Gefahr

Zwei Stunden waren nun zwischen Amonius´ Besuch und jetzt vergangen. Sheila saß immer noch schweigend da und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr Magen rumorte und ihre Kehle war trocken. Aber was sollte sie tun? Sie dachte über die Worte des Bussards nach. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie den Bussard überhaupt nicht gefragt hatte, was gestern Abend passiert war. Er hatte ihr auch nichts gesagt. Wollte er ihr etwas verheimlichen oder hatte er überhaupt nichts damit zu tun? Sie war wütend auf sich, dass sie das einfach vergessen hatte. Überhaupt hatte sie so viele Fragen einfach verschwiegen, vielleicht, weil der Besuch einfach zu überraschend kam.

Wieder verfiel sie in nachdenkliches Schweigen. Wieder kam ihr die Rede des Bussards in den Sinn. Emanon...Emanon... was zum Teufel war das? Da ihr nichts Besseres einfiel, fing sie an, die Unterlagen des Sasayaku zu durchstöbern. Sie fand kleine Notizen am Rand der Blätter, die ihr vorher noch nicht aufgefallen waren. Aber leider war die Handschrift kaum leserlich und verblasst. Immerhin erkannte sie, dass die Karten wirklich einen Teil eines riesigen unterirdischen Tunnelsystems darstellten, das in riesigen Höhlen endete. Aufgekratzt kramte sie das Papier, was sie am vorherigen Tag eingesteckt hatte, hervor und studierte es von neuem.

Tatsächlich! Man hatte die Oberfläche dieses Erdteils nur leicht angedeutet, die Höhlen aber stark nachgefahren. Das Papier sah abgegriffener aus als die anderen und schien schon etliche Male ergänzt und verändert worden sein. In die Mitte einer der Höhlen war ein Schriftzug geschrieben und etwas wie ein verschnörkelter Kreis gemalt. Sheila überlegte, ob dieses Blatt etwas mit Emanon zu tun hatte. Stellte es etwa diesen Wald dar? Waren unter diesem Wald vermutlich geheime Gänge? Angespannt suchte sie die Karte nach weiteren Schriften ab.

Plötzlich schreckte sie hoch. Draußen vor der Hütte, da war doch etwas! Sie konnte deutlich das Knirschen des Schnees unter Schuhsohlen vernehmen! Angstvoll schossen ihr die Gedanken durch den Kopf. Wenn das nun die Gestalten von gestern waren? Diesmal würden sie sicher eindringen! Panik packte sie. Sie musste hier raus! Schritte vor der Tür. Nur noch wenige Meter entfernt. Sie konnte Stimmen vernehmen. "Ist dieses Viech wirklich nicht da?", fragte eine ängstliche Stimme. "Nein, alles OK! Komm, wir müssen dort rein! Wenn nun Sheila darin ist...

Sheila unterdrückte einen Aufschrei. Diese Leute kannten ihren Namen! Unter Umständen hätte sie sich jetzt gefreut, denn wenn sie sie kannten, waren diese Personen bestimmt ihre Retter. Doch etwas ließ sie spüren, dass die Zwei da vor der Tür nicht auf ihrer Seite standen. War es die Tatsache, dass der Bussard sie gestern attackiert hatte, oder die Tatsache, dass sie das eine Gesicht so schreckhaft in Erinnerung hatte? Jeder Muskel von Sheila spannte sich an. Wieder sprach jemand. "Sollen wir sie rufen?" "Nein, auf keinen Fall. Das scheucht bloß die kleinen Ungetüme hier auf. Außerdem schläft sie bestimmt, sonst hätte sie uns schon lägst gehört..." "Ich weiß nicht. das letzte Mal, als wir sie sahen, war sie zwar erst fünf, aber bis dahin sind Jahre vergangen! Sie ist vielleicht gar nicht mehr das winzige Mädchen, das wir das letzte Mal sahen, sondern schon viel älter! Bestimmt kennt sie uns gar nicht mehr." Die Stimme der einen Person, die der Frau, wurde vorwurfsvoll. Sie stöhnte. "Warum hast du uns das nur angetan?" Ein Schluchzen folgte. Die andere Stimme wurde schroff: "Halt die Klappe! Du und das Miststück, ihr seid mir wirklich ein Fluch. Warum musste sie auch in meinem Zimmer stöbern? DU solltest dich um sie kümmern, es ist doch alles deine Schuld! Denk daran, ich suche sie nur, weil sie uns möglicherweise zu der Welt der Tiere führt!"

