Kapitel 46
"Louis! Aufstehen!"
Genervt ziehe ich mir die Decke über den Kopf. Einen Moment ist wieder Ruhe, bis plötzlich etwas Schweres auf mir landet und mich unsanft gegen die Matratze drückt. Erschrocken keuche ich auf, während ich von dem Gewicht auf mir nur Gelächter höre.
"Geh von mir runter, du Walross!", bringe ich hervor. - "Bitte was? Walross? Dann bist du ein Elefant", lacht Harry, lässt aber endlich von mir ab, sodass ich mich aufrichten kann. "Wie viel Uhr ist es denn?", frage ich. - "Es ist 6 Uhr. Steh auf, das Frühstück ist schon fertig. In einer Stunde fährt der Zug und wir müssen ja auch noch zum Bahnhof fahren", sagt Harry.
Mit dem Gedanken, heute endlich meine Familie wiederzusehen, schäle ich mich aus meiner Bettdecke. Harry sitzt vor mir uns beobachtet mich, während ich versuche, mir durch die widerspenstigen Haare zu streichen. "Musst du noch duschen?", frage ich. Er schüttelt den Kopf. "Ich war vorhin schon, ich konnte nicht mehr schlafen. Du ähm... müsstest mir nur evtl mit meinem Rücken helfen. Der Verband und das Pflaster sind abgegangen", sagt er und sieht beschämt weg.
Schmunzelnd lege ich drei Finger an sein Kinn und zwinge ihn somit sanft, mich anzuschauen. Wieder mal werde ich umgehauen von den kleinen Smaragden in seinen Augen. Sie funkeln und strahlen mich regelrecht an. "Harry, ich helfe dir gern. Außerdem hätten wir die Wunde heute morgen ohnehin nochmal säubern müssen, ich möchte nicht, dass sich irgendetwas entzündet", versichere ich ihm. Erleichtert atmet er aus.
Ich strecke mich einmal und stehe dann auf. Ich spüre Harrys Blick auf mir, als ich ins Bad gehe.
Dort angekommen, schließe ich die Tür und gehe unter die Dusche. Um wach zu werden, lasse ich kaltes Wasser auf mich herunter prasseln. Ich frage mich ja, wie früh Harry schon aufgestanden ist, dass er schon geduscht und Frühstück gemacht hat. Ob er nicht gut geschlafen hat? Wobei er nicht mal wirklich müde aussah.
Als ich aus der Dusche steige, trockne ich mich schnell ab und gehe dann mit dem Handtuch um die Hüfte gewickelt in mein Schlafzimmer zurück. Durch den Spalt der Tür sehe ich, wie Harry oberkörperfrei im Raum steht und seinen Rücken durch den Spiegel betrachtet. Die Wunde sieht heute schon besser aus, als gestern. Durch das Duschen hat es zum Glück nicht erneut angefangen, zu bluten.
Ich gehe zurück in die Küche, nehme den Koffer mit dem Verbandszeug und gehe zu Harry. Er sitzt bereits auf meinem Bett und schaut mich erwartend an. Schmunzelnd reiche ich ihm den Koffer, dass er schonmal die richtigen Sachen heraussuchen kann, während ich an meinen Schrank gehe. Während ich mich anziehe, spüre ich wieder mal Harrys Blick auf mir. Komischerweise ist es mir dieses mal nicht besonders unangenehm.
Als ich fertig bin, schaue ich ihn lächelnd an, woraufhin er schnell seinen Blick abwendet und hochrot im Koffer herumwühlt. Grinsend nehme ich ihm die Sachen ab, die er mir reicht. "Kannst du dich ein Stück Richtung Licht drehen? Dann kann ich besser sehen", frage ich, woraufhin er sich anders herum setzt. Die Helligkeit fällt gut auf seinen Rücken und ich beginne damit, die Wunde zu desinfizieren.
