Kapitel 82
Seine zweite Hand löst sich von meinem Nippel und will gerade über meine nackte Seite fahren.
Schlagartig schlage ich seine Hand weg.
"Stopp".
Erschrocken macht Harry einen Satz zur Seite und sieht mich schweratmend an. Sein verwirrter Blick schweift einmal komplett über meinen Körper, bleibt eine Sekunde länger an meiner Beule in der Hose hängen und fängt dann wieder meine Augen ein.
"W-was... habe ich...-", beginnt er und fährt sich nervös durch die Haare. Ich unterbreche ihn, indem ich zum Herd gehe und prüfend in den Topf schaue. "D-der Reis... ich dachte er kocht über", murmle ich. Im Augenwinkel sehe ich, wie Harry wortlos genauso dasteht, wie gerade eben und sich nicht rührt. Ich spüre jedoch weiterhin seinen stechenden Blick auf mir. Er beißt sich unsicher auf die Unterlippe, bevor er sich schließlich wegdreht und die Tomaten fertig schneidet. Er nimmt das Gemüse, drückt mich etwas unsanft zur Seite und bereitet das Essen weiter zu.
"Kannst du bitte schonmal den Tisch decken?", fragt er. Seine Stimme klingt verdächtig zittrig. Mit schlechtem Gewissen nicke ich einfach nur und stelle zwei Teller, Gläser und Besteck auf den Tisch. Als wir mit dem Rücken zueinander stehen, fahre ich mir verzweifelt über die Augen. Ich lege eine Hand an meine rechte Seite. Und genau dort spüre ich das Problem. Die Naht. Sie ist deutlich spürbar. Es ist nur ein Wunder, dass Harry sie noch nicht wahrgenommen hat, als seine Hände an meiner Taille lagen.
Ich lasse mich seufzend auf einen Stuhl nieder und beobachte Harry, der mit immernoch zittrigen Händen das Essen zubereitet. Er steht mit dem Rücken zu mir, sodass er meine startenden Blicke nicht bemerkt. An seinen Handgelenken sind immernoch ganz leichte blaue Spuren zu sehen, die auch nach zwei Wochen noch nicht komplett verblasst sind. Immerhin sind die Würgemale und auch alle restlichen Hämatome inzwischen gut verheilt. Doch was bringt es einem, wenn die Narben trotzdem bleiben? Die Narben und mit ihnen die Erinnerung an dieses schreckliche Erlebnis. Harry wird jeden Tag daran zurückdenken, wenn er sich im Spiegel betrachtet. Und ich? Ich heule wegen einer Niere herum.
Gerade als ich aufstehen und mich entschuldigen möchte, dreht Harry sich zu mir herum und lädt jedem von uns eine Portion Reis mit Gemüse auf den Teller. Die leere Pfanne landet für meinen Geschmack etwas zu fest auf der Herdplatte. Harry setzt sich mir gegenüber auf den Stuhl und nickt bloß, als ich in sein und mein Glas Wasser einschenke. Ich beobachte ihn eine ganze Weile, doch er schaufelt bloß das Essen in sich rein, ohne aufzuschauen.
Irgendwann jedoch blitzen seine Augen kurz durch seine, in die Stirn gefallenen Locken, zu mir nach oben. Als sich unsere Blicke treffen, ist jedoch wieder der Teller interessanter. "Dein Essen wird kalt", nuschelt Harry. Seufzend nehme ich einen Bissen zu mir. "Schmeckt gut", sage ich in einem versöhnlichen Ton. Ich erhalte ein Nicken. Immerhin.
Sobald unsere Teller leer sind, springt Harry schon förmlich auf und stellt sie in die Spülmaschine. Auch ich erhebe mich und spüle den Topf und die Pfanne mit Wasser aus.
