Kapitel 2
Montagmorgen
"Da bist du ja!", begrüßte mich Johanna, als ich ankam. "Wo warst du denn?"
Ich versuchte, sie zu besänftigen. "Beruhige dich, es fehlen doch noch mindestens fünf Leute!"
"Ich weiß, sorry. Aber ich bin so aufgeregt!", quietschte sie. Ich konnte ihr nur zustimmen und sah mich um. Inzwischen waren außer Saskia und Laura alle da.
"Fünf Minuten haben sie noch", murmelte ich, auf die Uhr blickend. Da kam endlich ein Auto angefahren, gleich dahinter ein zweites.
"Wo habt ihr denn gesteckt!?", fragte Lea.
"Wir hatten vergessen, dass da diese dämliche Baustelle ist, und mussten einen riesigen Umweg fahren!", brachte Saskia heraus.
"Diese Baustelle ist einfach so unnötig!", bekräftigte Marina. "Was hat das für einen Sinn, eine dritte Spur zu bauen, wenn dort sowieso fast niemand abbiegt?"
"Sag das mal der Gemeinde", stellte Ben resigniert fest. "Hey, der Bus kommt!"
Tatsächlich, er bog gerade vor der Schule ein und parkte. Die Tür ging auf und der Busfahrer stieg aus.
"Ist das nicht derselbe, der uns nach England gefahren hat?", fragte ich Johanna leise.
"Stimmt! Vermutlich haben sie ihn gefragt, weil er eben schon mal mit uns auskommen musste." Wir lachten leise.
Währenddessen hatten die anderen bereits begonnen, ihre Koffer in die Gepäckräume im unteren Teil des Busses zu schlichten. Wir legten unsere ebenfalls dazu und stiegen in den Bus.
Sobald wir losgefahren waren, richtete der Busfahrer das Wort an uns: "Also, da nach meiner Zählung alle da sind, möchte ich euch herzlich begrüßen. Eure Lehrer haben mich gebeten, auch am Flughafen noch ein Auge auf euch zu haben. Ich bitte euch also, wenn ihr etwas anstellen wollt, dann tut das erst im Flieger. Na, eine fröhliche Fahrt!"
Er schaltete das Mikro aus.
Während der Fahrt lasen Jo und ich hauptsächlich, während die anderen entweder Musik hörten oder miteinander redeten. Einer jedoch hatte etwas anderes vor.
"Ist das dein Ernst!? Wie kannst du jetzt schon wieder essen?", fragte Lea gleichzeitig entsetzt und belustigt.
"Was denn? Ich hab Hunger!", redete sich Ben heraus. Er hatte gerade begonnen, betont unauffällig ein belegtes Brot aus seinem Rucksack zu ziehen. Wir verdrehten die Augen. Das war typisch.
Wir schlugen die Zeit tot, indem wir Musik hörten, lasen oder über irgendwelche belanglosen Dinge redeten. Diese ganze Sache schien uns noch zu unrealistisch und es war definitiv zu früh am Tag, um über das zu reden, was uns erwartete. Einige, wie Lena, Mira, Philipp und Laura schliefen auch. Wenn ich nicht immer Kopfschmerzen bekommen würde, wenn ich tagsüber einschlief, wäre das für mich auch keine schlechte Idee gewesen. So aber genoss ich die Stille im Bus und verbrachte die Zeit damit, Bartimäus zu lesen.
Als wir am Flughafen ankamen, waren alle auf einen Schlag wieder hellwach und die Anspannung im Bus war fast greifbar. „So, ihr habt jetzt eine Stunde Zeit, bis ihr zum Flieger müsst. Wir treffen uns also in einer halben Stunde da vorne wieder, okay?", meinte der Busfahrer. Wir stimmten zu und verließen den Bus.
„Was machen wir jetzt?", fragte Cari ein wenig ratlos. Etwa die Hälfte von uns war schon losgezogen, munter schwatzend und wahrscheinlich auf dem Weg zum McDonalds.
„Wie wär's, wenn wir auch was essen gehen? So wie ich das Essen im Flieger kenne, gibt es dort entweder gar nichts oder irgendwelche 08/15-Sandwiches mit Monate altem Salat aus der Tiefkühltruhe!", schlug Marina vor. Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen und wir machten uns auf den Weg, die anderen einzuholen.
Während wir aßen, stieg die Anspannung wieder. Wir waren kurz davor, zu einem Land/einer Stadt zu fliegen, von der wir vorher noch nie etwas gehört hatten, um dort ein Jahr von Lehrern in Fächern unterrichtet zu werden, die uns anscheinend auch neu vorkommen würden. Natürlich freuten wir uns auch auf die andere Schule, aber dennoch waren wir alle ziemlich nervös.
Nach dreißig Minuten machten wir uns auf den Weg zum Treffpunkt. Jetzt sahen wir auch, wieso wir uns so viel Zeit lassen konnten: Außer uns würde niemand diesen Flug nehmen. Verständlich, da wir schließlich gesagt bekommen hatten, wir seien die erste Klasse die das hier tun würde.
