Wieder allein
Sheilas Mutter konnte es kaum fassen. Ungläubig blickte sie auf ihre Tochter. "Es gibt... keinen Ausweg? Aber warum nicht?" Sheila seufzte. "Emanon ist unser einziger Ausgang. Dieser Wald ist verhext, und wir können kaum darauf hoffen, dass wir den Eingang zu dieser geheimen Tierwelt finden... Wir wissen ja nicht einmal, wie er aussieht! Es ist aussichtslos. Das Einzige, was wir versuchen könnten, wäre, mit Anemonius, also dem König von Emanon zu sprechen. Ich kenne ihn schon ein bisschen. Aber wo sollen wir ihn bloß finden?"
Ihre Mutter blickte traurig auf die weiß gefrorene Erde. Sie suchte nach tröstenden Worten, die Sheila Mut geben konnten. Sie wusste, dass sie ohne Ivan den Eingang zu Emanon nie finden würde. Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, ihn um Hilfe zu bitten, denn er würde die zweite Welt zerstören! Das konnte sie auf keinen Fall zulassen!
Sheila blickte zu ihr hinauf und versuchte die Gedanken ihrer Mutter zu erraten. Doch sie konnte nichts in ihrem Blick erkennen. Also fragte sie vorsichtig: "Was ist nun, was meinst du? Soll ich versuchen, Anemonius zu finden?" Bevor Jennifer eine Antwort geben konnte, gab es einen ohrenbetäubenden Rumms und etwas krachte in den Schnee. Ein dumpfes Rollen, dann hörte man nur noch das Heulen des Windes. Angstvoll versuchte Sheila, zu sehen, was passiert war, aber der Schneesturm verdeckte alles um das Gebüsch herum. Auch Jennifer war zusammengezuckt. Sie hielt den Atem an und lauschte. Doch es schien alles still. "Was war das?", flüsterte Sheila. "Ich schau mal nach. Bleib du hier und rühr dich nicht, bis ich zurück bin!", war die knappe Antwort. Jennifer kroch unter dem Busch hervor und schlich am Rande der Lichtung davon. Bald hatte Sheila sie aus dem Blickfeld verloren. Ängstlich hastete sie zum Rand des Busches und blickte hinaus. Sie konnte nur noch schemenhaft eine wandelnde Gestalt erkennen. Sie hielt die Luft an. Jennifer war schon fast gänzlich vom Schneegestöber verschluckt. Plötzlich ertönte ein heller Schrei. Etwas krachte und der Schrei wurde auf einmal gedämpft, ein Rumpeln, dann war Jennifer verschwunden. Sheila kreischte erschrocken auf und rannte ohne lange zu überlegen auf die Lichtung, zu ihrer Mutter... doch da war niemand mehr!
Panisch versuchte Sheila Fußspuren im Schnee zu erkennen, doch der Sturm hatte alles schon wieder verweht und zugeschneit. Sie rannte verwirrt herum, begann sogar zu rufen.... es kam keine Antwort. Wie konnte ihre Mutter nur plötzlich verschwinden? Verzweifelt tappte sie umher, bis sie wieder am Rand der Lichtung angekommen war. Sie zitterte, ob nun vor Angst oder Kälte, war ihr egal. Wilde Gedanken schossen ihr durch den Kopf. War das Rumpeln eine Ablenkung gewesen? War Jennifer entführt worden? Plötzlich entdeckte sie vor sich einen Baum, unter dem ein riesiger Berg Schnee lag. Mehrere Äste waren unter dem Schneegewicht zusammengebrochen und frisches Grün hatte den Schnee am Boden fortgeschleudert. Die Abbruchstellen waren noch sehr frisch!
Sheila schlug sich an den Kopf. Das laute Krachen und Rumpeln, was sie und ihre Mutter so verstört hatte, waren bloß ein paar Äste, die von einer hohen Fichte heruntergebrochen waren! Aber wo war Jennifer? Plötzlich kam Sheila ein schlimmer Gedanke...wenn ihre Mutter nun von einem anderen Ast erschlagen worden war? Panisch versuchte sie, das dicke Gehölz zur Seite zu zerren, rief und weinte, bis sie nicht mehr konnte und sich hoffnungslos in den Schnee fallen ließ. Es hatte keinen Sinn. Selbst wenn Jennifer hier war, könnte sie sie nicht befreien. Sie weinte panisch los, ohne zu wissen, was sie jetzt tun sollte. Schließlich fing sie lauthals an, um Hilfe zu schreien, ohne zu beachten, dass Ivan sie nun sehr leicht finden konnte. Es war ihr egal.
