6. Die erste Aufgabe
Mr. Sheppard hatte sich kurz nachdem er Mr. Hawkins den Anwärtern vorgestellt hatte wieder verabschiedet und hatte die Gruppe alleine mit ihm zurückgelassen.
Jack klatschte in die Hände und sagte: „Nun, ich hoffe, ihr habt alle bequeme Schuhe in eurem Gepäck. Wir machen heute einen kleinen Ausflug ins Dorf, um ein paar Besorgungen zu machen. Das kurze Stück dahin werden wir zu Fuß gehen. Ich empfehle euch außerdem eine Allwetterjacke - man kann ja nie wissen ..."
Elly sah durch eines der großen Fenster. Die grüne Umgebung war in goldenem Sonnenlicht eingehüllt und es war keine einzige Wolke am Himmel zu sehen.
„Wenn ihr aufgegessen habt, treffen wir uns in einer halben Stunde in der Eingangshalle", verkündete Jack weiter und verließ ebenfalls den Saal.
„Ein Spaziergang in den nächsten Ort soll unsere erste Prüfung sein?", wunderte Pat sich.
„Er hat nicht gesagt, welchen Weg wir dorthin einschlagen oder was das für Besorgungen sein werden", überlegte Elly laut.
„Hast du dir die Gegend mal näher angesehen?", mischte sich Kevin ein. „Es gibt hier keine hohen Berge oder Schluchten. Es gibt auch keine großen Flüsse – es wird also ein leichter Spaziergang werden. Das solltest sogar du schaffen ..."
Elly kam nicht dazu, etwas zu sagen, bevor Pat sich einmischte: „Ignoriere ihn einfach. Er hat später noch genug Gelegenheit, auch mal was Vernünftiges von sich zu geben."
„Du hast recht", seufzte Elly. „Also ich gehe jetzt in mein Zimmer, um mir eine Jacke zu schnappen. Wir sehen uns nachher."
„Alles klar. Und vergiss die Wanderschuhe nicht", lachte Pat.
Zurück in ihrem Zimmer musste Elly gar nicht lange nach der wetterfesten Kleidung suchen. Auch diese war schon für sie besorgt worden und hing im Kleiderschrank bereit.
Sie machte sich im Bad kurz frisch, wechselte die Schuhe und zog sich die Jacke über. So ausstaffiert ging sie in die Eingangshalle, wo ein Teil der Gruppe bereits auf den Ausflug wartete.
Jack kam schließlich mit dem Rest der Anwärter an und dirigierte die Wartenden sofort nach draußen. Mit zügigen Schritten ging er voran und die ersten Meter kam noch jeder gut mit. Doch dann begann sich die Gruppe aufzutrennen und Elly musste feststellen, dass sie im hinteren Drittel gerade so mithalten konnte. Pat war auf der gleichen Höhe wie sie.
„Kanntest du Kevin schon vorher?", wollte Elly wissen.
Pat schüttelte mit dem Kopf. „Nein, aber es gibt leider einige Typen wie ihn. So lange Daddy hinter ihnen steht und alles bezahlt, haben sie alle eine große Klappe."
„Aber ich dachte, du kommst aus ähnlichen Verhältnissen?"
„Nicht ganz. Kevins Familie war schon immer reich. Meine Eltern mussten sich ihren Reichtum selbst aufbauen und sind manchmal noch genauso sparsam, wie sie es von meinen Großeltern gelernt haben. Sie haben mich auf eine gute Schule geschickt, weil Bildung ihnen wichtig war. Aber als alle anderen von ihren Eltern ein Boot bekommen haben, habe ich eben keines bekommen."
„Das tut mir leid ...", antwortete Elly mit einem schiefen Lächeln.
„Ja ich weiß, das klingt wirklich nach Jammern auf hohem Niveau. Wie war es bei dir?"
„Oh ich hatte als kleines Kind mal so ein Aufziehboot für die Badewanne ..."
„Ja und sonst? Du hast gesagt, dass du nicht studierst."
„Das hast du dir gemerkt?", entgegnete Elly und fragte sich gleichzeitig, ob sie wirklich die Einzige in der Gruppe war, die nicht studierte. Sie zuckte mit der Schulter und sagte knapp: „Ich habe mich halt dagegen entschieden", dabei hoffte sie, dass Pat nicht weiter nachhaken würde.
„Na, vielleicht ist das hier deine Gelegenheit, dich umzuentscheiden", strahlte sie.
„Wir werden sehen, wie sich das entwickelt", teilte Elly noch nicht den Optimismus ihres Gegenübers.
Manche aus der Gruppe beschwerten sich schon über den langen Weg, als endlich ein paar Häuser in Sichtweite kamen. Als sie sich näherten, erkannten sie, dass dies das Dorf war, zu dem Jack sie bringen wollte.
Er ließ die Wanderer auf einen Platz in der Mitte der kleinen Ortschaft halt machen. Jeder hatte die Gelegenheit, kurz etwas zu trinken, bevor er das Wort an sie richtete.
„Wie ihr wisst, sind wir nicht hierher gekommen, nur um gleich wieder abzuhauen. Wir werden jetzt Paare bilden und jedes soll einen Zettel mit einer Aufgabe ziehen", er hielt einen kleinen Beutel hoch und zeigte dann auf Kevin. „Da wir eine ungerade Anzahl Anwärter haben, gehe ich mit dir. Bei dem Rest geht es somit auf. Du darfst als Erster ziehen." Er ging zum Angesprochenen herüber und streckte ihm den geöffneten Beutel hin. „Übrigens dürft ihr die Aufgaben nicht tauschen. Aber keine Angst, es ist nichts Unlösbares dabei. Ihr könnt gleich loslegen, sobald ihr euren Zettel habt."
