... und zweitens, als man denkt.
Dieses extralange Kapitel widme ich @AlexaKluby, die Rhys und Arwen seit Neuestem begleitet. Ich freue mich riesig, dass du meine Geschichte beim Ein-Kapitel-Buchclub so toll fandest, um dabei zu bleiben. 💕📚
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Stille!
Was für eine angenehme, friedliche Stille. Wenn doch auch in seinem Kopf endlich Stille einziehen würde. Ruhelos wälzt sich Rhys auf der schmalen Pritsche herum. Sein Arm streift den niedrigen geschmiedeten Dreifuß neben dem Bett und die flache Kupferschale darauf gerät ins Wanken. Nur der schwere tönerne Wasserkrug verhindert ein Umkippen des ganzen Gebildes. Blinzelnd begutachtet Rhys den möglichen Schaden. Die heißen Steine sind abgekühlt, der restliche Inhalt glimmt kaum noch. Beruhigt lässt er sich wieder in die weichen Felle sinken. Vereinzelte Sonnenstrahlen dringen spärlich durch den Stoff der verhängten Fenster. Er will sich diesem Tag nicht stellen. Lieber möchte er sich hier im Turm verkriechen. Heute. Morgen. Die nächsten hundert Jahre.
Ein Klappern im Erdgeschoß lässt ihn verärgert aufstöhnen. »Muss ich erst noch irgendein bedauernswertes totes Tier an die Tür nageln, um mal meine Ruhe zu haben?«, brüllt er dem störenden Eindringling entgegen.
»Dir auch einen guten Morgen«, flötet es auf der Treppe. Arwen! Wer sonst würde die warnenden Runen einfach ignorieren. Ein schmerzliches Sehnen durchzieht seine Brust. Die Leichtigkeit, die ihm Martins wohlgehütete Schätze verschafft haben, schwindet dahin.
Ein Stockwerk tiefer scheppert und raschelt es. »Mistiger Zwergenbau«, hört er Arwen schimpfen. Kurz darauf erscheint ihre hochgewachsene Gestalt im Zwielicht. Mit fahrigen Bewegungen zieht sie sich einzelne Kräuterstrünke aus den Haaren und putzt sich die zerbröselnden Reste vom Kleid. Der Mönch wird sich freuen.
»Was machst du hier im Dunkeln?«, fragt sie und tapst etwas unsicher in den dämmrigen Raum.
»Meine Sache«, knurrt Rhys in der Hoffnung, dass sie wieder geht, bevor sie das Eingeständnis seiner Schwäche bemerkt. Arwen dreht sich tatsächlich um, doch nur, um den Vorhang vom Fenster zu ziehen. Hell flutet der angebrochene Tag herein und vertreibt die letzten trostspendenden Schatten. Protestierend legt er sich den Arm auf die Augen. »Mach das gefälligst wieder zu!«
»Nein.«
»Wie, nein?« Rhys begeht den Fehler, den Arm vom Gesicht zu ziehen. Fauchend kneift er die geblendeten Augen zusammen.
»Du kannst nicht einfach den Tag hier oben verschlafen! Du bist schließlich der Burgherr.« Mit vor der Brust verschränkten Armen tritt sie an sein behelfsmäßiges Lager.
Schnaufend setzt Rhys sich auf und stopft sich ein zusammengerolltes Schaffell hinter den Rücken. »Genau deshalb kann ich das sehr wohl!« Unbewusst nimmt er die gleiche Pose wie Arwen ein und starrt sie grimmig an. Das Morgenlicht umhüllt sie mit einen goldenen Schimmer. Er kann sich nicht sattsehen. So schön, so außergewöhnlich und so einzigartig.
Ihr hübscher Mund öffnet sich, doch dann scheint sie es sich anders zu überlegen. Mit gerunzelter Stirn betrachtet sie schnüffelnd die verkohlten Überreste in der kleinen Feuerschale neben ihm, deren leicht süßlicher Geruch im Raum hängt.
»Sag mal ...« Ihre fein geschwungenen Augenbrauen ziehen sich fragend nach oben. »Ich glaub's ja nicht! Wir haben da draußen Katastrophenalarm und du machst es dir hier mit Mary Jane gemütlich?«
Rhys versteht ihre Entrüstung nicht. Er hat keine andere Frau auch nur eines Blickes gewürdigt! Überhaupt, was weiß so ein zauberhaftes Wesen schon vom Kummer eines einfachen Sterblichen? Mehr Beachtung schenkt er ihrem temperamentvoll bebenden Busen. Ist sie nicht ein Geschenk höherer Mächte? Er schnappt sich die weiten Falten ihres Rockes und zieht sie zu sich herunter. Doch sie windet sich aus seinem Griff und schlägt ihm auf die Finger.
