Kapitel 10
Das Wochenende lasse ich ziemlich entspannt verlaufen. Am Samstag stehe ich erst um 11 Uhr auf und gehe eine Runde joggen. Von Harry habe ich schon seit Tagen nichts mehr gehört. Naja, immerhin habe ich dann heute Abend beim Schwimmen meine Ruhe. Manchmal, zum Beispiel letzte Woche, ist Jim noch da, aber das wird heute nicht der Fall sein. Zumindest hat er mir das vorhin geschrieben. Auch nicht schlecht.
Mittags treffe ich mich dann mit Niall. Wir haben uns für die Pizzeria in der Mitte zwischen unseren Wohnungen verabrede, sodass wir beide zu Fuß dorthin gehen können. Ich sehe ihn schon von Weitem winken, als ich dort ankomme. Ich grinse, als er mir gleich um den Hals fällt. Niall ist immer ein bisschen anhänglich, aber das macht ihn noch liebenswerter als ohnehin schon. Wir betreten die Pizzeria und setzen uns auf unsere Stammplätze. Giovanni kommt kurz darauf zu uns und begrüßt uns herzlich. Wir sind ziemlich oft hier, wenn ich es mir mal leisten kann.
Ich bestelle eine Salamipizza und Niall eine Pizza Hawaii. Seine Wahl bleibt mir immer ein Rätsel. Wie kann einem Ananas mit etwas Würzigem schmecken? Niall bemerkt meine gerümpfte Nase und lacht. "Du hast die Pizza doch noch nie probiert, wie kannst du dann wissen, dass sie dir nicht schmeckt?" Ich zucke mit den Schultern und entgegne ihm:" Brauch ich auch gar nicht. Ich mag einfach keine Ananas". Mein bester Freund schüttelt nur belustigt den Kopf. "Statt sich mal auf etwas Neues einzulassen". Ich antworte nichts darauf und fange an, zu essen.
"Hast du eigentlich was von Harry gehört?", fragt er mich plötzlich. Ich verneine per Zeichensprache, da ich gerade ein Stück Pizza im Mund habe. "Komisch, ich habe jetzt schon seit ein paar Tagen nichts von ihm gehört. Es scheint ihn ja echt richtig erwischt zu haben", rätselt er herum. "Warum? Er ist doch selbst schuld, wenn er sich mit jemand Stärkerem anlegt", antworte ich ihm, ohne nachgedacht zu haben. Ich erstarre und blicke dann schnell wieder auf mein Essen, um Nialls Blick auszuweichen. "Wie meinst du das? Ich dachte, er ist krank?"
Ich zucke mit den Schultern und sage nichts dazu. "Louis??? Was weißt du, was ich nicht weiß?"
"Nichts. Ich habe das nur so vermutet. Er sieht irgendwie aus wie ein Schlägertyp", erkläre ich ihm unzuzsammenhängend. "Reden wir von dem gleichen Harry? Der Lockenkopf mit den krassen Augen?? Der ist doch kein Schlägertyp!", erwidert er. "Ja okay, ich habe ihn neulich im Klo in der Uni getroffen und er hatte ein blaues Auge." Die Details muss Niall ja nicht unbedingt wissen, schließlich habe ich es Harry versprochen. "Krass... Und was hat er angestellt?"
"Niall, ich weiß es nicht. Ich bitte dich nur, das nicht überall herum zu erzählen, Harry möchte das nicht". Er schaut mich nachdenklich an, bevor er sagt:"Ich dachte, du kannst ihn nicht leiden?" - "Kann ich auch nicht, aber versprochen ist versprochen, oder?" - "Ja, hast ja recht", stimmt er mir endlich zu. Um das Thema zu wechseln, erzähle ich ihm von Eleanor.
"Nimm es mir nicht übel, aber ich habe mir schon fast gedacht, dass das nicht mehr lange hält", meint er dann schmunzelnd. "Warum wusste das eigentlich jeder außer ich?", frage ich genervt, "Liam hat neulich auch schon etwas in der Richtung erwähnt".
"Naja, wenn wir mal ehrlich sind, ich kenne kein Mädchen, das so eine Beziehung, falls man das so nennen kann, toll findet. Vor allem nicht Eleanor." Ich verdrehe die Augen. Als wir nach einer Weile fertig gegessen haben, bezahlen wir und verabschieden uns voneinander. Mit Niall kommt man immer so ins quatschen, dass man gar nicht mehr loskommt. Eigentlich wollte ich daheim noch etwas aufräumen, bevor ich schwimmen gehe, aber ich glaube, das kann ich jetzt auch vergessen. Daheim packe ich schnell mein Zeug, esse einen Schokoriegel und gehe los.