Pat krallte sich an Ellys Arm, um klar zu machen, dass sie mit ihr ein Paar bilden wollte. Jack kam bei ihnen als Letztes mit seinem Beutel an, sodass nur noch ein Zettel enthalten war.
Elly entfaltete das kleine Papier. Dabei fiel ihr ein zweites entgegen, welches sie erstmal dahinter legte. Sie las das Erste gerade laut genug vor, damit Pat es hören konnte. „Geht mit dem beigelegten Abholschein in die Buchhandlung und holt die Bestellung ab. Das Buch ist bereits bezahlt."
„Das ist alles?", fragte Pat. „Das klingt danach, als wären wir heute einfach nur Mr. Sheppards Laufburschen."
„Ich sehe auch noch nicht, was daran eine Prüfung sein soll", murmelte Elly und entfaltete den zweiten Zettel. Dieser war nur mit „Abholschein Nr. 1024" beschriftet. „Das scheint wirklich alles zu sein."
Pat blickte um sich und zeigte dann auf das hintere Ende des Dorfplatzes. „Der Laden ist nicht mal sonderlich versteckt. Das dahinten müsste er schon sein."
„Na dann dürfte das ja bald erledigt sein", sagte Elly und machte sich auf dem Weg. Das Geschäft befand sich in einem Haus, das zwischen zwei anderen gerade zu eingequetscht war. Die ganze Häuserzeile war in sich leicht schief, ebenso wie das Dach des Ladens. Die Außenwände waren aus grauem Naturstein gemauert.
Das Schild über dem Laden trug nur die Aufschrift „Bücher". Die Ortschaft war klein genug, sodass es wohl kein zweites Geschäft mit dem gleichen Sortiment gab. Die in den beiden schmalen Schaufenstern links und rechts von der Holztür aufgestapelten Werke ließen erahnen, dass sich der Eigentümer auf gebrauchte Bücher spezialisiert hatte. Elly glaubte, schon außen den muffigen Geruch alten Papiers und Leders riechen zu können. In das leicht verwitterte Holz der Eingangstür war ein Blumenmuster eingeschnitzt.
Pat folge ihr auf den Fersen, als sie nach dem Türknauf griff und die Tür mit einem sanften Ruck aufschob.
Eine Klingel ertönte und kündigte die beiden Kundinnen an.
Von außen konnte Elly noch nichts vom Inneren erkennen. Das Licht im Laden war im Gegensatz zum Sonnenlicht draußen viel zu schwach.
Mit dem Abholzettel in der Hand machte sie einen Schritt nach vorne. Kaum hatte ihr rechter Fuß die Schwelle überschritten, spürte sie am Rest ihres Körpers einen Sog, der sie unaufhaltsam in das Dunkel hinein beförderte.
Sie stolperte beinahe, als es vorbei war, und spürte, wie Pat in sie hineinlief. Sie blinzelte, um ihre Augen an das neue Umgebungslicht anzupassen, und wurde fast geblendet, als sie sie schließlich öffnete.
Ihr strahlte heller Sonnenschein entgegen. Sie wurde von einer frischen Brise umweht, die nach Blumen duftete. Nach weiterem Blinzeln erkannte sie, dass sich vor ihr eine in allen Farben leuchtende Blumenwiese erstreckte.
Sie und Pat standen auf einem Hügel und das Blumenmeer reichte hinunter bis ins Tal. Schmetterlinge schwirrten emsig umher und ließen sich nicht von den beiden Neuankömmlingen beirren.
„Siehst du das, was ich sehe?", fragte Pat leise.
Elly nickte langsam. „Ja."
„Das kann doch nicht sein! Was haben die in unser Frühstück getan?", begann Pat sich aus ihrer Starre zu lösen.
„Wir sollten zu Jack zurückgehen und ihn genau das fragen", beschloss Elly und drehte sich um.
Hinter ihnen war jedoch nicht die Wand mit den Schaufenstern. Stattdessen standen sie vor einer niedrigen Hütte. Nichts deutete auf den Buchladen hin, bis auf die Holztür, die mit den gleichen floralen Schnitzereien versehen war.
Sie nahm den Knauf fest in die Hand und rüttelte an der Tür. Doch diese bewegte sich kein Stück.
„Sie ist abgeschlossen!"
„Das heißt, wir sind eingesperrt?"
„Es sieht zwar mehr nach ausgesperrt aus, aber ja."
Pat schüttelte mit dem Kopf und rüttelte nun an dem kleinen quadratischen Fenster, das einen Meter neben der Tür in die Wand eingelassen war.
„Das geht auch nicht auf!", beschwerte sie sich. Sie sah sich auf dem Boden um und fand einen Stein. Diesen nahm sie in die Hand und pfefferte ihn auf das Fenster.
Der Stein prallte an dem Glas ab und fiel nutzlos zu Boden.
„Das gibt es doch nicht!", wurde Pat lauter. „Was machen wir jetzt?"
Elly runzelte die Stirn und sagte: „Ich weiß es nicht, aber Gewalt scheint hier keine Lösung zu sein."
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