Erst nach längerer Zeit passierte etwas. Der Schneesturm war verebbt und eine unnatürliche Ruhe umgab Sheila. Sie fühlte sich schrecklich einsam und verlassen. Es war so fürchterlich, nicht zu wissen, ob ihre Mutter noch lebte und wo sie war, dass sie die Zeit nur noch unwirklich wahrnahm. Ihr Gesicht war taub geworden und sie drückte ihre Wange an den weichen, mit Eiskristallen übersäten Mantel. Plötzlich rauschte etwas durch die Luft, es waren große Schwingen! Sheila zuckte zusammen und warf ihren Kopf herum... Ein majestätischer Bussard landete zu ihren Füßen. "Anemonius!", schrie Sheila erleichtert. Der Bussard legte seinen Kopf leicht schräg und zischte mit wütender Stimme: "Wieso bist du entkommen, Sasayaku? Ich wusste, dass ich dir nicht trauen kann. Hast du Komplizen in diesem Wald?" Erschrocken fuhr Sheila zusammen. "Anemonius,... meine Mutter ist hier! Ich musste sie vor meinem Vater retten und nun sind beide verschwunden! Ich weiß nicht weiter, du musst mir helfen!", flehte sie. Anemonius stieß einen zornigen Schrei aus und kreischte: "Widerwärtiger Mensch! Du hast mich angelogen! Es sind noch mehr Sasayaku hier und du willst uns vernichten! Ich hatte gehofft, du würdest die Sasayaku, die am letzten Abend zu dir vordringen wollten, nicht bemerken, ich habe sie verjagt um dich zu beschützen! Und nun höre ich, dass sie deine Verbündeten waren... Verhungern sollst du hier im Wald!" Damit schwang er sich erregt in die Lüfte und flatterte davon. Sheila bekam Panik. "aber nein, es ist alles ganz anders als du denkst! Bitte... so hör mich doch an!" Sie stand auf und stolperte hinter dem Bussard her, aber er war viel zu schnell für sie. Tränen schossen ihr in die Augen. Da hörte sie, wie Anemonius rief: "Wachen! Lasst diese Verräterin sterben! Und sucht die anderen Sasayaku!"
Sheila fuhr der Schreck durch die Glieder. Meinte er das ernst? Panik stieg in ihr auf und sie rannte um ihr Leben, obwohl sie wusste, dass es hoffnungslos war, vor einem Wald zu fliehen, aus dem man nicht herauskam. Aus blinder Angst rannte sie in eine Mulde, in der der Schnee meterhoch lag und vergrub sich darin. Schnell buddelte sie einen Hohlraum und presste sich an den Erdboden, in der Hoffnung, dass man sie hier nicht finden konnte. Sie schloss die Augen und horchte angestrengt nach draußen.
Nur wenige Augenblicke später hörte sie wilde Vogelschreie und Flügel, die über ihr Versteck hinwegstoben. Sie wurde gesucht. Sie und ihre Mutter und ihr Vater... Sheila hatte plötzlich nicht nur Angst um sich, sondern auch um ihre Eltern. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihnen etwas zustößt. Nicht einmal ihrem ärgsten Feind würde sie den Tod wünschen!
Sie lauschte hinaus und versuchte herauszubekommen, ob ihre Eltern schon gefunden waren, doch die Suche brach nicht ab. Warum war Anemonius nur so feindselig? Spürte er nicht, dass sie Emanon nicht zerstören wollte? Langsam wurden die Flügelschläge weniger und man schien die Suche vorerst abzubrechen. Sheila atmete auf. War sie gerettet? Doch da vernahm sie ein Rascheln, ein Trippeln und ein Piepsen. Es war ganz in ihrer Nähe, höchstens wenige Meter von ihr entfernt! Sie hielt den Atem an. Wer war hier?
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