Auf und davon

Weg! Sie ist weg!

Einfach spurlos verschwunden. Rhys tobt innerlich. Diese Frau ist das reinste Quecksilber und wankelmütig dazu. In einem Moment wirft sie sich ihm liebestrunken an den Hals und Stunden später ignoriert sie ihn vollkommen. Sie ist eine wahre Meisterin darin, ihn vollkommen kirre zu machen.

Am Vortag hoffte er vergebens auf ein verstohlenes Zeichen ihrer Zuneigung. In sicherem Abstand war er ihr gefolgt, als sie mit den Kindern die Burg verließ. Kurz befürchtete er, am Gänseteich könnte sich ein Portal ins Elfenland befinden. Doch Arwen nahm nur ein Bad und alberte mit den Mädchen herum. Die Ausblicke, die sich ihm dabei boten, waren dennoch nicht dazu angetan, seinen Seelenfrieden wiederherzustellen.

Auch aus größerer Entfernung war sie eine Augenweide. Ihr weiblicher Leib noch nass vom Schwimmen, im Sonnenlicht glänzend. Seine Sinne hatten völlig verrückt gespielt. Er bildete sich sogar ein, einen Saphir in ihrem Bauchnabel funkeln zu sehen.

Heute sind die Mädchen allein unterwegs. Um Arwen nicht wieder hinterherschleichen zu müssen, hat er die Torwache angewiesen, sie nicht aus der Burg zu lassen. Und diese Schnarchnasen behaupten ernsthaft, sich daran gehalten zu haben. Aber jeder, den er nach ihr fragt, schaut ihn nur verständnislos und kopfschüttelnd an.

Da kommt Sion fröhlich hüpfend und pfeifend aus dem Brunnenhaus am Westturm. Die Melodie stammt eindeutig von Arwens Lied. Das mit dem Einhorn. Welches neuerdings anscheinend alle hier trällern. Nervig!

Doch die Kinder kleben ständig an ihren Rockzipfeln. Vielleicht hat er die falschen Leute befragt.

»Sion!«, ruft er energisch nach dem Jungen. Dieser kommt zögerlich näher. Ungeduldig winkt ihn Rhys heran. »Hast du Arwen gesehen?«

»Ich?« Ängstlich blickt der Junge sich um, wohl in der Hoffnung, dass hinter ihm noch ein anderer stehen würde. Die kleinen Hände zu einer Kuhle geformt, trägt er darin behutsam einen eisblauen Schmetterling.

»Kennst du hier noch einen Sion?«, blafft Rhys ihn an, bremst sich aber, als das Kind verschreckt zurückweicht.

»Lass uns mal über deine Zukunft reden«, versucht er einen Neustart. Eingeschüchtert blickt der Knabe zu ihm auf. In seinem strubbeligen zimtbraunen Haarschopf hängen Reste von Spinnweben.

»Du bist doch einer meiner treuesten Gefolgsmänner, nicht wahr? Und du willst später sicher eine wichtige Stellung hier übernehmen, vielleicht als Wachmann, so wie dein tapferer Vater. Hast du darüber schon mal nachgedacht?« Rhys kann kaum glauben, dass er solch ein Gespräch mit einem Sechsjährigen führt. Aber er braucht das Vertrauen des Kindes.

»Hm«, murmelt Sion verlegen, »bekomme ich dann ein Lichtschwert?«

»Ein was?«

»Damit kämpfen die Sternenkrieger gegen das Böse. Es hat im Griff einen magischen Kristall«, erklärt Sion nachsichtig. Rhys kommt sich uralt vor. Davon hat er noch nie was gehört. Doch er kann sich denken, von wem das verrückte Märchen stammt.

»Nein, das wird wohl nichts. Ein normales Schwert findest du nicht erstrebenswert?« Seit wann ist es so schwierig, Kinder zu beeindrucken?

»Das ist mir zu schwer. Da werde ich lieber ein Zauberer.«

»Ähm, ja, ganz ... toll. Wie wäre es für den Anfang, wenn du mein persönlicher Stallbursche wirst? Du magst doch Tiere und du dürftest dich um Schwarz kümmern und im Herbst könnte ich dich mit zur Jagd nehmen.« Zufrieden mit seinem großzügigen Angebot legt Rhys dem Jungen die Hand auf die Schulter.

»Aber ich mag keine Tiere totmachen«, entgegnet Sion und scharrt mit dem Fuß.

»Aber Fleisch in der Suppe oder Wurst auf dem Teller magst du schon, oder?« Rhys muss sich zusammenreißen, um nicht wieder ungehalten zu reagieren. Es ist tausendmal einfacher seine Wachen anzubrüllen, als dieses Kind auszufragen.

Nachdenklich kaut Sion auf seiner Unterlippe. »Darf ich auf Schwarz reiten?«, fragt er schließlich hoffnungsvoll.

»Klar, du kannst dich immer auf mein Wort verlassen.« Mit ernstem Blick schaut Rhys zu dem Jungen. »Vertrauen beruht stets auf Gegenseitigkeit. Auf dich muss ich mich auch verlassen können.« Er geht in die Hocke, um mit Sion auf Augenhöhe zu sein. »Du weißt wo Arwen ist, nicht wahr?«

Schuldbewusst senkt der Knabe den Kopf. »Ich habe versprochen, nichts zu verraten«, flüstert er weinerlich.

»Das verstehe ich, ein Versprechen darf man nicht brechen.« Rhys überlegt sich seine nächsten Worte. »Aber weißt du, Arwen ist hier fremd. Sie könnte sich verlaufen oder in Gefahr geraten. Eventuell siehst du sie dann nie wieder.«

Sion schüttelt heftig den Kopf. »Stimmt nicht! Arwen kennt alles ganz genau. Sie hat mir sogar einen Geheimgang gezeigt ...« Erschrocken unterbricht er seinen Satz.

