Neue Erkenntnisse und neue Missverständnisse

Den ganzen restlichen Tag quält sich Rhys mit nervigen Alltagsproblemen der Burgbewohner herum. Ifor, der Steinmetz, legt ihm in aller Ausführlichkeit die Dringlichkeit von notwendigen Ausbesserungsmaßnahmen der einzelnen Gebäude dar.

Als ob Rhys nur mit den Fingern schnippen bräuchte und ein Trupp arbeitseifriger Zwerge stünde mit Hacke und Spaten oder Kelle und Mörteleimer bereit.

Dann erscheinen zwei seiner Lehnsbauern mit der Bittstellung um Holzeinschlag. Eigentlich wird nur im Winter gefällt, also muss Rhys nun die Notwendigkeit abwägen, dann passende Bäume auswählen und markieren lassen und dabei alle möglichen Umstände, wie beispielsweise günstige Transportwege beachten. Und zu guter Letzt soll er auch noch den Streit um eine Ziege schlichten, die ständig ihrem Besitzer ausbüchst. Daher wurde sie vom Nachbarn, dessen Weide und Obststräucher sie zum Fressen gern hat, mehrfach abgemolken. Rhys empfindet dies als ausgleichende Gerechtigkeit und scheucht die Zankhähne fort. Mit dem Versprechen, besagte Ziege höchstpersönlich in zwei Hälften zu teilen, sollten noch weitere Klagen aufkommen.

Das ganze Palavern geht ihm tierisch gegen den Strich. Eigentlich sollte Bran oder Morgan hier sitzen. Die älteren Brüder wurden von Kindesbeinen an auf ihr zukünftiges Erbe vorbereitet. Aber wenigstens bei diesen Aufgaben schlägt Dafydd sich recht wacker. Glücklicherweise hat er den Kram größtenteils dem Kleinen übertragen. Dafydd hat ein sanftes und gutmütiges Wesen und ist von den Mönchen zu Geduld und Rücksichtnahme erzogen worden. Er selbst, als Drittgeborener, verließ bereits im Knabenalter sein fürsorgliches Zuhause. Auf seinem Weg zum Ritter benötigte er andere Tugenden.

Rhys gibt den Bediensteten das Zeichen, mit dem Aufbau der Speisetafel anzufangen. Wer immer jetzt noch was von ihm will, wird sich gedulden müssen. Die langen Tische und Bänke werden von den Seitenwänden in die Mitte der großen Halle getragen. Kinder flitzen durch den Raum und verteilen Schüsseln und Löffel.

Viel zu viele Waisen hat er hier. Viel zu viele hungrige kleine Mägen. Am liebsten würde er Cynwrig wieder ausbuddeln und die Überreste nochmals zerstückeln. Es grenzt an ein Wunder, dass Dafydd es mit ihrem schwerverwundeten Vater bis ins Kloster geschafft hatte. Wo steckte der Bengel eigentlich die ganze Zeit? So schlimm hatte er ihn doch nicht zugerichtet, oder?

Selten habe ich einen solch interessanten Nachmittag verbracht. Es gab so vieles zu bestaunen und die beiden Männer erwiesen sich als aufgeschlossene und unvoreingenommene Gesprächspartner. Mittlerweile weiß ich, dass Dafydd neben Rhys noch zwei ältere Brüder hatte. Morgan kam bei einem tragischen Unfall ums Leben. Für eine Mutprobe mit jugendlichem Leichtsinn am Steilufer der Gwylltmündung herumzuklettern, erwies sich als fataler Fehler. Und Bran, der Älteste, starb bei diesem ominösen Überfall, den Eirlys bereits erwähnte.

»Ich dachte Caer Draig wurde nie von Fremden eingenommen?«, äußere ich mein dürftiges Halbwissen.

»Es waren ja auch keine Fremden, die uns überfallen haben«, antwortet Dafydd traurig. »Unser Cousin Cynwrig erschlich sich Vaters Vertrauen und kampierte einige Nächte bei uns. Anlässlich der Beendigung eines alten Familienzwistes haben wir ein Fest veranstaltet. Der Streit um Carreg Goch Castell war endlich beigelegt. Doch in der Nacht erstach Cynwrig Bran und zwei der Wachmänner und öffnete die Tore für seine Verbündeten. Sie haben uns im Schlaf überrascht. Es gab viele Tote. Die überlebenden Männer wurden ins Verlies geworfen, wo dann weitere starben. Nur wenigen gelang die Flucht. Ich habe meinen Vater bewusstlos und blutend auf der Galerie gefunden und mit Moira auf einem Fuhrwerk rausschaffen können.« Beschämt blickt er zu Boden. »Ich bin einfach ausgerissen und habe alle anderen im Stich gelassen.«

»Moment mal«, frage ich, »wieso Carreg Goch Castell und wann war das denn?« Dabei ist die Bezeichnung Rote Burg viel einleuchtender als Drachenfestung, da sie vorwiegend aus rotem Stein erbaut wurde. Zumal der blöde Drache auch nirgends näher erwähnt wird.

