Oneshot - Plötzlich Onkel
Hunger. Das war das Erste, was ihm nach dem Aufwachen in den Sinn kam. Schon seit Tagen knurrte sein Magen durchgehend, fast wie er in seiner Animagusgestalt. Er glaubte, die Auroren endgültig in die falsche Richtung gelockt zu haben, die fingierten Spuren würden seine Verfolger nach Nordamerika locken. Dennoch war es gefährlich, auch nur daran zu denken, nach London zu gehen. Dort war die Zentrale des Zaubereiministeriums, der Menschen, die ihn jagten.
In einem Anflug von Verzweifelung zog er sich an den verzottelten Haaren. Wie einfach alles wäre, hätten sie ihm zugehört. Hätten ihm einmal Beachtung geschenkt. Stattdessen waren mal wieder alle Feuer und Flamme gewesen, sämtliche Schuld auf einen Black abwälzen zu können. Er hatte regelrecht die Verachtung im Blick des Ministeriumsmitarbeiters auf sich brennen spüren können, als der ihn mit gehässigem Grinsen in seine Zelle gesperrt hatte. In die Zelle, aus der er zwölf Jahre lang nicht herausgekommen war, keine einzige Pfote vor die Tür gesetzt hatte.
Wozu auch? James und Lily waren gestorben - noch dazu wegen seiner Fehler, was er sich nie würde verzeihen können. Er verdiente es, bestraft zu werden, wollte geradezu bestraft werden, um dem nagenden schlechten Gewissen etwas entgegensetzen zu können.
Kurz dachte er an Remus, seinen einzigen, noch lebenden Freund. Aber auch er hatte sich nicht um ihn bemüht, nur allzu gerne an seinen Verrat geglaubt. Allerdings ... konnte Sirius es ihm verübeln? Selbst wenn Moony sich für ihn eingesetzt hätte, wer hätte einem halbstarken Werwolf schon geglaubt?
Vermutlich ebenso viele, wie die, die ihm geglaubt und geholfen hatten. Exakt null.
Er schüttelte den Kopf und verbannte die Gedanken in die übliche Ecke seines Kopfes, in der das Gedankenkarussell nie anhielt und ihm ständig Vorwürfe machte.
Jetzt aber hatte er ein Ziel. Er musste Harry finden, den Jungen, der überlebte. Den Sohn seines besten Freundes. An dessen Tod er schuld war. Grr, schon wieder diese vermaledeiten Gedanken! Er wünschte sich ein Denkarium, wie er es als Schüler beim einem seiner vielen Aufenthalte in Dumbledores Büro gesehen hatte. Endlich einmal einen klaren Gedanken fassen können.
Sein Magen knurrte wieder. Es erinnerte ihn daran, dass er vor allem Anderen erstmal etwas Essbares auftreiben sollte. Irgendwo würde schon ein Mülleimer mit Essensresten zu finden sein oder eine unvorsichtige Ratte. Er grauste sich davor, was aus ihm geworden war. Das ehemals vornehm gelockte, stets perfekt frisierte Haar hing in verfilzten Strähnen hinab, die wohl nicht mal mit dem besten Zauberspruch zu entwirren waren. Einen Spiegel hatte er nicht. Darüber war er sehr froh.
Einige Fahndungsplakate hatte er in einem kleinen Dörfchen auf der Suche nach Nahrung gesehen. Er war beinahe zu Tode erschrocken, als er seinen Namen unter dem Bild des verwahrlosten Mannes mit wilden Augen las. Unterschied ihn wirklich so wenig von einem Skelett?
Apropos Skelett, er wollte ja nach Essen suchen. Er rappelte sich auf und kroch aus der windgeschützten Kuhle zwischen einem Baum und einem Strauch. Ein letztes Mal streckte er seine knackenden Knochen aus, dann verwandelte er sich in seinen Animagus. Der wuschelige Hund würde nicht weiter auffallen, eben ein Streuner, wie es sie in Großstädten wie London immer wieder mal gab. Einzig vor den Tierfängern musste er sich in Acht nehmen.