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»Lass das! Hör mir lieber zu. Du wirst ganz dringend gebraucht!« Ich könnte aus der Haut fahren. Hat sich denn alles gegen mich verschworen?
»Na, das höre ich doch gern.« Rhys' sinnliche Lippen verziehen sich zu einem sündigen Lächeln.
»Nicht das!« Energisch schiebe ich seine forschenden Hände von mir. So sehr ich mich auch in seine Arme sehne, der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig. Und ein vernünftiges Gespräch kann ich mit dem Kerl auch nicht führen. Seine Pupillen sind so stark geweitet, dass seine geschwollenen, rotunterlaufenen Augen dämonisch schwarz wirken. Ein bekiffter Dämon, dem ich irgendwie den Ernst der Lage verklickern muss.
»Es gibt ein größeres Problem, um das du dich kümmern musst! Martin und Owain sind nur am Streiten.«
»Ach, zanken sie sich um das letzte Stück von Moiras Kuchen?« Kichernd rückt Rhys wieder näher. Seine frechen Finger langen nach meinen Haaren und er versenkt seufzend sein Gesicht darin. »Hm, du riechst so gut. Betörender als jede Blume.« Seine Lippen wandern über meine Wange und streifen meinen Mund. »Und dein Geschmack erst. Berauschender als jeder Wein.«
»Ähm, ja. Merk dir das für später. Draußen vor dem Tor steht der Erzfeind und die beiden werden sich nicht einig! Martin will Tee und Kekse servieren und Owain die Katapulte rausholen.«
Rhys reißt die Augen auf und setzt sich kerzengerade hin. Sein schläfriger Ausdruck verwandelt sich in euphorische Begeisterung. »Wir haben Katapulte?«
Jetzt reicht es mir. Ich greife zum Wasserkrug und kippe ihn schwungvoll über Rhys aus. Zumindest hält die Dusche ihn auf Abstand.
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»Was soll das denn?«, schimpft Rhys und schüttelt sich wie ein nasser Hund. Dass sie von ihm enttäuscht ist, kann er sich denken, aber muss sie es auf solch erniedrigende Weise ausdrücken?
Von Arwen erhält er keine Antwort. Mit verkniffener Miene wartet sie ab. Wovon hatte sie vorhin gesprochen? Angestrengt versucht er, sich zu erinnern. »Wer steht vorm Tor?«
»Irgendwelche Reiter!« Aufgeregt gestikuliert sie mit ihren Armen. »Gladys hat nervige Nachbarn erwähnt und Owain sprach von einem normannischen Gierschlund. Mehr weiß ich auch nicht!«
Rhys massiert sich die Nasenwurzel, um einen aufkommenden Kopfschmerz zu unterdrücken. »Welche Farben tragen sie? Hast du ein Wappen gesehen?«
»Pfff...« Sie zieht eine beleidigte Schnute. »Woher soll ich das wissen? Die haben mich nicht auf den Wehrgang gelassen. Am liebsten wollten mich alle in mein Kämmerchen wegsperren. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ist das eine rhetorische Frage?« Er kann ein Grinsen nicht unterdrücken und sie boxt ihm kräftig gegen die Schulter. Entschuldigend hebt er die Hände. »Schon gut, schon gut.« Rhys lehnt sich zurück und schließt die Augen. Wenn er Arwen nicht anfassen darf, will er sie auch nicht sehen müssen. Doch sie lässt ihn nicht in Ruhe, sondern rüttelt energisch an seinem Bein.
»Wie jetzt? Willst du in der Angelegenheit nichts unternehmen?«
Er macht sich nicht die Mühe, aufzusehen. »Martin und Owain bekommen das ohne mich besser hin.«
»Die Drogen haben dir das Hirn vernebelt. Du redest dummes Zeug!«, widerspricht ihm Arwen.