Als ich an der Halle ankomme, ist komischerweise nicht abgeschlossen. Vielleicht ist Jim heute ja doch da. Ich gehe rein und sehe in der Umkleide schon eine Tasche und ein paar Klamotten liegen. Komisch. Jim können diese Sachen nicht gehören und auch keinem aus dem Team. Ich ziehe mich verwundert um und betrete den Schwimmbereich. Im ersten Moment sehe ich niemanden, nur ein Handtuch liegt auf einer Liege.
Kurz darauf höre ich jemanden aus dem Wasser auftauchen. Ich drehe mich um und sehe ihn. Natürlich, wer auch sonst...
Harry bemerkt mich zuerst nicht, sondern atmet tief ein und taucht wieder unter. Okay, er kann verdammt lange die Luft anhalten. Er schwimmt eine Weile unter Wasser, ehe er wieder an die Oberfläche kommt. Als er mich sieht, sehe ich, wie sich seine Augen weiten. "Was machst du denn hier?", fragen wir gleichzeitig. Ich muss schmunzeln, während er zur Leiter schwimmt. "Ich komme fast immer samstags hierher", erkläre ich ihm. Er nickt verstehend. "Und du?", frage ich dann, als er nicht den Anschein macht, noch etwas zu sagen. "Jim hat mir auch einen Schlüssel gegeben, ich habe ihn neulich danach gefragt", erzählt er nach einem kurzen Moment.
Er macht jedoch nicht den Anschein, aus dem Wasser zu kommen. Schade. Ich hatte mich schon auf eine gemütliche Schwimmrunde gefreut. Allein. Naja, was solls, ich kann ihn ja schlecht rausschmeißen, zumal er als erstes hier war.
Ich lege mein Handtuch in die Ecke und springe ins Wasser. Als ich wieder auftauche, fragt er mich:"Geht's deinem Knöchel besser?" - "Ja, es tut zwar noch ein bisschen weh, aber es ist nicht mehr angeschwollen und das Blaue verschwindet auch langsam aber sicher". Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich täusche, aber irgendwie sieht er erleichtert aus. Ich wende mich ab und beginne zu schwimmen.
Kurz darauf bemerke ich, wie er neben mir her schwimmt und sich meinem Tempo anpasst. Wir reden nichts, aber dieses Mal habe ich nicht das Gefühl, dass uns eine unangenehme Stille umgibt. Nach einer Weile fällt mir auf, dass er sein Shirt heute nicht mehr trägt. Als ich ihn jedoch darauf ansprechen möchte, hat er meinen Blick schon bemerkt und steigt aus dem Wasser. Er nimmt sich schnell sein Handtuch, wickelt es um sich und setzt sich auf eine Liege.
Ich tue es ihm gleich und sitze Harry gegenüber. Sein Auge ist immernoch etwas blau, aber seine Verletzung an der Stirn ist kaum noch zu sehen. Er atmet auf einmal tief durch und beginnt dann zu reden:" Es tut mir leid, dass ich dich neulich so angefahren habe. Ich weiß, dass du es nur gut gemeint hattest". Er sieht mir mit seinen grünen Augen in meine, bevor er fortfährt:" Das Shirt war dazu da, um etwas zu bedecken. Ich wollte nicht, dass die anderen das sehen, aber ich glaube, bei dir lässt sich das gerade nicht vermeiden." Bevor ich nachfragen kann, was er meint, steht er auf und nimmt sein Handtuch ab.
Als ich sehe, was er meint, gefriert mir das Blut in den Adern.
An seinem ganzen Oberkörper ist ein Hämatom neben dem nächsten zu sehen. Auch wenn sie schon ein paar Tage alt zu sein scheinen, sieht es schlimm aus. "Wer war das?", flüstere ich, als ich mich wieder gefasst habe. "Unwichtig", erwidert er nur leise. Ich sehe ihm bestürzt in die Augen. Er erwidert meinen Blick nur für eine Sekunde und setzt sich wieder auf die Liege.
"Du hättest es heute früher oder später noch gesehen, aber bei dir weiß ich zumindest, dass du mich nicht auslachst". - "Woher?" Er schaut mich an. "Weil ich dir vertraue".
Okay, damit hätte ich nicht gerechnet. Wir kennen uns erst seit einer knappen Woche. Als er meine Verwirrung bemerkt, sagt er:" Ich denke, sonst hättest du Jim alles erzählt, als er dich darauf angesprochen hat und außerdem hast du die anderen Jungen von mir ferngehalten".
Ich nicke zögerlich. Das klingt einleuchtend. "Harry?"- "Hm?"