"Möchtest du auch Schokolade?", frage ich und halte Harry ein Stück hin. Zögerlich nickt er und greift danach. Als sich unsere Finger für den Bruchteil einer Sekunde berühren, zucken wir beide zusammen und lassen los. Das Schokoladenstück fällt zu Boden. Ich seufze und bücke mich danach. Als ich jedoch wieder nach oben kommen will, knalle ich mit meinem Kopf fest an Harry's. "Aua", sagen wir beide gleichzeitig und reiben jeweils über die angeschlagene Stelle kurz über der Stirn. Ich sehe zu Harry und blicke direkt in seine grünen Augen. "Schokolade?", frage ich erneut und halte ihm das gerade aufgehobene Stück vor die Nase. Plötzlich müssen wir beide grinsen und verfallen in lautes Gelächter. "Ja, gern", sagt Harry lachend und schiebt sich die Schokolade in den Mund. "Weißt du noch, wie ich dich anfangs gehasst habe, weil du mich ständig über den Haufen gerannt hast?", bringe ich kichernd hervor. Auch Harry nickt und wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. "Du bist mir auch immer direkt in den Weg gelaufen", redet er sich heraus. Sofort streite ich diese Anschuldigung ab. "Nein, das stimmt nicht. Du hast einfach nie aufgepasst".
Mit besserer Laune räumen wir die restliche Küche auf und gehen dann ins Wohnzimmer. Während Harry einen Film heraussucht, richte ich die Kissen auf der Couch gemütlich hin uns setze mich dann. Als der Film läuft, kuschelt sich Harry mit seinem Kopf auf meinen Schoß und verfolgt gebannt das Geschehen auf dem Bildschirm. Ich dagegen finde meinen Freund viel interessanter. Ich streiche ihm immer wieder durch seine weichen Locken oder verpasse ihm eine Schultermassage. Irgendwann jedoch merke ich, dass Harrys Atem sehr langsam und gleichmäßig ist. Ich beuge mich etwas vor und sehe, dass er eingeschlafen ist. Lächelnd stehe ich langsam auf und hebe ihn vorsichtig hoch. Darauf bedacht, nirgendwo dagegenzustoßen, laufe ich leise ins Schlafzimmer und lege Harry auf seiner Bettseite ab. Als ich mich von ihm entferne, grummelt er unzufrieden. Ich mache mich also daran, langsam sein Shirt und seine Jeans auszuziehen. Da er noch nicht aufgewacht ist, habe ich ein wenig Zeit, ihn zu betrachten.
Auf seinem Bauch ist noch immer die Narbe der ersten Operation zu sehen. Glücklicherweise ist sie allerdings etwas versetzt zu Harrys Schmetterlingstattoo, ich glaube das hätte ihn ziemlich geärgert, wenn dieses dadurch zerstört würde. An seiner Seite ist die Naht der Nierentransplantation. Sie ist etwas größer als meine, sieht ansonsten aber ähnlich aus. Auf seinem Oberkörper sind noch ein paar, inzwischen grüne, Flecken zu sehen, wo vorher noch Hämatome waren. Seine Beine sind inzwischen wieder unversehrt, nur in der Nähe seines Schritts sind noch leichte Handabdrücke und langsam verheilende Kratzspuren zu sehen. Ich schlucke geräuschvoll und schließe meine Augen. Immernoch ist es für mich unvorstellbar, wie Harry das alles aushält. Natürlich versuche ich, für ihn da zu sein und Kraft zu spenden, doch ist das wirklich genug? Ich weiß, dass Harry von mir nicht mit Samthandschuhen angefasst werden möchte, doch auch ich habe manchmal Zweifel, ob wir überhaupt eine normale Beziehung führen können, ohne dass Harry sich vorher professionelle Hilfe gesucht hat. Bisher war er von diesem Vorschlag jedoch immer abgeneigt. Ich kann ihn ja verstehen, es ist bestimmt nicht einfach, sich einzugestehen, dass man etwas nicht allein schaffen kann, doch vielleicht ist es hier die einzige Lösung, dass er das alles einigermaßen hinter sich lassen kann.
