Je später der Abend ...
Reichlich nervös begebe ich mich mit Bruder Martin und Dafydd zurück zum Hauptgebäude. Gleich werde ich auf die restlichen Bewohner treffen. Wie sie mich wohl aufnehmen werden?
In der großen Halle ist bereits rege Begängnis. Eine große u-förmige Tafel ist aufgebaut, an deren Ende Rhys in einem hohen Lehnstuhl lümmelt, die langen Beine quer über die Armlehne gelegt. Mit geschickten Fingern jongliert er einen der langen Dolche, die anscheinend seine besten Freunde sind. Eine düstere, bedrohliche Aura umgibt ihn wie eine finstere Wolke. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrt er uns entgegen. Der Mann ist ein Quell unerschöpflichen Zorns. Dabei bin ich ihm doch den ganzen Tag aus dem Weg gegangen.
Dafydd und Martin geleiten mich zum Tisch und platzieren mich an der Ecke der Tafel. Rechts von mir setzt sich Dafydd neben Rhys und links rückt Bruder Martin mit auf die lange Bank. Wie ich feststelle, bin ich schon wieder ein Ausnahmefall. Die anderen Essensgäste sitzen, getrennt nach Männlein und Weiblein, an den langen Seiten gegenüber.
»Hattet ihr einen schönen Tag miteinander?«, fragt Rhys mit leicht gehässigem Unterton. »Danke der Nachfrage«, entgegnet der Mönch liebenswert, »wir haben einige überaus interessante Gespräche geführt.« Dafydd studiert schweigend die Maserung der Tischplatte. Ich beiße mir auf die Zunge und lächle möglichst unschuldsvoll.
»Prima«, knurrt der Hausherr ungehalten und setzt sich halbwegs ordentlich. »Dann können wir ja anfangen.«
Bruder Martin erhebt sich und breitet die Arme aus. Augenblicklich verstummt das Stimmengewirr. Er spricht ein einfaches Abendgebet und segnet die aufgetragenen Speisen. Sobald er wieder sitzt, schwillt das Geschnatter im Raum wieder an. Nur in unserer Ecke herrscht angespannte Stille.
Ich konzentriere mich auf das Essen. Moira ist ein wahres Kochgenie. Was sie aus diesen drei mageren Hühnern alles zubereitet hat, ist bewundernswert. Ich zähle mehr als zwanzig Menschen, die auf eine Mahlzeit warten, die Hälfte davon noch Kinder. Es gibt eine warme Suppe mit einer Einlage aus Grieß und Wurzelgemüse. Vom Fleisch ist nicht viel zu finden. Das scheint bis zur Unkenntlichkeit gestreckt in kleine Pasteten gewandert zu sein, die auf großen Platten gereicht werden. Und alle bekommen das Gleiche, egal ob Burgherr oder Küchenjunge. An Getränken stehen bei uns Krüge mit Bier und süßem Met.
Das Schweigen beim Essen bin ich nicht gewöhnt. Nachdem ich den ersten Becher Honigwein in meinem noch ziemlich leeren Magen habe, versuche ich eine Unterhaltung anzufangen.
»Du bist also mit Richard Löwenherz zum Kreuzzug aufgebrochen.«
Dafydd fällt der Löffel in die Suppe, Bruder Martin bekommt einen Hustenanfall und Rhys erstarrt zur Salzsäule. Mir kommt das komisch vor, doch mein Mund redet einfach weiter.
»Wie war es denn im Heiligen Land?«
Seine Lordschaft taxiert mich, wie die Riesenschlange das Kaninchen.
»Heiß«, quetscht er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.
Was für ein Plaudertäschchen! Dabei reden Männer doch so gern über ihre Heldentaten. »Hm, und was hast du dort als Kreuzritter gemacht?«
»In der Sonne gelegen.«
Ach nee, jetzt wird er auch noch pampig. Aber schnippisch kann ich auch. »Das ist ungesund. Wir Europäer bekommen da schnell einen Sonnenstich.«
»Mich zu verärgern, ist auch ungesund.« Er präsentiert mir sein weißes Gebiss, doch das Lächeln erreicht nicht seine Augen.
»Wirklich? Dabei hast du doch so ein einnehmendes und ausgeglichenes Auftreten«, säusel ich honigsüß. »Und warum - Au!« Ich reibe mir mein schmerzendes Schienbein.
»Oh, verzeiht Liebste. Könntet Ihr mir bitte den Krug reichen?« Bruder Martin strahlt mich mit seiner nervigen Freundlichkeit an. Ich habe den Tritt kapiert und genehmige mir, statt weiterer Worte, einen weiteren Becher Wein. Der ist wirklich süffig. So nach und nach wird der Abend ganz angenehm. Nach dem Essen gehen die Bewohner zum unterhaltsamen Teil über. Ein kleiner hutzliger und ziemlich zahnloser Mann holt eine Fidel hervor und wird mächtig angefeuert. Sein etwas krächzender Gesangsbeitrag handelt von einem jungen Burschen und seinen umständlichen Versuchen, unter die Röcke seiner Angebeteten zu gelangen.
»Tabor kennt nur solche Schmonzen«, peinlich berührt entschuldigt sich Dafydd. »Vielleicht würdet Ihr uns etwas vortragen?«
»Ja! Bitte!«, ruft es von der Frauenseite herüber. »Ihr habt so eine berührende Stimme. Aber nicht wieder so was trauriges. Die ganze Nacht hat mir das Herz geschmerzt.«
»Doch, es kann ruhig traurig sein«, antwortet lachend ein großer kräftiger Mann mit vollem dunklen Bart. Das ist Evan, der Schmied und Eirlys Onkel. »Ich stelle mich als Tröster zur Verfügung.«
Jetzt bin ich ganz ergriffen. Haben mir gestern alle zugehört?