»Vor ziemlich genau vier Jahren. Moira hat sich mit einigen der Frauen und Kinder im Wald versteckt und ich habe mich nach Strata Florida durchgeschlagen. Aber die Mönche konnten Vater nicht mehr helfen.« Mit einem tiefen Atemzug fasst er sich und spricht weiter. »Caer Draig nennen wir die Burg, seit Rhys sie zurückerobert hat. Ich weiß wirklich nicht, warum er mich hier behält. Ich bin schon schuld an Mutters Tod und dann trifft Rhys mich am Sterbebett unseres Vaters an.«

»Rede keinen Unsinn Dafydd«, widerspricht ihm Martin energisch. »Ich habe Rhys auf dem Rückweg von Palästina begleitet und ihn gut kennengelernt. Es war Zufall, dass wir in Strata Florida Rast gemacht haben und er war sehr betroffen, als er von den Geschehnissen hier erfuhr. Doch er hat nie dir an irgendetwas die Schuld gegeben.«

»Das wär's ja auch noch«, stimme ich zu. »Du warst vierzehn! Was solltest du da ausrichten können? Am Ende hätten sie dich auch massakriert. Dann hätte Rhys gar keinen mehr. Das mit eurer Mutter ist natürlich tragisch, aber das lag doch wohl an der mangelnden medizinischen Versorgung.« Die Umbenennung der Burg gibt mir zu denken, obwohl so etwas durchaus vorkam, besonders wenn der Besitzer wechselte. Ob Rhys eine Verbindung zu den mystischen Wesen hier hat?

»Gott lässt gegen jedes Übel ein Kraut wachsen«, spricht der Mönch mit tiefem Brustton der Überzeugung und lässt mich verblüfft aufhorchen. »Wir Menschen müssen uns nur bemühen, es zu finden.«

»Ihr habt eine erstaunlich offene Weltanschauung für einen Geistlichen«, rutscht es mir heraus. Er zwinkert mir schelmisch zu. »Ich war nicht immer Mönch und ich habe zwar ein Gelübde abgelegt, aber nicht meinen Verstand.«

»Mag sein«, brummelt Dafydd. »Aber sonderlich nahe stehe ich Rhys nicht. Wir kennen uns ja auch kaum. Die wenigen Male, an denen er nach Hause kam, war ich meist bei den Mönchen. Ich habe immer das Gefühl, mein Anblick erinnert ihn nur an den Tod unserer Eltern.«

»Das musst du mir näher erklären«, hake ich nach. »Er hat doch erst mit Anfang zwanzig an diesem Kreuzzug teilgenommen?«

Dafydd schaut mich überrascht an. »Rhys war doch in Wristlesham bei Baron Giffard. Er ist dort Schildknappe geworden und mit dem Baron und einem seiner Söhne ins Heilige Land aufgebrochen. Ich dachte, ihr würdet euch daher kennen. Ihr wirktet so vertraut miteinander. Kommt Ihr nicht aus den Welsh Marches?«

»Äh, nein.« Diese Information muss ich erst mal verdauen. »Er musste als kleiner Junge zu einem der Marklords? Warum in aller Welt das denn? Die können uns Waliser doch nicht ausstehen.«

Bruder Martin liefert die Erklärung: »So etwas ist üblich, um Verträge abzusichern und Grenzstreitigkeiten zu vermeiden. Um den Frieden zu erhalten, hat der alte Lord Kynan keine große Wahl gehabt.«

Ich sehe Rhys in einem völlig neuen Licht. Als Kind die Familie verlassen zu müssen, um sozusagen als adlige Geisel jederzeit Gefahr zu laufen, für die Vergehen anderer bestraft zu werden, ist für mich unvorstellbar. Kein Wunder, dass er immer so grimmig dreinschaut. Viel Liebe wird er beim Heranwachsen nicht erfahren haben.