Nachdem der Busfahrer durchgezählt hatte, zeigte er uns, wo wir hinmussten, und verabschiedete sich. „Wenn ihr auf dem Flug oder auch in der Schule Probleme habt, könnt ihr jederzeit in der Schule anrufen. Wie gesagt, im Flieger ist niemand außer den Piloten und euch, benehmt euch also bitte. Eine gute Reise!"
Wir verabschiedeten uns von ihm und gingen durch die Kontrollen. Nachdem unser Flug aufgerufen worden war, machten wir uns endlich auf den Weg zum Flugzeug.
„Wahnsinn!", staunte Lena. Damit hatten wir nicht gerechnet. Der Flieger war geräumig, die aneinandergereihten Sitze fehlten. Dafür standen an die zwanzig Sessel herum, immer vier um einen kleinen Tisch. Es gab außerdem etwas, das wie ein Kühlschrank aussah, und einen riesigen Fernseher mit DVDs.
„Sind wir hier im falschen Flieger gelandet?", fragte Tonja unsicher. Da erklang aber schon eine Stimme aus dem Lautsprecher.
„Herzlich willkommen zu unserem Flug nach Bruchtal, liebe Schüler und Schülerinnen! Ich bitte euch, für den Start und die Landung sitzen zu bleiben und euch anzuschnallen. Keine Sorge, die Sessel sind so befestigt, dass sie auch bei den heftigsten Turbulenzen nicht umfallen!" Sehr beruhigend. Der Pilot fuhr fort: „Sobald wir in der Luft sind, könnt ihr selbstverständlich aufstehen. Wie ihr vielleicht schon gesehen habt, gibt es im Kühlschrank freies Essen und Getränke. Ich bitte euch aber, das Flugzeug später genauso zu verlassen, wie es jetzt aussieht. Danke fürs Zuhören und ich wünsche uns einen guten Flug!"
Mit diesen Worten knackte der Lautsprecher einmal und verstummte. Etwas unsicher setzten wir uns hin. Niemandem war zum Reden zumute. Nach ein paar Minuten sahen wir, wie die Start- und Landebahn an uns vorbeizog. Das Flugzeug schien ewig zu brauchen, bis es sich mit einem hörbaren Donnern steil in die Luft erhob. Mein Magen zog sich zusammen wie bei einer Fahrt mit der Achterbahn. Einerseits hasste ich dieses Gefühl, andererseits liebte ich es.
Als ich mich umsah bemerkte ich, dass einige andere das Ganze nicht so gelassen sahen. Cara und Johanna saßen mit bleichen Gesichtern und in ihre Sitze gepresst da, auch Lena schien es nicht besonders gut zu gehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren wir hoch genug, sodass das Flugzeug sich wieder gerade stellte.
"Alles okay?", fragte Philipp besorgt. Johanna und Cara nickten blass , Lena sah schon wieder normal aus.
"Wieso sind wir überhaupt mit?", fragte sich Saskia laut. "Ich meine, bis jetzt scheint ja alles okay zu sein... aber nicht einmal unsere Schule selbst wusste viel über diese Sache. Wieso seid ihr mitgekommen?"
Ich sah auf. Johanna und ich waren mitgekommen, weil es ein atemberaubendes Angebot gewesen war und wir uns darauf gefreut hatten, eine andere Schule, andere Lehrer und auch eine andere Umgebung kennenzulernen. Und weil wir nun einmal Fangirls waren und das Gefühl nicht loswurden, dass dieser Ort nicht umsonst Bruchtal hieß. Aber das konnte ich schlecht sagen.
"Also, ich wollte auch einmal etwas Abwechslung im normalen Schulalltag haben", verkündete Adelina. "Ist euch aufgefallen, dass man sich am Ende des Jahres kaum noch an den Unterricht erinnern kann, weil er immer so eintönig ist und einem immer dasselbe erzählt wird? Dass der Alltag vor allem in den höheren Klassen nur aus Lernen besteht? Und den Lehrern, die schon letztes Jahr in der Neunten die Angst vor den Abschlussprüfungen so geschürt haben, dass man schon jetzt nur noch Panik hat?"
Uns fiel auf, dass wir alle ungefähr dasselbe gedacht hatten. Dass wir aus diesem Theater endlich mal raus mussten, dass wir eine Pause brauchten, um endlich einmal Luft holen zu können.
Wir kuschelten uns alle in die Sessel und Laura fragte: "Hat irgendjemand Lust, einen Film zu schauen?"
"Wieso nicht?", gab Adelina schulterzuckend zurück. "Was sind denn das für Filme da unten?"
Philipp, der dem Fernseher am nächsten saß, sah sie sich an. "Herr der Ringe, alle drei, der Hobbit, auch alle drei, die drei Musketiere, alle Harry Potter- Filme, Kingsman: The secret service und Hogfather."
"Kingsman? Was ist das für ein Film?", fragte Mira neugierig.