»Ihr müsst nicht, wenn Ihr nicht wollt«, flüstert Dafydd von rechts. Daran liegt es nicht. Ich sehe in erwartungsvolle Gesichter und sollte doch mit meiner Bühnenerfahrung kein Problem damit haben. Doch in meinem Kopf herrscht gähnende Leere.
»Mach dir nicht zuviel Hoffnung Brüderchen. Für uns erbärmliche Menschlein wird sich die Dame nicht überanstrengen.«
Zwei ganze Sätze am Stück. Ich sollte dem Grinch Applaus spenden. Aber diese abfällige Bemerkung von Rhys löst meinen Blackout. Im Geist zeige ich ihm den Mittelfinger und steige auf die Bank. Mir schwebt ein ganz bestimmtes Stück vor, Melodie und Rhythmus werde ich einfach ein wenig an Tabors Gesangsstil anpassen.
»Somewhere over the rainbow, way up high.
There's a land that I heard of once in a lullaby.
Somewhere over the rainbow, skies are blue.
And the dreams that you dare to dream
really do come true ... If happy little bluebirds fly
beyond the rainbow.
Why, oh why can't I?«
Damit treffe ich genau den Geschmack des Publikums und der Bann ist gebrochen. Abwechselnd mit Tabor gebe ich ein Stück nach dem anderen aus meinem umfangreichen Repertoire zum Besten. Auch wenn ich keine Lindsey Stirling bin, entlocke ich seiner Fidel einige flotte Weisen. Ausgelassen klatschen, pfeifen und trommeln alle mit. Fast alle. Rhys ist irgendwann verschwunden. Soll er doch irgendwo trotzen, der olle Griesgram. Dafür erscheint Mr. Bodyguard Owain und wirbelt eine Frau nach der anderen im Tanz herum. Der Mangel an ungebundenen Männern kommt ihm sichtlich zu Gute. Den meisten Gefallen finden meine Lieder mit mystischem und märchenhaften Bezug, wie Tír na nÓg von Celtic Woman oder Skyrim The Dragonborn Comes. Für den Höhepunkt habe ich mir daher etwas Spezielles überlegt.
»When the last eagle flies
Over the last crumbling mountain
And the last lion roars
At the last dusty fountain
In the shadow of the forest
Though she may be old and worn
They will stare unbelieving
At the Last Unicorn ... I'm alive, I'm alive«
Das letzte Einhorn wird zum Lieblingslied erkoren und ich muss es noch dreimal wiederholen. Doch nach und nach verschwindet einer nach dem anderen zur Nachtruhe. Allein, zu zweit oder auch zu dritt. Die Menschen richten ihren Tagesablauf nach dem natürlichen Sonnenlicht.
Irgendwann leistet mir nur noch der Krug mit dem Met Gesellschaft. Es stört mich überhaupt nicht, allein zu sein. Ich bin eine emanzipierte Frau und nicht auf einen starken Mann angewiesen.
Ich brauche weder Jeremy, den Verräter, noch Rhys, den Stinkstiefel.
Mir fehlt wirklich nichts.
Ich bin ein vollständiges Ganzes.
❦
Ich fühle mich schrecklich einsam.
❦
Bruder Martin schlendert gemächlich den Gang auf der Mauerkrone zum Wachturm hinüber. Was für ein schöner Abend. Es scheint fast, als wären seine vielen Gebete erhört worden. Diese Frau ist ein Geschenk des Himmels. Leise summt er die Melodie des Liedes, welches alle immer wieder hören wollten. Das letzte Einhorn ist am Leben. Wie treffend. Ein wenig Zauber kann er hier gut gebrauchen, auch wenn er dies niemals zugeben würde.
Martin sieht es als seine Pflicht an, Rhys als Priester und als Freund beizustehen. Viele Männer haben seinen Weg gekreuzt, tapfere Krieger, die ausgezogen waren, um das Heilige Land von den Ungläubigen zu befreien, bevor sie von der Hölle des Krieges an Leib und Seele zerbrochen wieder ausgespuckt worden waren.
In Rhys sieht er viel von sich selbst. Er bewundert ihn für seinen Mut und seine eiserne Entschlossenheit und hat die Hoffnung nicht aufgegeben, ihm helfen zu können, Glauben und Seelenfrieden wiederzufinden. Doch in letzter Zeit muss er sich eingestehen, dass es ihm nicht zu glücken scheint. Rhys ist nie wirklich zu Hause angekommen. Er zieht sich immer mehr von allem zurück. Dabei hat Martin so vieles versucht, um ihn aus seiner Lethargie herauszuholen.
Aber jetzt kommt endlich Bewegung in die Sache. Diese ungewöhnliche Lady ist noch keine zwei Tage hier und schon wirbelt sie alles von unten nach oben und kreuz und quer durcheinander. Sie ist nicht nur ein leichter Aufwind, sondern ein regelrechter Sturm, der durch dieses triste Gemäuer fegt. Der festgemauerte Schutzwall seiner Lordschaft zeigt die ersten Risse. Auch wenn Rhys deshalb gereizt und übellaunig umherläuft; alles ist besser als diese stoische Gleichgültigkeit. Und Martin ist fest entschlossen ihm keine Ruhepause zu gönnen.
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