Mit einem letzten Blick auf meinen Freund gehe ich noch kurz ins Bad. Als ich wiederkomme, hat er sich etwas in die Decke gerollt. Lächelnd drücke ich ihm einen Kuss auf die Stirn, ziehe meine Jeans aus und lösche das Licht. Als ich mich zu ihm lege, dreht Harry sich zu mir und legt seinen Kopf auf meine Brust. Nach einem Moment jedoch nuschelt er etwas, schlägt dann die Augen auf und sieht mich mit müdem Blick an. "Dein Shirt stört beim Kuscheln", sagt er leise. - "Mir ist momentan nachts immer so kalt, deswegen habe ich ein T-shirt an", rede ich mich heraus. Harry runzelt die Stirn, nickt dann aber, legt sich wieder hin und ist kurz darauf wieder eingeschlafen. Auch ich werde endlich müde und folge ihm ins Land der Träume.
~*~
"Baby, ich muss jetzt aufstehen, ich muss in die Uni", flüstere ich Harry am nächsten Morgen ins Ohr. Ich habe mich dazu entschlossen, endlich wieder dem Alltag nachzugehen.
Harry dreht sich seufzend um, öffnet die Augen und starrt mich genervt an. "Hast du keine schönere Möglichkeit gefunden, mich zu wecken?", fragt er unzufrieden. Ich setze eine entschuldigende Miene auf und schlage die Bettdecke zurück. Nachdem ich mich einmal gestreckt habe, stehe ich auf und öffne die Vorhänge. Harry stöhnt noch genervter als ohnehin schon, als ihm die helle Sonne ins Gesicht scheint. Ich drehe mich grinsend zu ihm um. "Sei froh, dass die Vorlesungen bei mir heute erst später anfangen, sonst hätte ich dich noch früher geweckt", entgegne ich und gehe zum Kleiderschrank. Ein paar von Harrys Klamotten haben darin noch Platz gefunden. Ich nehme mir einen seiner Pullis und ziehe mir mein Shirt über den Kopf. Vorher drehe ich mich allerdings mit der unversehrten Seite zu Harry. Zum Glück habe ich daran gedacht, denn im Spiegel, der gegenüber an der Wand hängt, sehe ich genau seinen interessierten Blick, der über meinen Körper schweift. Als er jedoch bemerkt, dass ich seine stalkerischen Machenschaften erkannt habe, da ich spielerisch mit meinen Armmuskeln spiele, wendet er sich schnell mit roten Wangen ab. Grinsend gehe ich zu ihm und beuge mich über Harry. "Gefällt dir, was du siehst?", frage ich verschmitzt. - "Vielleicht". Ich beiße mir auf die Unterlippe und nähere mich Harrys Gesicht. Als nurnoch wenige Millimeter zwischen unseren Lippen liegen, merke ich, wie sich Harrys Atmung sich verschnellert und sein gieriger Blick auf meinen Mund gerichtet ist. Ich streife ganz sachte seine Wange mit meiner Nase. Kurz bevor sich jedoch unsere Lippen berühren, entferne ich mich und gehe hüftewackelnd aus dem Raum.
Was Harry kann, kann ich schon lange.
Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass ich schon ziemlich spät dran bin, weshalb ich schnell einen Müsliriegel in mich hinein stopfe, meinen Rucksack packe und zu Harry zurück renne. "Bis später, Schatz", sage ich und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Gerade als ich schon fast aus den Zimmer gerannt bin, höre ich seine Stimme hinter mir. "Bekomme ich keinen richtigen Kuss?", fragt er. Ich drehe ich zu ihm um. Er sitzt im Bett und streckt seine Arme nach mir aus. Neckisch grinsend gehe ich zu ihm. "Aber ich dachte ich gefalle dir nicht?", entgegne ich grinsend. Harry verdreht die Augen und lässt seine Arme langsam sinken. "Wir sehen und später", flüstere ich gegen seine Lippen, ohne sie zu berühren, und verlasse das Haus.
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