Rhys setzt sich ruckartig wieder auf. »Genau! Nur dummes Geschwätz habe ich von mir gegeben. Du hast sofort erkannt, wie falsch das alles war. Es hätte nicht viel gefehlt und diese Halbwüchsigen wären meinem Rachedurst zum Opfer gefallen! Und keiner hat was gesagt, weil sich alle vor mir fürchten. Haben sie dir die Geschichten nicht erzählt? Vom Mensch gewordenen Untier, welches im Bündnis mit dunklen Mächten steht?«
Ihre Gesichtszüge werden weich und sie flüstert: »Du bist kein Untier, Rhys. Du hast den Menschen hier ihr Zuhause zurückgegeben.«
Doch ihre liebgemeinten Worte überzeugen ihn nicht. Zu lange schon nagen Schuldgefühle und Zweifel an seiner Seele. »Ich habe meinen eigenen Cousin aufgeschlitzt und an den Zinnen aufgehängt!«
Arwen verzieht das Gesicht. »Kein Kopfkino bitte! Darüber reden wir ein andermal. Im Moment bist du höchstens ein völlig zugedröhntes Monster. Und wir brauchen jetzt eine entschlossene, grimmig die Zähne fletschende Bestie, um diesen Normannen da draußen loszuwerden. Also beweg dich, stell die Schuppen auf und fang an zu fauchen.«
Grummelnd verdreht Rhys die Augen. Jetzt macht sie sich auch noch über ihn lustig! »Es wird nur Roderick sein. Ich habe schon damit gerechnet, dass er irgendwann hier aufkreuzt.« Er rubbelt sich übers Gesicht, um die Nachwirkungen des Rausches zu vertreiben.
»Welcher Roderick?«, fragt Arwen misstrauisch.
»Roderick Balthazar Osbert Elias Giffard. Ein echter Ritter mit glänzender Rüstung, der herbeigeeilt kommt, um dich aus den Klauen des bösen Drachens zu befreien.«
Sprachlos starrt Arwen ihn an. »Mich? Wieso das denn? Und Giffard? Ist das nicht die Familie, bei der du aufgewachsen bist?«
»Hm, der jüngste Sproß der Sippe. Mittlerweile trägt er den Familientitel. Irgendwer hat das Gerücht in die Welt gesetzt, ich hätte eine normannische Adlige entführt und nun hofft er sicher auf unsere alte Verbindung, um sich ohne große Anstrengung einer viel beachteten Jungfernrettung rühmen zu können.« Verächtlich schnalzt Rhys mit der Zunge. »Soll er doch draußen warten, bis es Speckgrieben regnet.«
»Diese ganze Aufregung ist nur wegen mir?« Nachdenklich kaut Arwen auf ihrer Unterlippe. »Warum hast du den Irrtum nicht aufgeklärt?«
»Was hätte ich denn sagen sollen? Jedes Abstreiten bauscht so eine Geschichte noch mehr auf. In der einen Variante habe ich einem Grafen in der Hochzeitsnacht die Braut gestohlen, in der anderen die jungfräuliche Tochter eines Earls aus einem schwer bewachten Turm geraubt. Passt doch ideal in das Bild, das alle von mir haben.«
Arwen schüttelt den Kopf. Unbeirrt scheint sie an das nicht vorhandene Gute in ihm zu glauben. »Das stimmt nicht. Deine Leute haben großen Respekt vor dir. Sie achten dich und sehen zu dir auf. Für die Kinder bist du ein großes Vorbild.«
»Ich bin kein verdammter Held!« Hitzig versetzt er dem leeren Krug einen derben Stoß. »Ich bin noch nicht mal ein echter Kreuzritter. Keine einzige Schlacht habe ich für unseren Glauben geschlagen!« Wieso fürchtet sie die brodelnde Finsternis in ihm nicht, die alles um ihn herum zu vergiften droht?
Stumm blickt Arwen ihn an. Er sieht das Unverständnis in ihren tiefblauen Augen und es zerreißt ihn. Tief in seinem Inneren bricht der Damm, der all seine schrecklichen Geheimnisse bewahrt. Die Worte purzeln ungehindert aus seinem Mund und offenbaren jede schändliche Wahrheit.
»Als wir in Acre ankamen, war die Belagerung der Stadt bereits erfolgreich beendet. Überall brannten Freudenfeuer und wir wurden überschwenglich begrüßt. In der Felsenfestung fand eine feierliche Zeremonie statt. Löwenherz, der englische König, erhob aus Anlass des Sieges jeden anwesenden Schildknappen in den Ritterstand. Ich weiß nicht einmal, welcher Bischof uns geweiht hat, wenn es denn überhaupt einer tat.«
Rhys traut sich nicht, nach ihrer Hand zu greifen, aus Angst, sie könnte sie ihm wieder entziehen. Doch nachdem er einmal angefangen hat, kann er auch nicht aufhören, zu erzählen.
