Gefangen
Sheila wagte sich kaum, die Augen zu öffnen. Innerlich blickte sie immer noch hinab in den Abgrund. Was war passiert? Lebte sie überhaupt noch? Wo war sie jetzt? Ihr fiel auf, dass es hier, wo auch immer sie war, angenehm warm war. Die eisige Kälte, die sie noch vor kurzem -aber war es eigentlich vor kurzem?- umfing, war verschwunden. Vorsichtig blinzelte Sheila. Sie war in einer Hütte, einer kleinen Hütte. Sie hatte dicke Fenster und die Wände waren aus dunklem Holz. In einem Kamin an der Wand brannte ein kleines, warmes Feuer. Sheila selbst lag in einem Bett an der Wand. Langsam richtete sie sich auf, um das ganze Zimmer zu überblickten. Doch ein stechender Schmerz durchfuhr sie. Er kam von ihrer Schulter. Wenigstens das Zeichen dafür, dass sie noch lebte. Sie versuchte, die Ursache herauszufinden und entdeckte heftige Kratzer auf ihrer Schulter. Woher kamen die nur? Sheila war etwas verwirrt, aber sie konnte sich kaum länger darüber Gedanken machen, denn ihr Blick fiel auf einen Krug Wasser und eine Schüssel voll Beeren, die jemand neben ihr Bett gestellt hatte. Waren das vielleicht die Raubvögel? Wie war sie überhaupt hierhergekommen? Nun meldete sich ihr Bauch zu Wort und ihr fiel ein, dass sie sicher schon seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen oder getrunken hatte. Ohne lange zu überlegen, schlang sie alles hinunter. Gleich ging es ihr besser. Sie machte sich daran, die Hütte zu untersuchen. Neben ihrem Bett gab es einen Tisch, einen kleinen Schreibtisch mit Unmengen an Fächern. Sie versuchte diese zu öffnen, brauchte aber eine ganze Weile, weil die Schubladen schon etwas verklemmt waren. In fast jeder Schublade lagen Unmengen an Papierkram, den sich Sheila aber im ersten Moment nicht richtig ansah. Stattdessen fiel ihr auf, dass man den Ofen vor allem mit solchen Papieren beheizt hatte. Sie sah aus den Fenstern, konnte aber nur den trostlosen Winterwald entdecken, den sie nun schon zur Genüge gesehen hatte. Etwas enttäuscht wandte sie sich ab. Sie wollte lieber nach draußen, einen Ausgang aus diesem Wald suchen. Doch ihr fiel auf, dass ihr dünnes Kleid völlig durchnässt war. So konnte sie nicht nach draußen gehen. Zum Glück fand sie neben dem Bett noch einen Wintermantel, der zwar schon uralt wirkte, aber anscheinend noch wärmte. Sie streifte ihr sich über, ging zur Tür, drückte die Türklinke... aber nichts passierte!
Eine schlimme Ahnung beschlich sie. Ängstlich rüttelte sie an der Tür, aber wieder keine Reaktion. Sheila stöhnte auf. Man hatte sie eingeschlossen! Sie war gefangen! Voller Panik stemmte sie sich gegen die Tür, bis ihre ohnehin schon geschundenen Schultern schmerzten. Doch es hatte keinen Sinn-sie war eingesperrt!
Sie lehnte sich an den kalten Türrahmen und rutschte daran hinunter, bis sie auf dem Boden hockte. Wer hatte ihr das angetan? Ihr kamen die unheimlichen Vögel in den Sinn, der Falke und der Bussard. Hatten sie etwas damit zu tun? Hatten sie sie hier eingesperrt? Sheila wälzte ihre Gedanken hin und her, kam aber zu keinem Ergebnis. Um sich abzulenken, griff sie zu den vergilbten Papieren in den Schubladen und verbrannte sie nacheinander im Ofen. Die Wärme tat ihren eingefrorenen Gliedern gut. Erst jetzt fielen ihr die Skizzen darauf auf. Es schienen Zeichnungen von Landkarten zu sein, aber die Wege auf diesen Karten sahen komisch aus. Wie als hätte der Zeichner der Karte nicht oberirdisch, sondern unterirdisch gezeichnet. An manchen Stellen endeten mehrere Wege in eine Art Halle, in deren Feld wiederrum merkwürdige Zeichen gemalt waren. Sheila betrachtete die Karte lange und eingehend. Sie schien nur ein Ausschnitt eines Ganzen zu sein, dessen meiste Teile Sheila leider nun eben verbrannt hatte. Ärgerlich stampfte sie auf, steckte aber vorsichtshalber den letzten Teil ein. Gedankenverloren ging sie zu einem der Fenster und sah hinaus. Der Himmel über dem Wald war dunkler geworden, fadgrau. Es musste schon Abend sein, vermutete Sheila. Sie spürte ein Gefühl der Unruhe. Wie lange war sie nun schon in diesem Wald? Sie konnte es kaum abschätzen.