Nach einem kleinen Zwischenstopp bei den Mülltonnen einer Metzgerei im nächsten Städtchen nahm er Kurs auf London. Das Risiko, entdeckt und geschnappt zu werden, nahm er in Kauf, er hatte etwas Größeres vor.
Schlimm genug, dass er Harry nicht schon in Little Whinging hatte warnen können und sich sein Patensohn vor ihm erschreckt zu haben schien. Jetzt sollte nichts schiefgehen. Er trabte weiterhin in seiner Hundsgestalt am Bahnhof King's Cross herum und besah sich unauffällig die Menschen. Doch keiner sah aus wie ein kleiner, schwarzhaariger Junge, der solch fatale Ähnlichkeit zu James hatte.
Schließlich entschied er sich, dass er erfolgsversprechender war, direkt vor der magischen Schranke zu warten. Sonst entwischte ihm Harry möglicherweise erneut. Daran, wie er seinen Patensohn dazu bekommen wollte, ihm zuzuhören, dachte er erst gar nicht.
Da! Er hatte etwas entdeckt. Ein große Schar an Menschen mit roten Haaren schob sich und ihre großen Koffer, auf denen so manche Eule thronte, durch die Menge, hin zur Wand zwischen Gleis neun und zehn. Vor seinem inneren Auge beschwor er das Bild im Tagespropheten herauf und verglich es mit der unbestreitbar magischen Familie vor sich. Ja, das waren sie.
Auch die Ratte konnte er entdecken. Sie lugte aus der Brusttasche des Rotschopfs, der sie auch schon auf dem Foto in seinen Händen hielt. Das war seine Chance! Er würde dem elenden Verräter endgültig den Garaus machen! Zeit für Erklärungen gab es später noch genug.
Er galoppierte los, seine Pfoten trommelten in einem steten Rhythmus über den dreckigen Bahnhofsboden. Dann jedoch entdeckte er etwas, was ihn eine Vollbremsung hinlegen ließ. Fast hätte er sich sogar überschlagen.
Dort, neben einer kräftigen, rothaarigen Frau, stand ein großes Mädchen mit dunklen Locken, die ihr bleiches Gesicht einrahmten. Er war vielleicht zehn Meter von ihr entfernt, aber sie schien ihn nicht bemerkt zu haben. Stattdessen beobachtete sie die kleiner werdende Schlange an Rothaarigen, die immer paarweise durch die Absperrung verschwanden.
Im Gehirn des schwarzen Hundes ratterte es. Wie alt sie wohl sein mochte? Vielleicht zwölf, dreizehn, vierzehn? Fieberhaft überlegte er, ob er als ihr Vater in Betracht käme. Womöglich war sie die Tochter einer seiner Liebschaften, die er unterhalten hatte, als er noch jung und unfassbar naiv und dumm gewesen war. Wenn das tatsächlich so war, wusste sie bestimmt nicht, dass er ihr Vater war. Welche Frau gab schon zu, etwas mit einem Massenmörder gehabt zu haben, Liebe für jemandem empfunden zu haben, der sie offenbar selbst nicht spürte?
Aber das konnte eigentlich nicht sein. Blieben zwei Möglichkeiten. Entweder, seine Cousine Bellatrix hatte sich vermehrt, was die fatale Ähnlichkeit zwischen den beiden erklärte und er im Sinne der Allgemeinheit hoffte, ausschließen zu können, oder ... oder er war unwissentlich Onkel geworden.
Hatte sein jüngerer Bruder tatsächlich eine Partnerin gefunden? Zumindest früher hatte er an Beziehungen aller Art wenig Interesse gehabt, was seine Freundschaft mit Schniefelus erklärte. Eigentlich hatte er nur mit den Menschen Kontakt gehabt, die ihrer beider Eltern für geeignet hielten. Tja, das hatte ihm wohl letztlich den Tod gebracht.
