Brüder
Rhys steht auf dem Wehrgang der äußeren Burgmauer und sieht hinaus auf die ruhige See. Die sinkende Sonne verabschiedet sich mit einem spektakulären Farbenspiel und taucht den Horizont in strahlende Streifen von Gold, Orange, Rot und Violett . Er lauscht dem Kreischen der Möwen, die ihre Schlafplätze in den Klippen der Steilküste aufsuchen und schmeckt salzige Meeresluft, die der Wind herüber trägt.
Ein schöner Abschluss für einen Tag, der nach einem mäßigen Start doch noch eine hoffnungsvolle Wendung genommen hat. Wenn er diesem Elf Glauben schenken kann, ist er auf dem besten Weg sein erlösendes Ziel zu erreichen. Zaubern kann die rothaarige Waldfee schon mal nicht, sonst würde er längst quakend durch die Gänge hüpfen. Und sie war kurz davor die ersten Tränen zu vergießen. Er zollt ihrem Stolz und ihrem starken Willen Respekt; jede andere Frau hätte an seine Ritterlichkeit appeliert, ihm Honig ums Maul geschmiert oder schamlos auf die Tränendrüsen gedrückt. So leicht wird sie nicht klein beigeben. Trotzdem gibt es Hoffnung für seinen Plan. Also kann er frohgemut und zufrieden sein. Warum, verdammt nochmal, fühlt er sich dann so beschissen?
Wahrscheinlich weil Dafydd noch immer ein Weichei ist. Sein kleiner Bruder muss endlich erwachsen und seiner Stellung gerecht werden. Wenn Rhys dieser Welt den Rücken kehrt, muss er für die Menschen hier die Verantwortung und Führung übernehmen.
Rhys wandert gemächlich den Gang auf der Mauer entlang, durchquert den Westturm, in dem die Wachen und Stallknechte untergebracht sind und betritt die breite Mauerkrone der nördlichen Burgseite, die das Bauwerk zur Landseite absichert.
Im geschützten Wachposten steht Owain, den Waldrand und die umliegenden Weiden und Felder aufmerksam beobachtend.
»Und, schon irgendwelche kriegerischen Horden in Sicht?«, fragt Rhys.
»Nein, mein Herr«, antwortet Owain und verneigt sich mit der geballten Dolchhand über dem Herzen.
Rhys akzeptiert diese respektvolle Geste als Entschuldigung und verzichtet auf den Satz ›Das habe ich doch gleich gesagt‹. Owain ist ein guter Mann und Dafydd wird seine Loyalität und Erfahrung brauchen.
Die beiden schauen Schulter an Schulter hinaus in die friedliche Natur. Aus dem Innenhof schallen die üblichen alltäglichen Geräusche, durchsetzt von fröhlichem Lachen und den mahnenden Rufen von Moira, der Köchin.
Mitten in dieses übliche Stimmengewirr mischt sich eine leise Melodie, zart und unscheinbar zunächst, doch bald kräftiger und unüberhörbar. Eine glockenhelle ausdrucksstarke Stimme hallt von den Burgwänden zurück und alles Leben scheint innezuhalten und erstaunt zu lauschen. Einfühlsam und berührend erklingt ein trauriges Liebeslied aus dem südlichen Wohnturm.
Owain räuspert sich überrascht. »Du hast sie in die Frauengemächer gebracht?«
Rhys wirft ihm einen schrägen Blick zu. »Was hast du denn gedacht? Das ich sie schlachte und von Moira zu Eintopf verarbeiten lasse?«
Verlegen kratzt sich Owain am Kopf. »Gewundert hätte es mich nicht, bei dem losen Mundwerk.«
Rhys reagiert mit einem abfälligen Schnauben. »Du darfst ihr Gerede nicht ernst nehmen. Sie redet wirres Zeug.«
»Und sie ist dir im Wald einfach über den Weg gelaufen?«
»Zweifelst du an meinen Worten?« Schärfer als beabsichtigt kontert Rhys.
