2 - Rhys

30.04.1198, später Abend


Der Schatten bewegt sich lautlos durch die Nacht. Der gewundene Pfad, der sich kaum sichtbar zwischen niedrigem Strauchwerk und hochaufragenden Findlingen hindurchschlängelt, stellt für ihn keine Schwierigkeit dar. Seit Kindesbeinen sind ihm diese Wege vertraut. Er kennt jeden Stein, jeden herabhängenden Ast und jeden sich zwischen buckligen Wurzeln hervorzwängenden Farnbusch. Seine Bewegungen sind fließend und geschmeidig und die dicke Laubschicht des vergangenen Jahres dämpft seine Schritte, sodass man fast glauben möchte, er schwebe durch den Wald. Wenn das sanfte Licht der Sterne seinen Weg bis unter die tief herabgezogene Kapuze finden würde, könnte es ein wehmütiges Lächeln enthüllen.

Der Schatten erinnert sich an die unbeschwerten Tage seiner frühen Jugend, an denen er mit kindlichem Eifer all die verschlungenen Pfade und geheimnisvollen Höhlen des Bergmassives erforschte. Zahllose Stunden verbrachte er in diesem Wald, auf der Suche nach dem sagenhaften Einhorn oder einem geheimen Tanzplatz der Elfen. Doch nie waren ihm die magischen Geschöpfe aus den Erzählungen seiner Mutter begegnet.

Heute Nacht wird sich dies ändern. Seine Hand streicht unbewusst über sein Lederwams. Sicher verwahrt ruhen dort die wertvollen Pergamentblätter, ganz nah an der Stelle, an der sich einst sein Herz befand. Durch Zufall ist er auf diese Zeilen gestoßen, die über das Unglück berichten, welches ahnungslosen Reisenden widerfahren ist, die von betörenden Elfen in ihr Reich des Vergessens gelockt wurden.

Nun, dieses Unglück ist für ihn der Schlüssel zur Erlösung.

Sein Lächeln verzieht sich zu einem ironischen Grinsen. Sollte heute, in dieser besonderen Nacht, ein verirrter Wanderer mit einem zufälligen Blick die verhüllte Gestalt bemerken, so würde er annehmen, ein Wesen aus der Geisterwelt hätte sich erhoben, um seine ruhelosen Kreise zu ziehen. Und der Wald der Feen hätte eine neue Geschichte um seine mystische Aura.

An der nächsten Biegung des Weges tritt er einen Schritt zur Seite, lehnt sich an den zerfurchten Stamm einer Schwarzerle und verschmilzt mit ihm in der Dunkelheit. Sein Blick geht abwärts, sucht das glitzernde Band des Gwyllt und folgt ihm durch die Hügel in Richtung des Ozeans. Dort hinten stürzt sich der bis dahin ruhige und behäbige Fluss mit einem spektakulären Sprung aus dreißig Metern Höhe ins Meer. Wenn der Wind von der See herüberweht, kann man das Donnern des Wasserfalls zwischen dem Rauschen der Brandung vernehmen.

Tief atmet er die nächtliche Kühle ein. Heute liegt kein salziger Geschmack nach Meeresluft darin. Es riecht nach Rauch. Die vielen kleinen Feuer, die auf dem gegenüberliegenden Berghang unterhalb der Burg entfacht sind, zwinkern ihm wie schalkhafte, rotglühende Koboldaugen zu.

Für eine Weile bleiben seine Augen am schemenhaften Umriss des steinernen Bauwerkes haften. Dann setzt er unbeirrt seinen Weg fort. Keiner wird ihn dort heute vermissen. An Beltane wollen die Menschen ausgelassen und fröhlich feiern. Seine Nähe verursacht den meisten Unbehagen.

Er kennt die Geschichten, die sie sich über ihn erzählen und versteht sogar, wenn sie glauben, er stünde mit dunklen Mächten im Bunde. Er ist dem Bösen begegnet, hat Böses erlebt und selbst genug Böses getan.

Verflucht sei der Tag, an dem er zu dieser unseligen Pilgerfahrt aufbrach, die in den Fängen von Sklavenhändlern endete. Unter ihrem diabolischen Drill verlor er seine Unschuld und seinen Glauben und wurde zu dem seelenlosen tödlichen Krieger, der jetzt sein Land vor jedwedem Feind beschützt. Er ist der Drache, den die Menschen verehren und fürchten.

Dennoch gönnt er den Leuten ihr Fest. Er hat sein Ziel fast erreicht. Wenn seine Pläne glücken, wird auch für ihn ein neues Leben beginnen. Ein Leben, in dem nicht nur der Frost aus den Feldern, sondern auch die eisige Kälte in seinem Inneren endlich verschwindet.

Der Schatten verlässt den schmalen Steg, der zum Bergkamm hinaufführt, klettert geschickt über ein paar einzelne Felsbrocken und tritt auf eine kleine Lichtung hinaus. Vor ihm liegt ein Taleinschnitt, vor Tausenden von Jahren durch einen Erdrutsch entstanden oder nach einer alten Legende von der Hand des Riesen Idris erschaffen, der nach einer Elfe griff, die ihn zu sehr geneckt hatte. Die Elfe flüchtete durch einen geheimen Weg in ihr Reich, doch durch die Gewalt des großen Grobians wurde der versteckte Durchgang freigelegt. Seit dieser Zeit gibt es eine als Elfentunnel oder auch Feengrotte bezeichnete Höhle, deren Eingang ihm schwarzmäulig entgegenstarrt.

Ein Nachtfalter mit schillernd blauen Flügeln tanzt vor ihm im silbernen Mondlicht.

Der Schatten zögert einen Moment. Ausgerechnet er, der jeden Glauben verloren hat, will heute Nacht die Götter herausfordern. Mit einem leichten Schnauben verscheucht er die Anwandlung von Furcht. Was soll ihm groß passieren? Das Himmelreich ist ihm längst versagt und durch die Hölle war er schon gegangen. Entweder erhören ihn die Mächte früherer Zeiten oder er ist den Hirngespinsten eines verrückten Mönches aufgesessen.

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