Rhys zuckt unmerklich zusammen und unterdrückt einen deftigen Fluch. Er hat genug gehört. Sein Blick schweift hinüber zum Brunnenhaus. Wie konnte er nur ihr betrunkenes Gefasel vergessen? Dabei kennt er die Antwort genau. Weil ihre verflixten Liebesschwüre ihn völlig verhext haben.

Der Tunnel im Brunnenhaus ist einer der verborgenen Zugänge in das unterirdische Labyrinth. Der versteckte Einstieg befindet sich etwa einen Meter unterhalb der gemauerten Umrandung des Brunnens. Durch die konische Form des Schachtes ist er von oben nicht zu sehen. Man muss sich aber nur ein kleines Stück über die Brüstung hinunterhangeln, um die Öffnung zu erreichen. Die Kenntnis über diese Gänge war ein streng gehütetes Geheimnis seiner Ahnen und wurde stets vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben. Bran jedoch hatte Morgan eingeweiht, um ein wenig anzugeben. Und Rhys war wie immer seinen großen Brüdern nachgelaufen, als diese auf Entdeckungstour gingen.

Natürlich hatten sie sich alsbald verirrt und waren als jammerndes Häufchen Elend in einer Höhle geendet. Irgendwann begann Bran die Lieder ihrer Mutter zu singen, um die jüngeren Geschwister zu trösten. Rhys erinnert sich an unzählige winzige Lichter, die ihnen den Weg ans Tageslicht zeigten. Rückblickend hatte er immer an Glühwürmchen gedacht, jetzt war er sich da nicht mehr so sicher.

Der rettende Höhlenausstieg befand sich in einem schmalen Spalt in den Klippen der Steilküste. Diesen Weg hatte er genommen, um nach Cynwrigs Gewaltstreich ungesehen in die Burg zu gelangen. In den letzten vier Jahren nutzte er jede Gelegenheit, die Gänge genauer zu erkunden. Einer davon endet in einem Schlehdorndickicht am Fuße des Burgberges. Von dort ist es nur ein Katzensprung bis zur Waldgrenze.

Es war reine Dummheit anzunehmen, die Elfen wüssten nichts von diesem unterirdischen Reich.

»Schon in Ordnung, Sion. Du hast nichts falsch gemacht. Aber diese Sache behältst du für dich. Kein Wort zu niemandem!« Mit einem Klaps entlässt er den Jungen. Der saust davon, stoppt dann kurz und dreht nochmal um. »Darf ich trotzdem Pferdebursche sein?«

Rhys zwingt sich zu einem Lächeln. »Gleich morgen früh bist du mit im Stall.«

Genau dorthin begibt er sich nun selbst. Es macht wenig Sinn, Arwen durch den Tunnel zu verfolgen. Er muss sie am Wald abfangen. Sicher will sie zur Feengrotte, um in ihre Welt zurückzukehren. Die ganze Sache nimmt ungeahnte Ausmaße an. Mittlerweile ist es eine tagesfüllende Aufgabe, dieser Frau Herr zu werden.

Im Pferdestall erwartet ihn eine weitere Überraschung. Schwarz steht fertig aufgezäumt und gesattelt bereit und begrüßt ihn mit einem freudigen Schnauben. Irritiert tritt Rhys näher und streicht dem Rappen zur Begrüßung über die Nüstern.

»Ho, mein Großer. Wer konnte denn da Gedanken lesen, hm?« Mit prüfendem Blick begutachtet er Zaumzeug und Sattelgurte. Ein unangenehmes Kribbeln kriecht ihm plötzlich ohne Vorwarnung über den Nacken. Die Luft scheint aufgeladen, wie kurz vor einem Sommergewitter. Sämtliche Härchen auf seinen Armen richten sich auf. Argwöhnisch kneift Rhys die Augen zusammen und späht ins Zwielicht der Stallung. Goldene Staubpartikel hängen ohne die geringste Bewegung in der Luft. Selbst die Fliegen verharren mitten im Flug. Alles um ihn herum kommt zum Stillstand.

»Was zur Hölle ...?«

Er reibt sich die Augen, nur ändert es nichts an dem, was er sieht. Ein schimmerndes Flirren verdichtet sich und eine Gestalt, durchscheinend und nicht wirklich anwesend wendet sich ihm zu.

»Eile dich Mensch. Die Zeit wird knapp.«

»Wie ...? Was ...?« Gebannt blickt Rhys zu der Erscheinung eines Mannes von ätherischer Schönheit, bis ihn der Hengst mit seinem großen Kopf von hinten anrempelt und aus seiner Trance reißt.

»Eile dich! Und nimm den Jagdspieß mit, du wirst ihn brauchen.« Silberblau leuchten die Augen des fragilen Wesens, die schlanken Finger weisen auf die Waffe, welche auf wundersame Weise wie aus dem Nichts erscheint.

»Wozu das denn?« Entsetzt hebt Rhys die Hände. »Ich werde nicht die Drecksarbeit für euch verrichten! Weshalb wollt ihr Arwen aus dem Weg haben?«

Ein grelles Leuchten blendet Rhys und lässt ihn instinktiv die Augen schließen. Als er sie wieder öffnet, steht der Mann direkt vor ihm und drückt ihm den Spieß gegen die Brust. Sein weißblondes Haar strahlt mit überirdischem Schimmer und verleiht ihm einen Kranz aus Licht, in dem zartgrünes Laub und erste Frühlingsblüten schweben.

»Trottel! Du sollst sie retten!« Der Elf scheucht ihn auf das Pferd und öffnet mit einer lässigen Handbewegung auf magische Weise die Stalltore. »Es wird Zeit für einen Helden!«

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