»Wir bekamen neue Gewänder und Waffen und wurden als Männer von hohem Stand behandelt. Die Zeit des Stiefelputzens und Wasserschleppens war vorbei. Es war ein erhebendes Gefühl. Ich bin mit Roderick durch die Stadt gezogen. Alles war neu, fremd und so aufregend. Die exotischen Düfte und Speisen, die leuchtenden Farben. Überwältigende Eindrücke, wohin wir uns auch wandten. Und wir waren die Sieger. Wir hielten uns für Auserwählte und benahmen uns wie das übelste Gesindel. Außer etwas Wachdienst und der Absicherung des Wiederaufbaus gab es nicht viel zu tun. Nach kurzer Zeit sind wir jedem Laster erlegen, welches sich uns bot. Wein, Weiber, Spielsucht. Auf die Arbeiter haben wir herabgesehen, für die muslimischen Gefangenen hatten wir nur Spott und Hohn. Dann scheiterten die Lösegeldverhandlungen zwischen Richard Löwenherz und Sultan Saladin.«
Schwer atmend schaut Rhys auf seine Hände, sieht noch immer das Blut, welches unwiderruflich daran klebt.
»Fast dreitausend Männer, Frauen, Kinder – die gesamte kapitulierte muslimische Besatzung. Auf Befehl des Königs wurden alle zusammengetrieben wie Vieh. Das war keine Hinrichtung. Es war ein furchtbares Massaker. Knietief sind wir durch Blut und Leichenteile gewatet. Kein Gott kann solche Brutalität gutheißen. Und Gott hat uns verlassen. Gott hat mich verlassen. Zwei Tage später hat sich Löwenherz auf den Heimweg gemacht. Wir wurden zur Rückendeckung auf einen Patrouilleritt geschickt und gerieten in einen Hinterhalt. Jetzt waren wir die Gefangenen, die all ihre Hoffnungen in Gebete legten.«
Arwen räuspert sich leise. »Aber für euch gab es Lösegeldzahlungen?«
Ein freudloses Lachen zwängt sich aus seiner trockenen Kehle. Die Hitze der Wüste kriecht ihm brennend über die Haut. »Für die englischen Vasallen, ja. Auf einen walisischen Begleiter konnte man gut verzichten.« Mit aller Macht drängt er den aufkommenden Schmerz zurück. »Zuhause hat nie einer etwas davon erfahren und selbst wenn Vater es gewusst hätte – wir sind keine reiche Familie.«
»Ähm, warte. Sie haben für dich bezahlt.« Aufgeregt greift Arwen nach seinem Arm. »Ich habe mich am Anfang hier ziemlich gelangweilt und Dafydd hat mir so stolz die Buchführung präsentiert. 1191 wurden alle Ausgaben eingeschränkt und die verfügbaren Mittel auf einem einzigen, nicht näher bezeichneten Posten gelegt. Es hat fast drei Jahre gedauert, bis sich die wirtschaftliche Lage der Burg wieder erholt hatte. Zeitlich kommt das genau hin.«
Mit Erstaunen sieht Rhys zu ihr auf. Die Enge in seiner Brust löst sich ein wenig, doch er will das warme Gefühl nicht voreilig zulassen. »Dann ist es wohl verloren gegangen. Saladins Kerkerknechte haben trotzdem gut an mir verdient. Ich war jung und blond und mein Gewicht in Gold wert ... In der Wüste geht vieles verloren. Zuerst verlierst du deinen Namen.«
Rhys holt tief Luft. Noch nie hat er über diese Zeit gesprochen. Sein Geist schweift ab und er spürt den heißen Atem der Nefud. »In den schwarzen Zelten gab es keinen Rhys ap Kynan. Smaragd und Eisvogel hat Khalil al Jafar uns genannt, mich und Ansgar Thoralfson, einen jungen Nordländer, den das gleiche Schicksal wie mich ereilte.« Er verstummt und senkt beschämt den Blick. Arwens Hand ruht noch immer auf seinem Arm, ihr Daumen streift über seinen stolpernden Puls.