Harry atmet hektisch. Mir tut es leid, ihm wehzutun, aber ich denke, dass eine Entzündung noch schlimmer wäre. Trotzdem gehe ich möglichst sanft vor und verbinde die Wunde anschließend. Als ich fertig bin, reiche ich ihm seinen Pullover und helfe Harry, dass der Stoff nicht unsanft seinen Rücken streift. "Danke. Das bedeutet mir viel, dass du mir so hilfst", sagt er.
"Das ist doch selbstverständlich", sage ich nachdenklich. - "Naja, ich kenne das eher anders", meint er und grinst schief. Weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll, nehme ich ihn einfach kurz in den Arm, woraufhin er sich sofort an mich drückt. "Sollen wir frühstücken gehen?", frage ich nach einer Weile. Harry nickt und löst sich lächelnd von mir.
Er tapst mir voraus in die Küche und erst jetzt bemerke ich, dass er schon den Tisch gedeckt hat und für jeden von uns ein Sandwich gemacht hat. Daneben steht auf jeder Seite eine Tasse Tee. Wir setzen uns und beginnen zu essen. "Bist du eigentlich aufgeregt, deine Familie wiederzusehen?", fragt er.
"Schon irgendwie. Ich meine, ich war seit knapp einem Jahr nicht mehr zu Hause. Meine Mum wird mir wahrscheinlich wieder einen Vortrag halten, dass ich zu dünn bin und gesünder kochen soll", sage ich grinsend.
"Wenn wir wieder hier in London sind, bringe ich dir kochen bei", legt Harry bestimmerisch fest. - "Hältst du das wirklich für eine gute Idee?", frage ich, woraufhin er überzeugt nickt.
"Ich kann ja nicht tatenlos dabei zusehen, wie du hier verhungerst". Ich verdrehe die Augen. "Keine Sorge, bis dahin dauert es noch eine Weile. Und für das Training ist es sowieso besser, dort nicht mit vollem Magen aufzukreuzen." Harry schaut mich nachdenklich an. "Du warst eh schon länger nicht mehr beim Schwimmen."
Ich zucke mit den Schultern. "Mir war irgendwie nicht danach. Gab es denn irgendetwas Besonderes?" - "Nicht wirklich. Wir haben uns wieder auf das Zeitschwimmen konzentriert. Jim hat aber ständig nach dir gefragt".
- "Naja, ich muss zugeben, ich habe die letzte Zeit so Einiges schleifen lassen. Im Restaurant war ich jetzt auch schon länger nicht mehr. Aber wenn wir wieder zurück sind, gehe ich natürlich wieder zum Training und auf die Arbeit."
Als wir fertig mit dem Essen sind, gehen wir nacheinander ins Bad und holen unsere Taschen. Zum Glück ist es nicht weit bis zur Tube, sodass wir unser weniges Gepäck gut transportieren können. Nachdem ich überall das Licht ausgemacht und die Zugtickets eingepackt habe, verlassen wir meine Wohnung und ich schließe die Haustüre ab.
Draußen sind nur eine Handvoll Menschen zu sehen, aber wen wunderts? Immerhin ist heute noch ein Feiertag und nicht viele Menschen stehen da freiwillig so früh morgens auf, um durch die Kälte zu laufen.
Während wir zur Tubestation laufen, unterhalten wir uns nicht besonders viel. Allerdings ist es keineswegs eine unangenehme Stille.
Mit der Tube fahren wir eine Station und steigen dann aus, um die letzten paar Meter zum Hauptbahnhof zu laufen. Zum Glück ist der Zug nach Doncaster nicht so voll besetzt, sodass wir einen Zweiersitzplatz ergattern können. Ich sitze am Fenster, also zeigt Harry dem Kontrolleur unsere Fahrkarten. Sobald das alles erledigt ist, lehnen wir uns entspannt zurück und der Zug setzt sich in Bewegung.