Da! War da nicht etwas gewesen? Hinten, im Schatten der scheebedeckten Bäume? Sheila spürte, wie das Adrenalin in ihre Adern zurückschoss. Einer plötzlichen Eingebung folgend duckte sie sich und spähte so durch das Fenster, dass der Fremde sie von außen nicht sehen konnte. Tatsächlich! Eine, nein zwei Gestalten huschten durch den Wald. Sie kamen genau auf die Hütte zu! Sheilas Herz schlug ihr bis zum Hals. Wer war das? Im Halbdunkel konnte sie einen großen und einen etwas kleineren Mensch erkennen, die zu ihr emporstarrten! Sheila stockte der Atem. Aus unerklärlichen Gründen hatte sie Angst, entdeckt zu werden. Sie drehte sich um und presste sich flach an die Wand. Sie konnte schon die Schritte der Zwei im Schnee knirschen hören, wie sie sich der Hütte näherten...
Sheila hielt die Spannung nicht mehr aus. Sie warf einen hastigen Blick aus dem Fenster und zuckte gleich wieder zurück. Da war es wieder, das Gesicht! Dieses Gesicht, was sie in ihrer Erinnerung gesehen hatte! Zwar war es nicht schreckensbleich und auch kaum zu erkennen, aber es war es eindeutig! Ihr Herz raste. Was hatte das zu bedeuten? Sie begann zu zittern und ihre Hände krampften sich zusammen. Sie hörte Schritte vor der Tür, jemand griff zur Türklinke, ein Rütteln...
"Zu!" Sheila vernahm eine wütende Männerstimme. "Verflixt, und du bist dir ganz sicher, dass du jemanden gesehen hast?" Sheila brach in Schweiß aus. Jemand musste sie gesehen haben, als sie aus dem Fenster geschaut hatte! "Aber sicher, oder hältst du mich für bescheuert?", war die wütende Antwort. Die Stimme einer Frau. Der Mann fragte: "Ja toll und wie kommen wir jetzt rein?" Als Antwort ertönte ein lautes Rütteln. Die Tür krachte schon bedrohlich... Plötzlich ein Schrei. Sheila vernahm ein Flügelflattern und Arme, die um sich schlugen. Die Menschen vor der Hütte wurden angegriffen! Etwas knallte gegen die Tür, dann hörte Sheila, wie wilde Schritte davonstoben, gefolgt von wilden Schreien. Sheila lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie presste die Augen zusammen und hoffte, das ganze würde möglichst schnell vorbei sein.
Endlich Ruhe. Nichts war mehr zu hören. Vorsichtig blickte Sheila aus dem Fenster. Vor der Hütte war der Schnee aufgewühlt und an manchen Stellen verdächtig dunkel gefärbt. Es war niemand mehr zu sehen. Die bedrohliche Dunkelheit senkte sich nun gänzlich über den Wald und nur der weiße Schnee ließ sie fad und trostlos erscheinen. Was war passiert? Das Flügelflattern... war der Bussard zurück? Sie grübelte lange, bis ihr fast die Augen zufielen. Erschöpft und verängstigt setzte sich Sheila auf das Bett. Nach einer kurzen Überlegung kam sie zu dem Schluss, es sei das Beste, schlafen zu gehen. In der Dunkelheit konnte sie sowieso nichts mehr verrichten.
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