8.2 Der siebte Monat

»Ich begreife nicht, dass du nicht verstehen kannst, wie völlig hirnrissig es von dir war, einfach alleine eine Korruption anzugehen!«, rief Janne wütend.

Finan saß neben Elyons Krankenbett und musste sich die Standpauke nun schon eine ganze Weile anhören. Er war so erschöpft, dass er Janne nur mit einem halben Ohr zuhörte, auch wenn es äußerst ungewöhnlich war, ihn so aufgelöst zu sehen. Anscheinend musste Finan sich tatsächlich einer großen Gefahr ausgesetzt haben. Größer, als es ihm bewusst gewesen war.

»Ruhig Blut, mein Guter«, sagte James beschwichtigend, der wie Cheng ebenfalls um Elyons Krankenbett auf einem der unbequemen Holzstühlen saß. »Beide sind lebend davongekommen und Elyon ist wieder sie selbst. Es war riskant, aber es hat sich ausgezahlt. Zusätzlich ist Finans Erfahrung vielleicht eine wertvolle Lehre und einer näheren Untersuchung würdig.«

Cheng nickte. »Feuergabe gegen die Korruption einzusetzen. Es wurde bereits versucht, aber ich habe noch nie davon gehört, dass es tatsächlich was gebracht hat.«

Janne seufzte genervt und wandte sich ab, um sich etwas Wasser zu holen, das in einer Karaffe auf einem Tisch ihnen gegenüber stand.

Finan hatte Elyon sofort ins Krankenhaus gebracht und jemanden zu Janne geschickt, um die Neuigkeiten weiterzugeben. Es hatte nicht lange gebraucht, ehe er gemeinsam mit Cheng und James im Krankenhaus aufgetaucht war, während Finan darauf wartete, dass Elyon hoffentlich bald aufwachte.

»Was passiert, nachdem sie aufwacht? Werden wir gezwungen, wieder zurück nach Höhental zu reisen?«, fragte Finan. Nicht nur, weil es ein wichtiges Thema war, aber auch, damit er sich endlich mal auf etwas anderes konzentrieren konnte statt auf Elyons blasses Gesicht.
Janne drehte sich vorsichtig zu ihm um und sah betreten zu Boden.

James nahm wieder das Wort. »Keine Sorge, selbst wenn sie Aik so schnell wie möglich festnehmen möchten, sie werden Zeit brauchen, ehe sie die richtigen Wächter versammelt haben, die euch begleiten sollen. Sie werden euch nicht ohne Unterstützung losschicken. Und ich habe das Gefühl, dass Elyon bald von alleine auf die Lösung des Fluchs kommen wird.« James grinste leicht und rieb sich nachdenklich das bärtige Kinn.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Finan neugierig.
James zuckte mit den Schultern, das Grinsen immer noch auf den Lippen. »Ist so ein Bauchgefühl«
»Ihr solltet auf sein Bauchgefühl hören. Man kann sich ziemlich gut darauf verlassen«, sagte Cheng und nickte wissend.

Ein leises Stöhnen brachte sie alle zum Schweigen. Finan sprang vom Stuhl auf und beugte sich über Elyon, dessen Lider zuckten und im nächsten Moment ihre vernarbten Augen freigaben

»Elyon, nicht erschrecken. Du bist im Krankenhaus«, sagte Finan sofort.
Sie stöhnte vor Schmerzen und wollte sich aufsetzen. Finan wusste, dass sie zu stur war, um liegenzubleiben, also beobachtete er sie nur, falls sie Hilfe brauchte. Doch mit zusammengebissenen Zähnen zog sie sich alleine hoch.

Einen Augenblick saß sie nur still da und blickte mit leeren Augen ins Nichts. Keiner sagte etwas.
Schließlich sah sie in Finans Richtung.
»Danke«, sagte sie in ihrer Muttersprache.
Finan schluckte schwer. Er hatte ihr Gesicht selten mit einem so weichen Ausdruck gesehen.
»Jederzeit.«

Alle anderen bewegten nicht mal ihre Augen, die wie erstarrt auf Elyon starrten, in ihren Gesichtern ein wartender und verunsicherter Ausdruck.