»Natürlich nicht.« Owain senkt betreten den Blick.
»Ich will kein Wort mehr zu diesem Thema hören«, knurrt Rhys verärgert und lässt seinen Hauptmann stehen. Er ist sich bewusst, dass das Gerede nicht so schnell ein Ende finden wird. Irgendwie muss er seine Leute dazu bringen, die Elfe ohne große Fragen in ihrer Gemeinschaft zu akzeptieren.
Und er muss seinem kleinen Bruder in den Hintern treten. Bis zur Sommersonnenwende muss Dafydd ein fähiger Nachfolger werden.
Er findet ihn in dem hellen Eckzimmer über der großen Halle, welches als Schreibstube genutzt wird.
❧
Dafydd schreckt zusammen, als Rhys den Raum betritt und startet den hilflosen Versuch ein zerfleddertes Buch mit einigen losen Pergamenten zu bedecken. Wie alle anderen ist auch er jedesmal von der bedrohlichen Ausstrahlung seines Bruders eingeschüchtert.
Einmal mehr wünscht er sich, eine so starke Persönlichkeit zu besitzen. Rhys wird nirgendwo ignoriert. Rein äußerlich ist ihre nahe Verwandtschaft unverkennbar, doch die Aura, die seinen Bruder umgibt, geht ihm völlig ab.
Monatelang hat er vor dem Spiegel versucht, seinen finsteren Blick einzustudieren, ebenso die Kunst, lediglich eine Augenbraue verächtlich hochzuziehen, doch all seine Mühen verfehlen völlig ihre Wirkung. Vielleicht kommt daher sein Hang zur perfekten Garderobe, wenigstens daran soll man seine gehobene Stellung erkennen. Rhys hat das nicht nötig. Dafydd ist sich sicher, selbst wenn sein Bruder zerlumpt wie ein Bettler an einem fremden Hof auftaucht, werden alle vor ihm auf die Knie fallen.
»Bist du mit den Aufstellungen unserer Vorräte fertig?«, fragt Rhys genervt. Die Organisation des Burglebens ist ohne den erfahrenen Kastellan zeitaufwendig und anstrengend. »Reichen sie aus, um noch einen weiteren hungrigen Magen zu sättigen, oder muss ich unserem Gast eine unbestimmte Fastenzeit auferlegen?«
»Ein Festbankett können wir nicht geben, aber bis zur nächsten Zinsabgabe sollte das meiste reichen. Die Frauen haben auch die gefärbte Wolle fertig gesponnen und verzwirnt. Mit den Fellen vom Winter und den überschüssigen Kerzen können wir einiges zum Markt nach Caernarfon mitnehmen. « Mit roten Ohren sieht Dafydd zu, wie Rhys die alte Schrift unter den Pergamentblättern hervorzieht.
Was soll das denn jetzt? Sonst schert Rhys sich doch auch nicht großartig um die Aufgaben eines Lehnsherrn. Lieber streift er tagelang durch die Wälder oder verschanzt sich im Druidenturm, ohne von den alltäglichen Dingen, um die er sich eigentlich kümmern müsste, auch nur die geringste Notiz zu nehmen. Mitunter verschwindet er völlig spurlos, um dann ganz plötzlich und unerwartet mitten in der Burg wieder aufzutauchen. Kein Wunder, wenn die Leute ihn im Bündnis mit dem Bösen wähnen. Rhys legt es ja geradezu darauf an.
Und an wem bleibt alles hängen? Wer muss sich um jedes Kinkerlitzchen der Burgbewohner kümmern, seit sie keinen Vorsteher mehr haben? Er natürlich, der verständnisvolle, liebenswerte, dämliche kleine Lord. Dabei steht ihm der Titel als Letztgeborenem gar nicht zu. Nur weil alle Schiss vor Rhys haben, rücken sie ihm ständig auf die Pelle. Letztendlich unterliegen die wichtigen Entscheidungen ja doch dem Ermessen seines großen Bruders. Und nur weil sich Rhys mitunter dazu herablässt mit ihm zu sprechen, heißt das noch lange nicht, dass er, Dafydd, irgendeinen Einfluss auf die Gedankengänge des Burgherren hat.
