4. Der Hausherr
Elly folgte Mr. Winterbottom die Treppe hinauf zur Galerie und durch die einzige Tür, die von dort oben aus dem Saal hinausführte. Dahinter verbarg sich ein langer Gang. Der Butler deutete gleich auf die erste Tür auf der linken Seite.
„Dies ist das Büro unseres Hausherren, Mr. Sheppard", erklärte er. „Er ist bereits drinnen und erwartet Sie."
Elly nickte und legte gleich ihre Hand auf die goldfarbene Türklinke. Sie wollte diese Begegnung schnell hinter sich bringen und endlich erfahren, was es mit all dem auf sich hatte.
Mr. Winterbottom zog eine Augenbraue nach oben und legte den Kopf schief. Als Elly das sah, erinnerte sie sich daran, dass es wohl angebracht wäre, vorher anzuklopfen, statt direkt hineinzustürmen.
Eilig klopfte sie zweimal und war sich erst nicht sicher, ob sie laut genug gewesen war. Eine männliche Stimme hinter der Tür bat sie schließlich herein.
Sie stieß all ihre Luft aus und drückte die Türklinke hinunter, um sogleich die dunkle Holztür weit genug aufzustoßen, damit sie hindurch schlüpfen konnte. Mr. Winterbottom blieb abwartend im Gang stehen und nickte ihr kurz zu, bevor sie die Tür wieder schloss.
Gegenüber der Tür gab es einen Erker mit großen Fenstern, die einen tollen Blick auf die grüne Landschaft preisgaben. An der Wand zu Ellys Linken gab es ein Fenster, das in den Ballsaal zeigte.
Das waren also keine einfachen Spiegel, die ich vom Saal aus gesehen hatte, fuhr es Elly durch den Sinn. Es ist fast wie im Krimi.
Auf der anderen Seite des Raumes gab es ein Bücherregal, dass die Wand in voller Länge und Höhe einnahm und aus einem ähnlich dunklen Holz wie die Tür gefertigt war. Auch die restlichen Möbel waren in diesem Farbton gehalten.
Vor dem Erker war ein massiver Schreibtisch platziert. Der Sessel dahinter war gerade in Richtung des Ballsaals gedreht und die Ohren an der Rückenlehne verbargen den Blick auf den Menschen, der darin saß.
„Guten Abend, Ms. Harrison", sagte der Mann und drehte sich mit dem Stuhl zu ihr um. Sein ergrautes Haar war noch voll und sein Gesicht war umrahmt von einem gepflegten Vollbart. Seine Augen strahlten eine Freundlichkeit aus, die von seinen Lachfalten betont wurde. Gekleidet war er in einem dunkelblauen Anzug, mit einem hellen Hemd und einem seidenen Einstecktuch in der gleichen Farbe.
Er streckte seine Hand aus und sie schüttelte sie vorsichtig. Sein Griff war kraftvoll.
„Ich bin William Sheppard und ich freue mich, dass Sie heute herkommen konnten", stellte er sich vor. „Bitte, setzen Sie sich doch!" Er zeigte auf einen der Besucherstühle vor dem Schreibtisch.
Zögernd kam Elly der Aufforderung nach. „Warum haben Sie mich hierher eingeladen?", platzte es aus ihr heraus.
Er hatte sich zeitgleich mit Elly wieder hingesetzt und lehnte sich jetzt in seinem Stuhl zurück. Er legte die Fingerkuppen aneinander.
„Ich suche immer wieder junge Menschen mit einem besonderen Potential, die mich und meine Organisation unterstützen können."
„Was für eine Organisation ist das?"
„Das kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Ich möchte Sie zunächst näher kennenlernen."
„Ich glaube, Sie wissen eh schon mehr über mich als ich über Sie", stellte sie missmutig fest.
Mr. Sheppard schmunzelte leicht. „Das mag wahr sein. Aber ich versichere Ihnen, dass ich Ihnen nichts Böses anhaben will."
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Und von was für einem Potential reden Sie? Wie kommen Sie darauf?"
„In Ihrem Stammbaum hat es bereits mehrere Personen mit speziellen Eigenschaften gegeben."
Er meint mit Sicherheit nicht meinen Stammbaum mütterlicherseits.
„Aber wie kommen Sie darauf, dass ich diese geerbt haben könnte? Wie können Sie sich da so sicher sein?"
Er lehnte sich nach vorne und stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Tischkante ab, während er sich einen Moment lang mit der Hand durch den Bart strich, so als überlege er, was er ihr erzählen will.
„Nennen wir es einfach Bauchgefühl", antwortete er schließlich knapp.
Diese Antwort war immer noch völlig unzureichend für Elly. Daher wollte sie weiter nachbohren. „Und dieses Bauchgefühl hat bei mir zugeschlagen? Was ist mit den anderen da draußen?"
„Manche von ihnen werde ich direkt nach Hause schicken lassen. Andere werden gemeinsam mit Ihnen noch ein paar Tage bleiben. Natürlich nur, wenn sie es so wollen."
„Und was passiert in der Zeit?"
„Sie alle werden ein paar Prüfungen unterzogen. Keine Sorge, keine davon wird gefährlich sein. Es geht nur darum, herauszufinden, welcher Art Ihre Eigenschaften sind. Sie können dabei jederzeit entscheiden zu gehen."
„Und was passiert, wenn sich Ihr Bauchgefühl als Irrtum erweist?"
„Dann werden Sie in Ihr gewohntes Leben zurückkehren. Sie werden für den Aufwand der Reise entlohnt. Mehr kann ich in dem Fall jedoch nicht für Sie tun."