Sheila begann zu zittern. Was war passiert, wer waren diese Leute? Sie kannten sie! Und in ihrem früheren Leben musste sie sogar bei ihnen gewesen sein! Sie wurde kreidebleich und Panik packte sie. Draußen vor der Tür wurden die Wörter der Personen immer lauter. "Du bist schrecklich! So zu reden, das würde kein Mensch tun!", schrie die weinerliche Stimme, "Wie konnte ich mich nur auf dich einlassen?" "Sei still!", brüllte die andere Stimme. Ein Rumpeln, dann stürzte etwas zu Boden. "Halte dich raus aus der Sache! Du weißt genau, wie wichtig es ist, diese Welt zu finden. Denk nur, wir werden bald reich! Also hör gefälligst auf mit Flennen! Hast du kapiert?" Schnee knirschte und wieder rief eine schrille Stimme: "Wie kannst du nur so herzlos sein? Deine eigene..." Ein  wütender Aufschrei unterbrach den Satz. "Du undankbares Biest! Hau ab, ich will dich nicht mehr sehen! Sollst du doch hier in dem Wald umkommen! Du bist mir sowieso nur eine Last! Hau ab!"

Die Frau schluchzte auf und flehte: "Aber das meist du doch nicht ernst! Bitte, Ivan, das kannst du doch nicht sagen! Du willst mich nicht wegschicken!" Sheila hielt den Atem an. Ivan. Dieser Name kam ihr kaum bekannt vor. Wer war das? Angstvoll lauschte sie in die Stille. Sie fühlte mit der Frau, auch wenn sie nicht wusste warum. Selbst wenn diese böse war, der Mann war noch grausamer. Leise schlich sie zur Tür und starrte durch das Schlüsselloch.

Die Frau mit dem ihr bekannten Gesicht hatte vor Tränen gerötete Augen und hielt ihre Hände flehend vor den Mann, der wutverzerrt auf sie herab starrte. Sheila spürte eisige Furcht. Nein, diesmal würde dieser jähzornige Mensch sich nicht erbarmen. Im gleichen Moment stieß er die Frau fort und schrie sie an: "Hau ab! Geh weg! Ich hab keine Lust mehr, mit dir zusammen zu suchen!" Die schluchzende Frau machte keine Anstalten, zu gehen. Sie zitterte und hoffte, dass der Mann seine Worte zurücknahm. Sie schien so hilflos, dass Sheila überlegte, wie sie ihr helfen konnte. Wieder verstrichen bange Minuten, in denen die Frau ihr Gesicht verbarg und weinte. Panisch sah Sheila, wie der Mann vor Wut förmlich zu kochen schien. Er ballte seine Fäuste zusammen. Sheila entdeckte mehrere Gerätschaften an seinem Rücken, die er sich umgehängt hatte und die alle vibrierten oder piepten, sogar ein Gewehr! Plötzlich riss er das Gewehr vom Rücken und wollte damit zuschlagen. Sheila schrie unbedacht auf.

In Bruchteilen von Sekunden kam ihr eine plötzliche Eingebung und sie rief, so laut sie konnte: "Haaaalllooo! Hier ist Sheeeiillaaa!" Der Mann zuckte zusammen und ließ vor Schreck das Gewehr fallen. Auf einmal wurde Sheila klar, wie dumm ihre Idee war. Ivan hatte sie doch gesucht! Wenn er ihr etwas antun wollte? Die Frau war verstummt, Sheila wusste nicht, was mit ihr passiert war. Sofort stürmte Ivan auf die Tür zu und rammte mit der Schulter dagegen. Das Holz zitterte. Panisch fuhr Sheila über alles, was ihr zwischen die Finger kam. Sie musste etwas unternehmen!

Wumm! Ein zweiter Schlag traf die die Tür. Das Holz knirschte bedrohlich. Sheila sah den Tisch, dann das Fenster. Ihr tat sich eine Fluchtmöglichkeit auf... Sie stolperte zu dem Tisch und versuchte angestrengt, eine Schublade herauszureißen. Papiere flatterten zu Boden, Die Schublade löste sich... Plötzlich zerbarst die Tür und der Mann stand im Türrahmen. "Stehen bleiben!", schrie er.

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