»Es ist niemals die Schuld der Opfer! Das hast du selbst zu mir gesagt. Und das betrifft dich ebenso!« Eindringlich, fast wütend redet sie auf ihn ein. Kein bedauerndes Mitleid, keine hohlen Trostphrasen. Ein weiterer, eiserner Ring um sein Herz zerspringt.
»Ich habe aufgehört, mich zu wehren«, flüstert Rhys kaum hörbar. Gleich wird die Schande alle Hoffnung auf Erlösung zerstören. Trotzdem redet er weiter. Es ist wie ein Zwang, den er nicht kontrollieren kann. »Es gab weniger Schläge wenn Jafar zufrieden war, dafür ausreichend Essen und Trinken und genügend kif, um zu vergessen.« Jafar und seine Kunden, deren Wünsche nur ein anderer Mann oder Junge erfüllen konnte. Aber das kann Rhys nicht laut aussprechen.
»Du wolltest überleben und du hast überlebt! Dieser Jafar hat keine Macht mehr über dich.«
»Ich bin mir da nicht so sicher.« Ihre leidenschaftliche Verteidigung fühlt sich verdammt gut an. Dennoch fährt Rhys mit den Händen durch seine nassen Haare und schielt schuldbewusst auf die Hanfreste in der Kupferschale.
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Tief erschüttert lausche ich seiner rauen Stimme. Mitunter spricht er so leise, dass ich ihn kaum verstehe. Es war mir zwar klar, dass ich diese Kreuzzugsache mehr als verharmlost habe, doch das Ausmaß seiner Erlebnisse übersteigt mein Vorstellungsvermögen.
Behutsam ziehe ich ihm die Hände vom Gesicht. Der Weltuntergang draußen muss sich gedulden. Dieser Moment zwischen uns ist viel zu kostbar, ich werde ihn auf keinen Fall zerstören.
»Trotzdem bist du ihm entkommen«, ermuntere ich Rhys, seine Geschichte fortzusetzen. Ich sehe ihm an, wie sehr es ihn drängt, sich den Schrecken von der Seele zu reden. Die düsteren Gefilde, in denen seine Gedanken schweifen, spiegeln sich im schmerzlichen Ausdruck seiner Augen.
»Ja, und Ansgar hat den Preis dafür gezahlt«, antwortet Rhys bitter. Geduldig warte ich ab, während er sichtlich um Fassung ringt. »Unser Zuchtmeister war sehr abergläubig und hegte eine abnorme Abscheu gegen Schlangen. Als Khalil längere Zeit fort war um ... neue Ware einzukaufen, habe ich Ansgar überredet, mir die Midgardschlange aus den mystischen Geschichten seiner Heimat auf den Leib zu zeichnen.«
Ein wehmütiges Lächeln erhellt seine angespannte Gesichtszüge. »Ansgar konnte Märchen fast so gut wie du erzählen.«
Eine Erkenntnis blinkt grell wie eine Xenon-Leuchte in meinem Kopf. Daher kommt sein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Drachentattoo. Die Idee finde ich sehr einfallsreich, allerdings graut es mir vor den Folgen, die diese Aktion für die beiden gehabt hat. »Ich vermute, dieser Sklavenhändler hat dich nicht einfach gehen lassen?«
Rhys braucht einen Moment, um sich zu sammeln. »Jafar hat getobt vor Wut. Wir wurden in die Mitte des Lagers geschleift und dort hat er uns bis aufs Blut ausgepeitscht. Ansgar wurden die Hände abgeschlagen und dann hat uns Jafar in der glühenden Sonne zum Sterben an einen Pfahl binden lassen, als Abschreckung für alle anderen, denen der Sinn nach Aufbegehren stand.«
Obwohl es hier oben angenehm warm ist, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Wie beschützt und friedlich war im Vergleich dazu mein Erwachsenwerden. »Hat Martin dich dort gefunden?«
Er zögert mit einer Antwort, weicht meinem Blick aus. Kann es denn noch Schlimmer werden? Ermutigend drücke ich seine zitternde Hand.
»Nein«, raunt er schließlich. »In der Nacht überfiel ein räuberischer Nomadenstamm das Zeltlager. Ich weiß bis heute nicht, was sie dazu bewogen hat, mich mitzunehmen und wiederaufzupäppeln.« Stöhnend legt er den Kopf in den Nacken. »Ich habe Ansgar zurückgelassen.«
Ich bezweifle stark, dass er die Möglichkeit hatte, Ansgar zu helfen. »Hattest du denn ein Mitspracherecht? In welchem Zustand hast du dich befunden, Rhys? Lass mich raten – mehr tot als lebendig?«
Widerwillig stimmt er mir mit einem knappen Nicken zu.