»Wir sind nicht allein. Cheng und James sind hier, sowie Janne«, erklärte Finan und setzte sich ans Bettende.

Elyon lehnte sich zurück und atmete tief durch.
»Wie geht es dir?«, fragte James.
»In Ordnung. Körper fühlt sich mitgenommen an.«
»Brauchst du irgendetwas? Sollen wir einen Arzt holen?«, fragte Janne.
Elyons schüttelte den Kopf.

Finan stand trotzdem auf und holte ihr etwas Wasser. Den Becher drückte er ihr ungefragt in die Hand und schob ihn dann in Richtung ihrer Lippen. Elyons trank ohne Widerrede.
»Wir sind erleichtert, dass du wieder da bist«, sagte Janne. »Wotan wird dich sicher heute auch noch besuchen.«

»Gut. Ich muss mit ihm reden.« Elyon hielt Finan den Becher hin, den er zurück auf den Tisch stellte. Er stand kurz davor ihr zu sagen, dass sie keine weiteren Besucher annehmen sollte und sie Bettruhe brauchte, doch er ahnte schon, dass Elyon dies nicht akzeptieren würde. Immerhin hatte sie Wasser getrunken. Vielleicht schaffte Finan es zumindest sie davon zu überzeugen, später etwas zu Essen zu sich zu nehmen.

»Was möchtest du mit ihm besprechen? Wir können ihm gerne auch eine Nachricht überbringen lassen«, bot Janne an.
»Nein. Ich will es persönlich sagen. Es geht um den Fluch. Ich wollte mit ihm absprechen, ob er mir bei etwas helfen kann«, erklärte sie mit leiser Stimme.

Finan tauschte fragende Blicke mit den anderen aus. Neugierde flammte in den Augen der zwei Besucher der fernen Länder auf. Cheng war der Erste, der grinste.
»Das klingt als hättest du einen Plan«, wisperte James aufgeregt. »Ich glaube, ich werde meinen Aufenthalt vielleicht doch um ein paar weitere Tage verlängern.«

Wotan besuchte Elyon am späten Abend, als Finan und Elyon gerade dabei waren, Gemüsesuppe zu Abend zu essen. Jedes Mal, wenn Elyon den Löffel an den Mund nahm, zog sich ihre Nase in leichte Falten zusammen, begleitet von einem beleidigten Ausdruck in ihren Augen. Dennoch nahm sie schweigend einen Löffel nach dem anderen, während Finan sich absolut sicher war, dass sie die ganze Zeit wünschte, stattdessen etwas Fleisch essen zu können.

Ein Klopfen unterbrach ihr schweigsames Mahl.
»Herein!«, rief Finan.
Wotans schwarz bekleidete Gestalt schneite in den Raum hinein.

»Elyon! Es tut mir leid, ich bin eben erst wieder zurückgekehrt und musste hierher eilen, als ich hörte, dass du wieder aufgewacht bist. Wie geht es dir? Was ist passiert?«

Elyon legte den Löffel ab, sichtlich erleichtert, sich von der Gemüsesuppe abwenden zu dürfen und zog sich mit ihrem zitterndem Arm sowie mithilfe der Stuhllehne auf die Beine.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie ächzend.
Ein leichtes Schnalzen echote durch den Raum und Wotan rannte zu Elyon, um sie zu stützen.
»Bleib sitzen, Kind. Du bist immer noch geschwächt.«

Die Ärzte hatten erklärt, dass die Korruption für Elyons Zustand verantwortlich war und sie wohl noch einige Tage Erholung brauchte, ehe sie ihre Kräfte vollkommen zurückerlangte.
»Finan, ich möchte mit ihm alleine sprechen«, röchelte Elyon und ließ sich mit Wotans Hilfe auf dem Stuhl nieder.

Finan schürzte die Lippen. Die Widerworte lagen bereits auf seiner Zunge. Doch ein Blick auf Elyons dunkle Augenringe brachte ihn zum Schweigen. Er hasste es, wenn man wichtige Pläne ohne ihn schmiedete. Vor allem jetzt, da er stark vermutete, dass diese Jesko betrafen.

