auf seiner Unterlippe herum, bis diese schließlich anfängt zu bluten. "Hör auf damit, ich will dich doch später noch küssen können, ohne zum Vampir zu werden", sage ich scherzend. Harry zeigt ein leichtes Grinsen, doch so schnell dieses erschien, ist es genauso schnell auch wieder verschwunden, als wir aussteigen müssen. Ich lasse unfreiwillig Harrys Hand los und laufe schnellen Schrittes voraus zum Polizeirevier. Harry folgt mir lautlos wie ein Schatten. Immer wieder dreht er sich prüfend um, doch kann anscheinend keine Leute feststellen.
An unserem Ziel angekommen, eilen wir schnell durch die Tür, da der Nieselregen sich gerade zu einem Platzregen verwandelt hat. Wir kommen gerade so noch halbwegs trocken im Gebäude an.

Ein Polizist im Eingangsbereich blickt uns abwartend an. Da Harry nicht den Anschein erweckt, etwas zu sagen, übernehme ich das Wort. "Guten Tag. Mein Name ist Louis Tomlinson und mein Freund Harry Styles möchte gerne eine Aussage tätigen. Vielleicht hat das Krankenhaus Sie ja bereits vor zwei Wochen schon informiert", sage ich und schüttle die Hand, die der ältere Mann mir reicht. Seine Brille hängt ihm auf der Nasenspitze und die spärlichen grauen Haare verdecken notdürftig die Halbglatze. Da der gute Mann einen ziemlichen Bierbauch hat, schätze ich mal, dass er hauptsächlich für die Verwaltung zuständig ist. - "Ja, das ist richtig. Meinen Kollegen wurde gesagt, es gab einen Zwischenfall, weshalb das Gespräch verschoben werden musste, nicht?", fragt Officer Evans, wie ich auf seiner Dienstmarke lese, die an seinem Gürtel befestigt ist. Er reicht nun auch Harry die Hand, welche dieser zwar schüttelt, aber trotzdem noch kein Wort heraus bringt. - "Ja, Harry musste erneut operiert werden und konnte nicht aussagen", erkläre ich knapp. Officer Evans nickt verstehend und schaut etwas in seinem Computer nach. "Dann folgen Sie mir bitte, ich bringe Sie zu einem meiner Kollegen", sagt er und watschelt uns voraus. Ich werfe Harry einen ermutigenden Blick zu und streiche mit meinem Daumen über seinen Handrücken.

Schließlich bleiben wir vor einer schweren braunen Tür stehen. Officer Evans betritt den Raum und bittet und kurz davor zu warten. Irgendwann kommt er wieder raus. "Mein Kollege holt Sie gleich", sagt er und geht zurück zum Eingang. Ich nicke dankend und Harry und ich setzen uns abwartend auf die beiden Stühle, die im Flur stehen. Mein Freund hat bis jetzt immernoch kein Wort gesprochen.

"Harry, ich bin bei dir, hörst du? Du bist nicht allein. Wenn du eine Pause brauchst, dann sag einfach Bescheid und wir gehen raus an die frische Luft. Aber glaub mir, du wirst dich danach besser fühlen. Es wird Zeit, dass Jack seine gerechte Starfe erhält", beruhige ich ihn. Harry seufzt einmal laut und setzt sich dann etwas aufrechter hin. "Du hast ja recht, nur... es ist mir peinlich, das zu erzählen", nuschelt er. - "Ach Hazza, das muss dir nicht unangenehm sein, glaub mir, die Polizisten haben schon so oft Opfer von sexueller Gewalt vernommen, sie werden dich weder auslachen, noch irgendetwas blödes sagen. Und falls sie das doch tun sollten, geige ich ihnen aber gehörig meine Meinung", versichere ich Harry und bringe ihn damit sogar zu Lachen. Nach ein paar weiteren Minuten öffnet sich die Tür und ein freundlich aussehender Mann mittleren Alters öffnet uns die Tür. "Mr. Styles und Tomlinson?", fragt er und reicht uns ebenso die Hand. Harry und ich nicken und er stellt sich uns als Officer O'Brian vor.

"Bitte kommen Sie rein", sagt er und schließt dann hinter uns dir Tür. Wir setzen uns auf die zwei Stühle vor dem Bürotisch, Mister O'Brian stellt uns beiden ein Glas Wasser hin und setzt sich dann gegenüber. Harry trinkt gleich einen großen Schluck und der Mann vor uns wartet geduldig, bis der Lockenkopf fertig getrunken hat.

