1. Ein hübscher Brief

Es war schon viel später am Abend, als Elliott es heute geplant hatte. Doch ihr Chef im Diner hatte sie gebeten, am Nachmittag noch eine zweite Schicht dran zu hängen, um eine Kollegin zu vertreten. Zwei volle Schichten zu arbeiten konnte sehr anstrengend sein, doch das zusätzliche Geld war ihr mehr als willkommen. Jedes bisschen half, um über die Runden zu kommen.

Mit einem leisen Seufzer zog sie den Stapel Briefe aus dem Kasten, bevor sie die Stufen hoch zu ihrer Wohnung ging.

Sie erwartete nichts anderes als Rechnungen und Werbepost. Eigentlich hatte sie keine Lust, sich das näher anzusehen, doch sie kniff die Lippen zusammen, setzte sich an den kleinen Küchentisch und begann die Umschläge zu sortieren.

Tatsächlich waren ein paar Rechnungen dabei, die sie auf einen separaten Stapel legte. Sie wollte sich die Zahlen am nächsten Tag genauer ansehen, um zu sehen, ob sie diesen Monat das Nötigste bezahlen konnte oder ob sie weitere Extra-Schichten einlegen musste.

Verlockend waren auch die Werbebriefe, die ihr neue Kreditkarten anboten. Diese warf sie in den Mülleimer. Ein paar der offenen Rechnungen mit einer neuen Kreditkarte umzuschulden klang zwar nach einer guten Lösung, doch gab es in dem Haushalt bereits genug Schulden, die eben auf diese Weise entstanden waren.

Ein Umschlag fiel ihr besonders ins Auge. Er war schwarz, eine goldene Linie bildete einen Rahmen und die einzige Beschriftung in hübschen Buchstaben war ihr Name: Elliott Harrison.

Der Inhalt des Umschlags war eine Karte aus festem, beigem Papier. Eine zierliche, schwarze Linie bildete einen Rahmen, der an der unteren Kante ein Wappen umschlang.

Sie las die in kursiver Handschrift verfasste Beschriftung:

Einladung zum Empfang im Herrenhaus

1. Februar – 20:00 Uhr

Abendkleidung

Mit hochgezogenen Augenbrauen wendete sie das Papier, doch auch auf der Rückseite gab es keinen Hinweis auf den Absender der Einladung.

Das Wappen auf der Vorderseite hatte sie noch die zuvor gesehen. Und sie kannte niemanden, der zu einem Empfang einladen könnte. Erst recht nicht in einem Herrenhaus.

Das ist entweder ein Scherz oder es liegt eine Verwechselung vor, dachte sich Elliott.

Ich sollte das einfach ignorieren. Aber auch wenn es nicht echt ist, so eine schöne Karte werde ich wohl so schnell nicht wieder bekommen, seufzte sie lautlos und stand von ihrem Stuhl auf. Sie nahm einen Magnet vom Kühlschrank und heftete die Karte damit an der Tür an.

Jetzt, als sie stand, erinnerten ihre Füße sie daran, dass ihr Tag bereits viel zu lang gewesen war, und sie beschloss ins Bett zu gehen.

Am nächsten Morgen hatte Elliott gerade Kaffee aufgesetzt, als es an der Wohnungstür klopfte. Ihre beste Freundin Mellany stand davor und brachte zwei Muffins mit.

„Hi, Elly. Ich dachte, du könntest was Leckeres zum Frühstück gebrauchen", begrüßte ihre Freundin sie. „Sie waren gestern nach meiner Schicht in der Bäckerei übrig. Du brauchst also kein schlechtes Gewissen haben, dass ich dich damit zu sehr verwöhnen könnte."

„Hallo Mel, du kommst damit sehr gelegen. Komm rein!", antwortete sie und ging voraus in die Küche.

Der Kaffee war inzwischen fertig und sie stellte zwei Tassen auf den Tisch um sich und Mellany einzuschenken. Dazu stellte sie gleich zwei Teller.

„Hast du Milch da?", fragte Mel.

„Ja, bedien dich ruhig."

Mellany ging zum Kühlschrank, blieb vor dessen Tür stehen und beäugte neugierig die Einladung.

„Ist die für dich oder deine Mutter?", staunte sie.

„Auf dem Umschlag stand mein Name", erklärte sie mit einem Schulterzucken.

„Und von wem ist die? Gibt es da jemanden, von dem ich wissen sollte?", zwinkerte sie.

„Nein, es gibt niemanden. Ich weiß nicht, von wem die ist. Wahrscheinlich hat da jemand was verwechselt."

„Hattest du ein Date, von dem du mir nichts gesagt hast? Hast du ihn möglicherweise beeindruckt und jetzt will er damit auspacken, dass er mehr drauf hat, als er zeigen wollte?", spekulierte Mel weiter.

„Ich hatte kein Date."

„Warum nicht?"

„Du weißt, dass das nichts für mich ist."

„Meine Meinung ist immer noch, dass das was für jeden ist. Du musst mal unter die Leute. Du wirkst ja schon ganz abgespannt."

„Ich bin jeden Tag unter Leuten."

„Ich meine aber nicht an einem Ort, an dem du eine Uniform trägst und irgendwelche Leute bedienst. Du musst mal was Schönes machen."