»Ich bin bei ihnen geblieben, bei Nasir und seiner Bande. In Wristlesham hat man mir beigebracht zu kämpfen, bei Nasir Mahmud ibn Ibrahim habe ich gelernt zu töten. Schnell, effizient, erbarmungslos. Ich war ein gelehriger Schüler. Wir haben Karawanen ausgeraubt, kleinere Ansiedlungen überfallen, Handelsposten geplündert. Niemand war vor der Geisel der Nefud sicher. Unsere Beute wurde gerecht aufgeteilt, wir haben sie für gutes Essen, noch bessere Rauschmittel und die schönsten Tänzerinnen ausgegeben. Hätte mich nicht der Pfeil eines Stadtwächters erwischt, wäre ich sicher noch immer ein skrupelloser Bandit. Nennst du das ein Vorbild?«
Seinen Bericht muss ich erst einmal sacken lassen. Aber kann ich mir anmaßen, ihn zu verurteilen? Wie viel Mut braucht es, solche Enthüllungen über sich preiszugeben?
»An dem, was du erlebt hast, wäre manch anderer zerbrochen. Du hast dein Leben geändert und einen besseren Weg eingeschlagen. Martin ist auch nicht als Heiliger zur Welt gekommen. Er war Söldner, bevor er Mönch wurde.«
»Aber er hat sich bewusst dafür entschieden. Ich habe mich nur treiben lassen.« Trotzig beißt Rhys die Zähne zusammen. »Meine Verletzung hatte sich entzündet und ich bekam Fieber. Die Beduinen wollten schnell weiterziehen und ich konnte nicht mithalten. Nasir brachte mich zur Mission der Mönche. Als es mir besser ging, wusste ich nicht mehr, wohin ich gehörte. Martin war die Hitze leid und hat mich gefragt, ob ich ihn begleiten möchte. In Strata Florida sind wir nur zufällig gelandet. Ich hatte nie die Absicht, heimzukehren. Ich hätte meinem Vater nicht in die Augen sehen können. Wir wollten unsere Vorräte auffüllen und weiter nach Norden in das Land aus Schnee und Eis. Dann treffe ich im Kloster auf meinen kleinen Bruder.«
Und auf den nächsten Schicksalsschlag. Nichts davon kann ich ungeschehen machen. Ich suche nach klugen Worten, um ihn aufzubauen, doch in manchen Momenten ist Reden fehl am Platz. Ich kann ihm nur zeigen, wie sehr mich sein Vertrauen berührt und wie viel ich von dem Mann halte, der er jetzt ist. Vielleicht hilft ihm das, seine Abscheu vor sich selbst loszuwerden.
Sanft streiche ich die feuchten Strähnen aus seiner Stirn und ich neige mich ihm entgegen. Rhys zuckt kurz zusammen, verharrt angespannt und seine Augen weiten sich ungläubig. Wie weich seine Lippen doch sind! Mein Kuss ist langsam, ohne fordernden Druck, ohne sexuelle Gier. Ich lege meine Wange an seine, schlinge einen Arm um seine Taille, umfasse mit der anderen Hand seinen Nacken und halte ihn fest. Ich kann den verlorenen Jungen nicht trösten, aber ich kann dem erwachsenen Mann Halt und Kraft anbieten.
Rhys vergräbt sein Gesicht an meinem Hals und erwidert die Umarmung. Während wir eng umschlungen in der Stille verschmelzen, fällt mir ein, dass ich noch mehr tun kann. Ich kann den drohenden Konflikt abwenden! Weder Rhys, noch die anderen Menschen hier werden meinetwegen einen Schaden erleiden!
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Sooo, ihr lieben Leser.
Das ist wohl das längste Kapitel dieser Story geworden. Ich habe einfach keinen passenden Punkt für einen Cut gefunden, zu wichtig war es mir, diese emotionale Szene im Ganzen zu zeigen. Genauso schwierig fand ich es, mich nur auf die Sichtweise eines der Protagonisten zu beschränken. War es euch zu lang? Der Wechsel unverständlich oder verwirrend? Gerne alles dazu in die Kommentare. 📌
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