Wann gibt er mir endlich echte Antworten?
„Mr. Winterbottom hat erwähnt, dass Sie etwas über meinen Vater wissen. Kennen Sie ihn?"
„Das ist ein Gespräch, das ich gerne zu einem anderen Zeitpunkt mit Ihnen führen würde."
„Also wahrscheinlich nie", stieß sie ihren Frust aus.
„Das habe ich so nicht gesagt", blieb Mr. Sheppard geduldig. „Aber jedes Wort, dass ich Ihnen über ihn erzählen könnte, würde im Moment nur noch mehr Fragen aufwerfen. Und da Sie schon einen langen Tag hatten, ist es vielleicht besser, wenn wir uns dafür an einem anderen Tag mehr Zeit nehmen."
„Sie können mir aber etwas brauchbares über ihn erzählen?"
„Ich kann Ihnen helfen, Klarheit zu erlangen, ja", bestätigte er.
Elly atmete tief ein und stieß sämtliche Luft wieder aus.
„Und was passiert, wenn Sie feststellen, dass Ihr sogenanntes Bauchgefühl richtig ist?"
„Dann werden Sie die Gelegenheit haben, Teil meiner Organisation zu werden."
„Und wenn ich das nicht will?"
„Wie gesagt, es steht Ihnen jederzeit frei, zu gehen. Aber diesen Schritt sollten Sie sich gut überlegen. Sie bekommen nicht nur die Gelegenheit, mehr über sich selbst zu erfahren, sondern auch ihr volles Potential auszuschöpfen. Sie werden unglaubliche Dinge vollbringen können." Seine Augen funkelten verheißungsvoll, als er dies sagte.
„Was für Dinge?"
„Gedulden Sie sich. Unsere einzige Bedingung ist, dass Sie uns vertrauen. Wenn Sie akzeptieren, dass wir Sie darin unterrichten, Ihre Fähigkeiten zu gebrauchen und sich bedingungslos in die Gemeinschaft einbringen, werden Sie die Welt schon bald mit anderen Augen kennenlernen."
„Das klingt schon nach einer Sekte", murmelte sie und blickte durch das Fenster in den Saal.
„Wir sind keine Sekte", versicherte Mr. Sheppard. „Geben Sie uns eine Chance und Sie werden verstehen, wer wir sind."
Elly straffte die Schultern. „Ich würde gerne eine Nacht darüber schlafen."
„Selbstverständlich. Wir sehen uns dann morgen gleich nach dem Frühstück."
Sie stand auf und er reichte ihr zum Abschied noch einmal die Hand.
„Ich verspreche Ihnen, dass in den nächsten Tagen einiges klarer wird", sagte Mr. Sheppard, als Elly gerade die Tür erreicht hatte und die Klinke runterdrücken wollte.
„Ich hoffe es", antwortete sie und schlüpfte durch die Tür in den Gang, in dem Mr. Winterbottom immer noch abwartend stand.
Der Butler ging an ihr vorbei und streckte den Kopf durch die Tür. Er schien seinen Hausherren nur anblicken zu brauchen, um zu wissen, wie das Gespräch ausgegangen war.
„Sie bleiben also noch. Das freut mich sehr. Soll ich Sie zurück auf das Fest geleiten oder möchten Sie in ihr Zimmer?"
Sie blickte kurz in Richtung der Tür, die zurück zum Ballsaal führte. Der Gedanke an das Getümmel erzeugte Unwohlsein in ihr.
„Ich möchte in mein Zimmer."
„Sehrwohl, ich zeige Ihnen den Weg."
Wortlos ging der Butler durch den Gang voran und Elly folgte ihm ebenso stumm.
„Ich wünsche Ihnen eine erholsame Nacht", sagte der alte Mann, als die beiden schließlich vor Ellys Zimmertür standen.
„Danke, Ihnen auch", erwiderte sie knapp und ging eilig hinein.
Sie überlegte, was jetzt ihre nächsten Schritte sein würden.
Als erstes muss ich aus diesem Kleid raus, ohne es kaputt zu machen, entschied sie.
Nachdem sie das Kleid ausgezogen hatte, hängte sie es wieder ordentlich auf den Bügel und an den Haken am Kleiderschrank. Aus ihrem Rucksack zog sie eine schlabberige Jogginghose und ein weites T-Shirt.
So angezogen fühlte sich die Welt zumindest ein wenig vertrauter an.
Mel wollte, dass ich ihr von allem erzähle, fiel ihr als Nächstes ein. Sie nahm ihr Smartphone in die Hand und erschrak ein wenig über die späte Uhrzeit. Sie wollte Mel nicht mit einem Anruf wecken, also versuchte sie, ihre Erlebnisse in ein paar Textnachrichten zusammen zu fassen. Als sie alle abgesendet hatte, legte sie das Smartphone beiseite, denn sie rechnete heute nicht mehr mit einer Antwort.
Dabei hätte ich gerne von ihr gewusst, ob sie glaubt, dass ich mich vielleicht besser noch vor dem Frühstück verabschieden sollte. Welches Potential soll ich schon haben? Außer dass sich Typen wie Kevin über mich das Maul zerreißen können.
Sie versuchte, sich mit der Hand die Müdigkeit aus dem Gesicht zu wischen, doch das wollte nicht gelingen. Also schlurfte sie in das angrenzende Bad, um sich für die Nacht zurechtzumachen.
Aber Pat scheint zumindest in Ordnung zu sein. Ob sie auch bleiben darf?, überlegte sie, während sie am Ende dieses langen Tages unter die Bettdecke schlüpfte und das Licht ausmachte.
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