Elly schüttelte den Kopf. „Dafür habe ich im Moment keinen Nerv. Es gibt Rechnungen, die ich bezahlen muss."

„Kann nicht einen Teil davon deine Mutter übernehmen? Sie kann sich doch auch mal aufraffen", protestierte Mel.

„Nein, das funktioniert nicht."

Sie hatte ihre Mutter in den letzten Tagen noch nicht einmal gesehen, obwohl sie unter einem Dach wohnten.

Vermutlich ist sie mit ihren Bekannten unterwegs. Wer weiß, wann ich überhaupt mal mit ihr reden kann, dachte Elly missmutig und versuchte, sich abzulenken, indem sie vorsichtig das Papier von ihrem Muffin knibbelte.

„Verstehe", lenkte Mel kleinlaut ein. „Vielleicht können wir am Wochenende zumindest einen Filmabend machen?"

„Das klingt gut", stimmte Elliott zu. „Am besten am Freitag. Wir backen uns am Abend eine Pizza und nehmen dann das Wohnzimmer in Beschlag", begann sie den Plan weiter zu schmieden.

„So machen wir das!", freute Mel sich. „Ich bringe die Filme mit. Und deine Einladung ist für Samstag. Die könntest du also auch wahrnehmen", zwinkerte sie.

Elly rollte mit den Augen. „Das werde ich mit Sicherheit nicht. Sollte es keine Verwechselung sein, wollen sie mir bestimmt etwas andrehen. Ich habe nicht genug Geld, um auf ein Time-Sharing-Angebot reinzufallen. Oder sie wollen mich in eine Sekte locken", versuchte Elly scherzhaft eine Erklärung zu finden.

„Na das werden wir zu verhindern wissen!", lachte Mel.

*****

Ein paar Tage später hatten die beiden jungen Frauen ihren Filmabend sehr genossen. Es war spät geworden und Mel blieb über Nacht und schlief auf der Couch im Wohnzimmer.

Am Morgen danach hatte Elly gerade geduscht. Sie zog sich eine kurze Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt über, band ihre Haare zu einem lockeren Dutt und war gerade auf dem Weg in die Küche, als es an der Tür klingelte.

„Ich mach auf!", rief Mel.

Bestimmt der Postbote, dachte Elly und machte sich daran, Kaffee aufzusetzen.

Mel kam mit großen Augen zu ihr in die Küche. „Du glaubst nicht, wer vor der Tür steht!"

„Wer?"

„Sieh selbst!"

Elly schaltete noch schnell die Kaffeemaschine ein und ging dann zur Wohnungstür.

Davor wartete geduldig ein älterer Mann. Er trug einen schwarzen Anzug und ein blütenweißes Hemd. Seine Schuhe waren so ordentlich poliert, dass man sich fast darin spiegeln konnte.

„Guten Tag, Ms. Harrison."

„Hallo", antwortete Elly unverbindlich.

„Mein Name ist Albert Winterbottom", stellte sich der Mann seelenruhig vor. „Ich wurde geschickt, um Sie zum Empfang im Herrenhaus meines Herrn abzuholen."

„Da müssen Sie etwas verwechselt haben. Ich wüsste nicht, warum mich jemand in ein Herrenhaus einladen sollte."

„Gewiss wissen Sie das nicht. So geht es den meisten. Sie werden es erfahren."

„Ich habe auch keine passende Kleidung für so eine Veranstaltung", versuchte Elly einen weiteren Grund zu nennen, die Einladung nicht anzunehmen.

„Wir fahren früh genug los, um noch halt bei einem Modegeschäft zu machen. Dort können wir Ihre Garderobe entsprechend ergänzen", antwortete er gelassen.

Elly sah im Augenwinkel, dass Mel sich in der Nähe positioniert hatte und dem Gespräch aufmerksam folgte.

„Und wo ist dieses Herrenhaus?"

Mr. Winterbottom blickte mit einem Auge zu Mel und sagte dann. „Das darf ich Ihnen hier nicht verraten. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass Ihnen kein Leid zugefügt werden wird."

„Nennen Sie mir einen vernünftigen Grund, warum ich Ihnen das glauben sollte? Warum sollte ich mit einem fremden Menschen zu einem fremden Ort fahren?"

„Ich verstehe Ihr Misstrauen. Doch bei dem Empfang wartet eine Gelegenheit auf Sie, die einzigartig ist."

„Sie kauft nichts!", warf Mel ein.

„Sie braucht auch nichts kaufen."

„Und Sie geht in keine Sekte! Oder in irgendein ominöses Life-Coaching-Programm."

Der Alte trat einen Schritt näher an Elly heran und sprach in einem leiseren, geheimnisvollen Ton. „Auf dem Empfang gibt es so viel für Sie über sich und die Welt zu entdecken. Es wäre bedauerlich, wenn Sie diese Möglichkeit nicht nutzen würden.

Elly verschränkte die Arme und mahlte mit dem Unterkiefer. Ich könnte ihn einfach rausschubsen, die Tür zuknallen und wenn er dann nicht geht, die Polizei rufen.

„Sie haben Ihren Vater noch nie gesehen, oder? Vielleicht können wir Ihnen dabei helfen", machte Mr. Winterbottom ein weiteres Angebot, das Elly zum Grübeln brachte.

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