"Was ist passiert?" Er schaut wieder weg und legt sich auf den Rücken. Seine Arme verschränkt er vor seiner Brust, aber damit kann er auch nicht alle Verletzungen verdecken. "Das kann ich dir nicht sagen". - "Ich verstehe... Aber wenn du reden möchtest, bin ich für dich da, okay?" Er nickt und sieht mich dankbar an. "Vielleicht werde ich ja eines Tages auf das Angebot zurückkommen."
Ich lege mich auch hin und schaue an die Decke. Nach einer Weile schalten sich automatisch die großen Lampen ab und nurnoch die Beleuchtung im Becken ist an. Es ist also 20 Uhr.
Um diese Zeit bin ich immer am liebsten hier. Alles ist still und man kann seinen Gedanken freien Lauf lassen.
"Woher kommst du eigentlich?", fragt mich Harry auf einmal. -"Aus Doncaster. Das ist ein kleines Dorf, aber ich habe dort immer gerne gelebt. Man kannte jeden und es war schön ruhig. Meine Familie wohnt noch dort." - "Hast du Geschwister?" Ich nicke. "Mehrere. Lottie ist nach mir die Älteste, dann Felicite, die Zwillinge Phoebe und Daisy und dann noch mal Zwillinge, Ernest und Doris".
Harry lacht. "Wow, also eine richtig große Familie. Da warst du bestimmt immer gut beschäftigt mit so vielen Schwestern, oder?" - "Ja, eine zeitlang hatte ich schulterlange Haare und Lottie und Felicite wollten mir immer Zöpfchen machen. Ach ja und meine Fingernägel haben sie mir auch mal heimlich lackiert, als ich geschlafen habe. Am nächsten Tag habe ich verschlafen und hatte vor der Schule keine Zeit mehr, den Lack zu entfernen. Ich musste also die ganze Zeit mit Handschuhen herumlaufen."
Während ich noch mehr Geschichten von früher erzähle, muss Harry immer mehr lachen, bis er sich irgendwann vor lauter Schmerzen den Bauch hält.
"Und woher kommst du?", frage ich ihn dann. "Aus Holmes Chapel. Meine große Schwester und ich waren aber nicht so krass drauf wie ihr. Gemma hat für solche Versuche immer ihre Freundinnen benutzt. Ich war die meiste Zeit immer in der Bäckerei von unseren Bekannten und habe dort geholfen".
Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile, bis uns irgendwann kalt wird. Wir entschließen uns dazu, noch eine Runde zu schwimmen. Um uns herum ist alles dunkel, nur das Wasser leuchtet. Ich muss zugeben, obwohl Harry hier ist, hatte ich schon lange nicht mehr so viel Spaß am schwimmen. Wir liefern uns Wettschwimmen, wetten darum, wer länger die Luft anhalten kann (Harry hat die meiste Zeit gewonnen) und lassen uns gerade beide auf dem Rücken treiben.
Irgendwann spüre ich auf einmal seine Hand in meiner. Ich hatte meine Arme seitlich von meinem Körper weggestreckt. Im ersten Moment möchte ich meine Hand wegreißen, doch ich lasse es. Nach einiger Zeit schließen sich meine Finger um seine. Wir treiben nebeneinander im Wasser und ich muss wieder seine weiche Haut bewundern. Irgendwann merke ich, wie Harry sich wieder aufrichtet und den letzten Meter zu mir schwimmt. Meine Hand lässt er dabei nicht los. Im Gegenteil: Er greift nach meiner zweiten, sodass ich quasi ihm gegenüber ihm Wasser stehe.
Wir schauen uns in die Augen und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn zu betrachten. Seine Haare sind nass und er hat sie sich aus der Stirn gestrichen. Seine Haut ist einfach makellos und selbst seine Schramme über dem Auge stört nicht. Sie lässt sein ganzes Erscheinen sogar noch anziehender erscheinen. Plötzlich löst er eine Hand aus meiner und umgreift sanft meine Taille, womit er mich ein Stückchen zu sich heranzieht. Unsere Beine berühren sich immer wieder leicht, da wir uns ja über Wasser halten müssen. Ich lege meine Hand, aus der er seine gerade gelöst hat, an Harry's Nacken.
Seine Augen scheinen zu funkeln. Sie sehen aus wie Sterne. Grüne Sterne. Gibt es so etwas? Egal.
Seine Lippen verziehen sich zu einem schüchternen Lächeln. Plötzlich flüstert er mir zu: "Es tut mir jetzt schon leid, falls ich gleich alles ruiniere". Bevor ich fragen kann, was er meint, spüre ich seine Lippen sanft auf meinen....
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