Kapitel 6: Im Ascheregen
Ich stehe im Eingangbereich meiner Schule und warte auf Manu. Plötzlich werde ich von hinten in den Rücken gestoßen. Erschrocken drehe ich mich um. Vor mir steht ein Junge, den ich zu meinem Übel kenne. Cair sieht spöttisch auf mich herab. Er ist zwei Meter groß, schätze ich, und eine Schrankwand in Person. Seine straßenköterblonden Haare sind ungekämmt und stehen in alle Richtungen ab, seine grünen Augen blitzen aggressiv und er wirkt allgemein als wäre er auf Ärger aus. Shit! Warum muss ich ausgerechnet jetzt Cair in die Quere kommen? Der Typ hasst mich -aus welchem Grund auch immer- und macht mir mit Vergnügen das Leben schwer, wo er nur kann. Glücklicherweise ist er einen Jahrgang über mir, sodass wir hoffentlich nie in eine Klasse kommen werden. Jetzt steht er drohend vor mir, wärend sich langsam ein Kreis aus neugierigen Schülern um uns herum bildet. "Machst du dir schon in die Hose, Kleiner?", zischelt er mit seinem komisch betonten 'r'. Er hat schon immer so gesprochen, keine Ahnung warum. Vielleicht hat ihn mal jemand bei einer Prügelei am Kiefer verletzt oder er findet das einfach cool. Oder ein angeborener Sprachfehler. Keine Ahnung. Ich antworte nicht auf seine idiotische Frage, denn das würde es nur noch schlimmer machen. "Ignorierst du mich etwa? Wie gemein. Ich werd dich schon noch zum Reden bringen. Oder eher zum Heulen", säuselt er arrogant herum. Dieser Kerl ist einfach widerlich. Cairs Augen sind an sich nicht widerlich, nur der Ausdruck darin und dieses Glitzern; wie ich es hasse, hasse, dass ich Angst davor habe. Er macht einen Schritt auf mich zu. Und noch einen. Und ich weiche einen zurück. Und noch einen. Ich weiß nicht was ich tun soll. In meinem Kopf fahren meine Gedanken Karussell. Ich weiß, physisch habe ich keine Chance gegen den Schrank vor mir. Und mit Worten würde ich nur ein blaues Auge provozieren. Ich sitze also in der Klemme. Aber vielleicht habe ich ja Glück... ganz vielleicht kommt ein Lehrer vorbei. Cair kommt so nahe, dass ich seinen nach billiger Zahnpasta riechenden Atem in meinem Gesicht spüre. Er grinst und pickt mir seinen Zeigefinger an die Stirn. Ich verstehe nicht so recht und bleibe einfach regungslos. "Bist du ohnmächtig geworden?", zischelt er, "Hmm, ich könnte ja versuchen, dich mit einer Schelle oder einem Haken wiederzubeleben...". Cair führt diese Art Selbstgespräch recht gern, glaube ich. Ich bewege mich immer noch nicht. Auch dann nicht, als ich sehe, wie er in einer übertrieben ausholenden Bewegung den linken Arm hebt. Plötzlich sehe ich seine andere Hand auf mich zu schnellen und ducke mich. Aber zu langsam, denn ich spüre mein linkes Schlüsselbein brennen und fliege auf den Boden, aber ich spüren nicht mehr richtig, wie aufkomme. Wenigstens hat er nicht meinen Hals getroffen, auf den er gezielt hatte. Das hätte mich erstmal ausgeknockt. Aber selbst jetzt sehe ich erstmal gar nix, Cair hat scheinbar stärker getroffen, als erwartet.
"Was ist hier los?!" schallt die Stimme der Direktorin durch die Menge zu uns. Ich sehe wie ein Mädchen zu ihr geht und auf sie einredet. Ich kann nicht erkennen, wer es ist, den vor meinen Augen dreht sich immer noch alles und ist irgendwie verschwommen. Die Direktorin blickt von ihrem Gegenüber zu Cair und mir und wieder zurück. So viel kann ich doch noch sehen. Sie nickt langsam und scheint nachzudenken. "Cair in mein Büro. Sofort. Und Jo zur Schwester", herrscht sie uns an. Die Schwester ist eine Krankenschwester, die hier bei uns an der Schule arbeitet. Sie hat ein kleines Zimmer am Ende eines düsteren Flurs. Dort geht keiner je freiwillig hin. Auch ich nicht. Ich war noch nie bei der Schwester. Mühsam stehe ich auf und gehe los. Doch zu meinem Erstaunen merke ich, dass mir jemand nachläuft. Ich drehe mich um und sehe das Mädchen. Das Mädchen ist Lavena. "Es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen habe", sagt sie leise. Ich bin verwirrt. "Hä, dafür brauchst du dich doch nicht entschuldigen. Das ist Cair- wenn der rausbekommt, dass du ihn bei der Direx verpfiffen hast, wird der eh auf 180 sein" höre ich mich mit ruhiger, irgendwie gefühlslos tauber Stimme sagen. Ich bekomme nur ein "Hmm" als Antwort. Dann stehe ich auch schon vor der Tür der Schwester. Ich drehe mich um und will mich von meiner Begeleiterin verabschieden, doch sie ist nicht mehr da. Das trifft mich fast genauso hart, wie Cair's Schlag vorhin. Ich drehe mich wieder zur Tür und trete ein.
Die Frau, die dort, aus welchen Gründen auch immer, sitzt und Dinge sortiert, von denen ich keine Ahnung habe, ist noch jung. Ich dachte immer, sie wäre eine alte Hexe, aber sie scheint kaum älter als zwanzig. Sie lächelt schief, als sie meinen verwirrten Blick sieht. "Ich bin Larin. Und du bist wer?" stellt sie sich vor. "Jo" antworte ich einsilbig. "Du siehst mir aber nicht nach einem Schulschläger aus. Bist du die Treppe runtergefallen? Oder einfach nur ein Magen-Darm-Infekt?" Larin grinst mich an "Bei einem Magen-Darm-In.." "Keins davon. Opfer von Cair." unterbreche ich sie unwirsch. "Oh... tut mir leid. Der alte Ar- upsi, sowas darf ich gar nicht sagen." Sie sieht mich mitfühlend an. "Wo hat er dich erwischt?" Ich tippe gedankenverloren auf mein Schlüsselbein und zucke prompt zusammen. Larin entwischt ein Kichern. Ich blicke sie böse an, muss aber mitkichern. Sie sieht sich mein Schlüsselbein an und entlässt mich dann, mit der Mahnung, vorsichtig zu sein und die Schwellung jeden Tag mindestens einmal mit der Salbe, die sie mir gegeben hat, zu behandeln. Ich gehe zu meinem Klassenzimmer. Auf dem Weg denke ich nach. Warum ist Lavena einfach gegangen? Musste sie zurück zum Unterricht oder hatte sie einfach keinen Bock mehr auf mich? Vielleicht war ich zu kühl, als sie sich entschuldigt hat. Und warum will ich das eigentlich wissen? Also ich das Klassenzimmer betrete, starren mich ungefähr 30 Augenpaare an. Als ich mich an meinen Platz gesetzt habe, sieht mich niemand mehr an. Außer zwei Augen, die mir sehr gut bekannt sind. Und ich blicke direkt in diese beiden Augen.
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