Während Sirius immer noch darüber grübelte, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zu ihm stand, wurde die Schlange der Rothaarigen immer kleiner. Er bemerkte kaum, wie der Junge mit der Ratte hinter der Absperrung verschwand und somit auch seine einzige Chance auf Gerechtigkeit.
Aber er hatte nicht das Gefühl, irgendwohin zu können, während das Mädchen direkt vor ihm, in so greifbarer Nähe stand. Seine Verwandte, vielleicht die einzige Familie, die ihm noch blieb. Wobei sie wohl nach den Idealen der Todesser erzogen worden war, wenn sie Regulus oder Bellatrix Tochter war. Allerdings ... konnte sie wirklich böse sein, wenn sie doch so unschuldig über einen Scherz der Zwillinge neben sich lachte? Wenn sie sich mit den Weasleys, der Blutsverräterfamilie überhaupt abgab?
Wohl eher nicht. Trotzdem wusste er nicht, was er tun sollte. Zu ihr hinübergehen, seine Menschengestalt annehmen und sie lässig nach ihren Eltern fragen? Wäre er noch immer siebzehn gewesen und hätte ihm höchstens eine Strafarbeit gedroht, wäre exakt das wohl sein Vorgehen gewesen. So aber durfte er kein Risiko eingehen, noch einmal würde ihm eine Flucht aus Askaban wohl nicht gelingen.
Die rundliche Frau und seine unbekannte Verwandte waren nun die letzten vor der Absperrung. Betont entspannt lehnten sie sich mit den Rücken gegen die Backsteinmauer und ließen den Blick über den Bahnsteig schweifen.
Der Blick aus ihren grauen Augen fiel exakt in dem Moment auf den verfilzten, schwarzen Hund, als ein kleines Mädchen ihn auf einmal hinter den Ohren streichelte. Sie schaute ihn unverwandt und mit Neugier im Blick an, während sie durch die Absperrung glitt und schließlich nicht mehr zu sehen war.
Das Muggelmädchen wurde von seinem Vater vom verwahrlosten Hund fortgezogen und verschwand in der Menge. Doch der Hund blieb sitzen, wo er war. Ihm war aufgegangen, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die beiden zueinander standen.
Der Blick aus ihren grauen Augen war der gleiche gewesen, mit dem Regulus ihn immer angesehen hatte, als er noch der große, coole Bruder gewesen war, mit dem er Abenteuer bestand, und nicht der Verräter aller Familienwerte. Es musste einfach seine Tochter sein.
Das machte Sirius zu ihrem Onkel. Es war, als würde ein Puzzleteil plötzlich seinen Platz finden, als hätte er einen neuen Sinn im Leben gefunden. Nun gab es jemanden, für den es sich wirklich lohnte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er konnte verhindern, dass sich die Geschichte wiederholte, wenn er sie von seinen Werten überzeugen konnte, wenn er sie unter seine Fittiche nahm. Ihr würde nicht das gleiche Schicksal widerfahren wie seinem Bruder, ihrem Vater.
Vielleicht würde sie ihn sogar mögen, ihn für einen coolen Onkel halten, wenn er ihr erst alles erzählt hatte. Schon jetzt stellte er sich vor, wie sie gemeinsam alles richtig und sich gegen die Todesser stellten.
Natürlich gab es auch noch Harry, aber würde sein Patensohn ihm den Tod seiner Eltern vergeben können, wenn er es noch nicht einmal selbst konnte? Sirius wusste es nicht. Aber er wusste, dass er die beiden auf jeden Fall beschützen musste. Und dafür blieb ihm kein anderer Weg, als an die einzige Heimat seiner Kindheit zurückzukehren, die ihm noch geblieben war. Hogwarts. Sein Magen knurrte. Diesmal allerdings vor Tatendrang.
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