»Vielleicht sollten wir auf die Jagd gehen?«, versucht er seinen Bruder abzulenken. Der blättert durch den in rotes Leder gefassten Einband. Das Buch hat Dafydd aus der Bibliothek von Strata Florida mitgehen lassen, dem Zisterzensierkloster, in dem er als Kind viel Zeit verbrachte. Es enthält die fantastischen Berichte eines reisenden Mönches, ausgeschmückt mit detailgetreuen Zeichnungen seltsamer Pflanzen und Tiere.
»Das Wild hat Schonzeit«, belehrt ihn Rhys. »Wenn du es erlegst bevor es sich vermehren kann, wird der Wald bald so leer sein wie Tabors Weinschlauch bei Sonnenuntergang. Du musst das Gleichgewicht im Auge behalten.« Er stutzt kurz, überlegt, woher denn dieser Gedanke kommt, während er kopfschüttelnd Bilder von mehrköpfigen Schlangen, Elefanten mit vier Stoßzähnen und riesigen menschenverschlingenden Blumen betrachtet. Ungehalten schlägt er das Buch zu und bemüht sich um einen neutralen Tonfall. »Schicke ein paar der Jungen zum Fischen an den Afon.«
»Der Gwyllt ist doch viel näher«, wirft Dafydd ein.
»Aber im Gwyllt gibt es weder Lachse noch Meerforellen.«
»Ja, natürlich.« Dafydd hört die Missbilligung heraus und beißt sich verärgert auf die Unterlippe. Schon wieder redet er nur Unsinn. Den dreißig Meter hohen Wasserfall kann auch der stärkste Lachs nicht überwinden. So wird er niemals Rhys' Achtung erringen.
»Was macht dein Training?«
Noch eine Frage, die Dafydd nicht zufriedenstellend beantworten kann. »Owain hat doppelt so breite Schultern wie ich. Dagegen komme ich niemals an.« Und eigentlich will er es auch gar nicht. Viel lieber würde er seine Zeit in der Bibliothek des alten Barden verbringen, um dort in Ruhe die vielen Schätze zu studieren.
»Blödsinn! Du musst den Schwachpunkt des Gegners erkennen und deine eigenen Stärken nutzen.« Ungeduldig schlägt Rhys mit der Hand auf den Tisch. »Aber du musst üben! Wenn du leichter bist, bist du wendiger. Also nutze das, trainiere deine Schnelligkeit. Die Bewegungen müssen dir in Fleisch und Blut übergehen. Wenn du erst nachdenken musst, hast du verloren. Mein Kreuz ist im übrigen auch nicht so breit.«
»Keiner kann sich im Schwertkampf mit dir messen«, murmelt Dafydd betreten. »Ich hätte im Kloster bleiben sollen. Hier bin ich dir nur eine Last.« Allerdings bezweifelt er selbst, dass die christlichen Mönche dort das Wissen aus den Büchern des Druidenturms gutheißen würden.
»Ach ...«, Rhys brummt einen unterdrückten Fluch. »So toll ist das Leben als Mönch auch nicht. Rede mal mit Martin darüber. Und hör auf, dich in diesen Märchenbüchern zu verkriechen! Du kannst versuchen, sie Owain an den Kopf zu werfen. Wenn du triffst, wären sie wenigstens zu was nütze.«
Dafydd presst sich das Buch beschützend an die Brust. »Aber es gibt so viele Wunder draußen in der Welt. Du erzählst ja nie was.«
Rhys antwortet nicht auf den kleinlaut vorgetragenen Einwand seines Bruders. Sollte er Dafydd jemals von seinen Erlebnissen in der Wüste berichten, würde es ihm mit Sicherheit die Träumereien von Abenteuern in fernen Ländern austreiben.
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