"Mr. Styles, liege ich richtig mit der Annahme, dass Sie derjenige sind, der aussagen möchte?", fragt er. Harry räuspert sich nervös und fährt sich durch die Haare. Sein Knie hippelt die ganze Zeit herum, sodass ich meine Hand beruhigend auf seinen Oberschenkel lege. "Ja, ich... ich möchte gegen meinen Stiefvater aussagen", antwortet Harry leise. - "Alles klar. Atmen Sie tief durch und dann erzählen Sie einfach drauf los. Das Krankenhaus konnte mir bisher nur sagen, dass Sie vermutlich Opfer eines Gewaltverbrechens wurden, weshalb wir auch informiert wurden. Wenn Sie eine Pause brauchen, sagen Sie einfach Bescheid", erklärt O'Brian.

Harry nickt und holt tief Luft. Er trinkt noch einen Schluck Wasser, greift dann nach meiner Hand und umklammert diese. Als er anfängt zu erzählen, schließt er verkrampft die Augen.

"Es... es hat angefangen, als mein leiblicher Vater Robin an Krebs gestorben ist. Er war alles für mich. Dad hat meiner zwei Jahre älteren Schwester Gemma und mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Auch meine Mum hat er über alles geliebt. Er wusste schon immer, dass ich... naja... etwas anders ticke. Ich glaube, er hat geahnt, dass ich homosexuell bin. Dann ist er wie aus dem Nichts gestorben. Er hatte uns wohl seine Diagnose verschwiegen und alles nur auf sein Alter geschoben. Meine Mum hat ein Jahr lang getrauert und schließlich ihren neuen Partner kennengelernt. Jack. Ich war gerade circa zwölf Jahre alt, als er dann plötzlich immer öfter bei uns war. Ich hatte nicht einmal Zeit, mich an ihn zu gewöhnen, da ist er schon bei uns eingezogen. Sowohl meine Mutter Anne als auch Gemma mochten ihn von Anfang an, doch ich war immer skeptisch. Und das hat er wohl gemerkt. Ich weiß nicht, was er alles zu verheimlichen hat, doch ich habe immer öfter mitbekommen, dass fremde Männer vor der Schule standen und mich überwacht haben. Sie waren ständig da. In der Stadt, in der Schule oder vor dem Haus von Freunden. Immer habe ich sie gesehen". Harry lässt meine Hand los, steht auf und läuft unruhig durch den Raum. O'Brian macht sich einige Notizen und lehnt sich dann zurück. Dankbar nicke ich ihm zu. Er lässt Harry Zeit und drängt ihn nicht zur Eile. Nach einigen Minuten, in denen Harry seine Stirn gegen die kühlen Fensterscheiben gelehnt hatte, kommt er wieder zu uns und setzt sich.

"Und dann irgendwann... ich hatte einen Freund bei mir. Oliver. Er hat... m-mir anvertraut, dass er für Frauen nichts empfindet, sie machen ihn nicht an. Ich habe gemerkt, dass es mir genauso geht, also... haben wir uns geküsst. Unverbindlich und einfach nur um es auszutesten. Und dann... dann kam Jack in mein Zimmer. Oliver sollte sofort gehen,  Jack meinte, es wäre ein familiärer Notfall. Ich dachte mir zuerst nichts dabei, doch sobald Oli weg war... Jack hat mich windelweich geprügelt. Über mehrere Tage hinweg hat er es jeden Tag gemacht. Ich hatte zahlreiche Rippenbrüche, eine Gehirnerschütterung und weitere Verletzungen. Jack hat mich drei Tage lang in meinem Zimmer eingesperrt. Ich durfte nichts essen oder trinken, geschweige denn ins Bad gehen."

Erneut steht Harry auf, reibt sich über die Augen und blickt an die Zimmerdecke. Ich reiche ihm mein Wasserglas, da er seins inzwischen leer hat. Dankbar nimmt er es ab und trinkt es in einem Zug aus. Officer O'Brian steht sofort auf und fällt die Gläser nach. "Kann ich einen Moment an die frische Luft?", fragt Harry.

O'Brian nickt verstehend. Sofort stehe ich auf, um meinen Freund zu begleiten, doch er winkt ab. "Bitte, ich muss mal kurz allein sein", sagt er leise. - "Okay, dann bis gleich", entgegne ich. Jedoch schließe ich ihn in eine feste Umarmung, die er dankbar erwidert. "Ich liebe dich, Louis", flüstert Harry.

"Ich liebe dich auch. Vergiss das nie".

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