Unser ernsthafter Disput wird vom Grummeln meines Magens unterbrochen. »Ach herrje«, entschuldigend hebe ich die Hände, »ich glaube, wir haben das Mittagessen verpasst.«

»Mittag?«, fragen die beiden unisono. »Ihr setzt Euch mittags zum Essen zusammen? Da bleibt doch die ganze Arbeit liegen.«

Und wieder einmal werde ich verständnislos angeschaut. Doch Bruder Martin erbarmt sich und reicht mir ein paar Trockenfrüchte. »Wir werden Dafydd nochmal frisch einschmieren und dann dürfte es auch bald Zeit für das Abendessen sein.«

Mit einem unguten Gefühl kommt Rhys vom Bergfried zurück in die große Halle. Sein Bruder ist weder in seiner Kammer noch in der Schreibstube bei seinen geliebten Büchern. Seine wachsende Besorgnis versteckt er hinter seinem üblichen ruppigen Auftreten. Angst zu zeigen ist eine Schwäche, die er sich nicht leisten kann. Nur die starken Wölfe halten sich an der Spitze des Rudels. Das ist ihm bis zum Erreichen der Schwertleite beigebracht worden. Und auch in Nasirs Räuberbande konnte er sich nur so seinen Platz erkämpfen.

Arwen ist ebenfalls verschwunden. Irgendwann während seiner Kampfdarbietung. Sein Abschneiden hat sie überhaupt nicht interessiert. Es irritiert ihn, dass er ihr Verhalten so schlecht einschätzen kann. Er möchte sie lieber im Auge behalten, auch wenn sie nicht direkt der Feind ist. Eher so etwas wie ein Konkurrent. Er muss an die Warnung des Elfen denken. Sie darf nicht vor ihm den Weg in die Anderswelt finden. Nur macht sie gar keine Anstalten, den Weg zu suchen. Oder hat er da etwas verpasst?

Er schlendert an das Kopfende der Tafel. Inzwischen versammeln sich die ersten Burgbewohner in der Halle. Bruder Martin ist nicht darunter. Er hätte wohl doch im Druidenturm vorbeischauen sollen. Nervös spielt Rhys mit seinem Dolch. Einer vorwurfsvollen Predigt fühlt er sich gerade nicht gewachsen. Es war falsch gewesen, Dafydd so hart ranzunehmen.  Wenn er ihn ernsthaft verletzt hat, wird er sich das nie verzeihen. Abgesehen davon, dass auch der ganze Verwaltungsmist dann an ihm hängenbleibt.

Da erscheint der Vermisste wie aufs Stichwort. Flink und geschmeidig scharwenzelt er um das rothaarige Weibstück herum, den intriganten Mönch glückselig strahlend im Schlepptau. Dafydds Schultergelenken und seinen Armen scheint nichts zu fehlen, dem Grad seiner gestenreichen Bewegungen nach zu urteilen. Hat sich dieser Schlingel also einen gemütlichen Nachmittag gegönnt, während Rhys kurz davor war, die ansässige Bevölkerung zu dezimieren. Vielleicht sollte Madame den Unterricht im Schwertkampf übernehmen, so eifrig wie Dafydd bei ihren Worten umherspringt.

Rhys knurrt sich selbst an. Es ist doch prima, wenn Arwen hier Anschluss und Dafydd an ihr Gefallen findet. Eine starke Frau an seiner Seite wird ihm guttun und sein Selbstbewusstsein stärken. Sicher erträgt er auch geduldig ihr verrücktes Geschnatter und ihre Erscheinung macht auch einige Macken wett. Sie ist kein zaghaftes, zerbrechliches Püppchen und garantiert auch nicht mehr unschuldig, aber eine Frau mit diesem Temperament kann seinem naiven Bruder noch einiges beibringen. Bis jetzt hat er außer ein paar verstohlenen Blicken zu den drallen Brüsten einiger Mägde noch keine Anstalten in der Richtung unternommen.

Obwohl ... Nein! Nein! Und nochmals NEIN! Bei dem Bild, welches Rhys im Kopf erscheint, von seinem Bruder und Arwen, eng umschlungen, nackte Haut auf nackter Haut, sträubt sich alles in ihm gegen diese Vorstellung. Es juckt ihn gehörig in den Fingern Dafydd doch gleich noch eine Lektion im Faustkampf zu verabreichen. Sie ist seine Elfe und niemand wird sie anfassen!

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