Dennoch, er folgte ihrer Bitte. Dafür ließ Finan seiner Empörung dadurch freien Lauf, dass er schweigend den Raum verließ und die Tür heftig zu knallte. Nicht zu sehr. Aber stark genug, dass es Elyon nicht überhören konnte.

Finan überlegte für einen kurzen Moment, ob er nicht an der Tür lauschen sollte. Doch er schüttelte nur über sich selbst den Kopf und machte sich auf den Weg zu den Toiletten. Es sollte keiner von ihm jemals behaupten können, man könne ihm nicht vertrauen.

Zu seiner Überraschung war die Tür zu Elyons Zimmer offen, als er zurückkam. Er klopfte leise und trat herein, als er Elyons Stimme hörte. Sie lag im Bett und starrte nachdenklich in Richtung des Fensters, ihre von Narben gezeichneten Augen zuckten hin und her, ohne auf etwas zu fokussieren.

»Ist alles in Ordnung? Wo ist Wotan?«, fragte Finan und schloss die Tür hinter sich.
»Schon weg. Morgen ... will ich versuchen ... Jesko zu retten.«

»Wie bitte?«, fragte Finan. Nicht weil er es nicht verstanden hatte, sondern weil er hoffte, dass er sich verhört hatte. Es war unmöglich. Elyon brauchte Bettruhe, nicht eine weitere Unternehmung, die gefährlich werden könnte.

»Morgen. Will ich versuchen. Jesko zu retten«, sagte Elyon langsam und deutlich.
Finan zog einen Stuhl an ihr Bett und setzte sich. Er wusste, dass er im Augenblick sie zu nichts anderem überreden konnte. Es war besser, Fragen zu stellen.

»Was genau meinst du damit? Wie?« Tausende von Gedanken tobten durch sein Kopf, eine chaotische Mischung von Angst, Sorgen, Hoffnung und Verwirrung trieb sie noch stärker an.
Elyon drehte ihren Kopf in seine Richtung.
»Mit deiner Erlaubnis, werden wir morgen Jesko aus dem Körper des Drachens ziehen.«

»Ziehen?«
»Genauso, wie du es mit mir getan hast. Deine Gabe. Sie hat geholfen. Aber es war deine Stimme, deine Worte. Jesko braucht jemanden, den er kennt, dem er vertraut. Du kennst ihn länger als ich. Wenn wir es gemeinsam versuchen, klappt es vielleicht.«

Finan saß wie vom Donner gerührt da. Dunkel erinnerte er sich, dass sie gemeinsam mit Cheng und James einmal die Möglichkeit besprochen hatten, Jesko aus dem Drachenkörper herauszuschneiden. Doch Elyon war sich unsicher gewesen. Er dachte zurück zu dem Augenblick, als er sie herausgezogen hatte. Die Kälte, die Schwere. Das Gefühl, von einer tiefen Dunkelheit ins Nichts gezogen zu werden.

Ein Schauer fuhr über seine Arme. Doch Elyons Gesicht war komplett verhärtet vor lauter Entschlossenheit. Sie wollte es versuchen und sie würde es zur Not alleine tun, wenn er ihr nicht half.

Und er hatte tatsächlich Elyon gerettet. Mithilfe seiner Gabe. Wenn dies auch Jesko retten konnte, musste er seine Furcht dazu zwingen, still zu sein, die Zähne zusammenbeißen und Elyon unterstützen.

»Gut. Morgen. Aber nur, wenn dein Gesicht wieder etwas mehr Farbe im Gesicht hast. Du siehst aus, als wärst du gerade von den Toten auferweckt worden.«

Elyon nickte. »Wotan wird auch helfen und Cheng und James mitbringen. Wir müssen es vor den anderen geheim halten, es kann sein, dass sie nicht einverstanden sind. Aber ich will es trotzdem versuchen.«

»Gut. Ich behalte es für mich.«

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