"Ich bin echt gespannt auf deine Familie", gibt Harry nach einer Weile zu, "muss ich denn irgendetwas beachten oder wissen?" Ich schüttle den Kopf und erzähle ihm ein bisschen von zu Hause. "Also meine Mum Johannah kennst du ja sozusagen schon. Und von meinem Vater Mark und meinen Geschwistern habe ich dir ja auch bereits erzählt. Du musst nur aufpassen, Ernest und Doris sind ziemliche Kletten. Sobald sie einmal bei dir am Bein hängen, wirst du sie so schnell nicht mehr los. Ich habe meiner Mum übrigens gesagt, dass wir beide in meinem Zimmer schlafen, ich hoffe, das ist okay für dich?"
Harry lächelt zufrieden. "Auf jeden Fall."
- "Konntest du heute Nacht eigentlich gut schlafen?", frage ich, woraufhin er mich fragend anschaut. "Klar. Wieso fragst du?" - "Naja, du warst schon so früh wach. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass du aufgestanden bist. Oder habe ich geschnarcht?"
"Naja... was soll ich sagen? ... ich konnte ehrlich gesagt kein Auge zu machen. Leise hast du nicht wirklich geatmet." Mit großen Augen starre ich ihn an. "Meinst du das Ernst? Mir hat noch nie jemand gesagt, dass ich schnarche", frage ich. - "Tja, dann weißt du es ja jetzt", sagt er mit todernstem Blick.
"Fuck. Vielleicht ist es dann besser, wenn ich in Doncaster auf dem Sofa schlafe, dann störe ich dich nicht", schlage ich vor. Mir ist das gerade unendlich peinlich. Warum hat Harry mich denn nicht geweckt? Dann wäre ich auch letzte Nacht direkt ins Wohnzimmer ausgewandert. "Ja, vielleicht wäre das wirklich eine gute Idee", meint er dann. Schade. Ehrlich gesagt hatte ich mich darauf gefreut, mit Harry in einem Bett zu schlafen. Es beruhigt mich einfach, wenn er neben mir liegt. Aber ich möchte natürlich auch nicht, dass er die ganze Nacht wach liegt.
"Louis?", fängt er an. - "Ja?", ich schaue ihn fragend an.
"Das war eigentlich ein Witz. Du hast nicht geschnarcht. Und ich konnte sogar ziemlich gut schlafen- also auf jeden Fall besser als bei mir zu Hause. Ich musste nur irgendwann aufs Klo, deswegen bin ich einfach schon aufgestanden, also keine Sorge. Außerdem bist du ein wirklich bequemes Kissen", sagt er grinsend.
"Du Idiot! Weißt du eigentlich, wie peinlich mir das gerade war?!", rufe ich lachend und ernte dafür einen grimmigen Blick von dem Herrn auf der anderen Seite des Gangs im Zug. Ich sehe ihn entschuldigend an und verpasse Harry einen spielerischen Klaps auf die Schulter, weswegen er leise kichert. "Du sahst so niedlich aus", bringt er hervor und zwinkert mir zu, während ich nur grinsend die Augen verdrehe.
"Niall hat mir übrigens heute morgen geschrieben. Ich soll viele Grüße und eine gute Fahrt ausrichten", meint Harry dann, nachdem er sich wieder beruhigt hat. Ich nicke dankend und schaue dann aus dem Fenster.
Nach eine Weile holt Harry Kopfhörer aus seiner Jackentasche und reicht mir die eine Seite des Kabels. Dann schaltet er leise Musik auf seinem Handy an. Irgendwann merke ich, wie sein Kopf auf meine Schulter gleitet und er sich an mir anlehnt. Zufrieden lege ich einen Arm um ihn, während seine Augen zufallen und er einschläft. Da ist wohl doch noch jemand müde.
Ich schaue wieder aus dem Fenster und verfolge die Bäume und Häuser, an denen der Zug vorbeirast.
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