"Der ist ziemlich brutal aber auch total gut, eine Actionfilm-Parodie.", erklärte ich.
Carina verzog das Gesicht. "Ne, lieber nicht. Wie wärs denn mit Harry Potter Fünf?"
"Nie im Leben!", war Lauras Reaktion. "Alle, die für Harry Potter sind", verkündete Johanna. Alle außer Laura und Ben meldeten sich. "Okay. Überstimmt", meinte Jo grinsend und legte den Film ein.
Nach vier Stunden stellten wir fest, dass uns noch nie so langweilig gewesen war. Wir hatten Harry Potter 5 und die drei Musketiere geguckt, trotz einiger Proteste sogar Kingsman angefangen, der dann doch allen gefallen hatte. Zwischendurch hatte sich Ben an den Kühlschrank gewagt und herausgefunden, dass das hier definitiv nicht das typische Flugzeugessen war. Es gab Brötchen, die mit Wurst und Käse belegt waren und richtig gut schmeckten, dazu Orangensaft, Cola und Limo, zum krönenden Abschluss fanden wir im untersten Fach bergeweise Eis.
"So viel Essen hab ich in einem Flugzeug noch nicht einmal gesehen!", beschwerte sich Cara.
"Hat der Pilot vorhin nicht gesagt, dass das kostenlos ist?", fragte Ebru neugierig.
"Egal", entschied Ben und schnappte sich ein Brötchen. Wir anderen griffen auch zu und setzten uns wieder.
"Was machen wir jetzt?", fragte Nico ratlos. Wir hatten alle aufgegessen und waren satt, auch dank dem Eis. Bevor jemand die Gelegenheit hatte, ihm zu antworten, zog sich ein plötzlicher Ruck durch das gesamte Flugzeug. Irgendjemand schrie auf. Inzwischen schlingerte das Flugzeug, nicht so sehr, dass uns schlecht wurde, aber doch stark genug um uns zu beunruhigen.
"Was war das?", fragte Lea leicht panisch. Ich sah aus dem Fenster. Und entdeckte... nichts. Vor den Fenstern war alles schwarz. Wie konnte das sein? Es konnte gerade einmal zwei Uhr sein!
"Schaut mal aus dem Fenster", schlug ich den anderen vor. Inzwischen zogen sich helle Streifen durch die schwarze Dunkelheit, definitiv schneller als es die Wolken vorhin getan hatten.
"Was zum Teufel passiert hier?!", wollte Cara wissen. Sobald sie geendet hatte, war es auch schon wieder vorbei. Wir stürzten zu den Fenstern und sahen nach unten. Das Flugzeug flog viel tiefer als normalerweise. Der Himmel war wieder blau und unter uns konnten wir nun Häuser erkennen. Obwohl es keine richtigen Häuser waren, es erinnerte eher an einen bestimmten Film...
"Scheiße, Johanna... entweder, da hat jemand das Auenland sehr detailgetreu nachgebaut, oder..."
Wir sahen uns an. Beide versuchten wir, die Hoffnung zu unterdrücken, dass das, was wir eben gesehen hatten, der Realität entsprach. Es war albern, zu denken, es könnte Mittelerde tatsächlich geben. Andererseits... manchmal machte es auch einfach Spaß, albern zu sein.
"Ich schlage vor, wir warten bis wir gelandet sind, und schauen dann ob wir recht hatten", gab Johanna unsicher zurück.
"Wovon redet ihr zwei eigentlich?", wollte Ebru wissen. Wir setzten uns wieder auf unsere Plätze und Johanna und ich erzählten ihnen von unserem Verdacht.
"Ich will ja nicht eure Hoffnungen zerstören... aber ihr wisst, wie unrealistisch das ist?", meinte Adelina nachdenklich. "Noch dazu wäre es komplett unfair, wenn ihr mehr über das Ganze wüsstet als wir!"
"Ich hab die Filme auch gesehen!", meldete sich Saskia zu Wort. Meine beste Freundin war überrascht, genau wie ich. "Echt? Das haben wir gar nicht gewusst! Wen magst du am liebsten?" Natürlich wurde sie sofort von uns befragt.
"Die Hobbits, die haben ihren Humor nie verloren, vor allem Pippin nicht. Und die Elben natürlich!"
"Jetzt gehörst du auch schon zu diesen Freaks!" Mira schüttelte gespielt traurig den Kopf. "Was soll nur aus dir werden? Und vor allem: Was zum Teufel ist an Herr der Ringe so toll?!"
"Wie wär's?", schlug ich Johanna vor. "Sollen wir es ihnen zeigen?" Sie war begeistert und so verbrachten wir die letzte Stunde im Flugzeug damit, unseren Mitschülern Ausschnitte aus Herr der Ringe und dem Hobbit zu zeigen und ihnen Mittelerde zu erklären.
"Und das hat alles ein Autor erfunden?", fragte Laura geplättet, als wir mit unseren Erläuterungen fertig waren. Vermutlich hatten wir soeben einige Personen für Tolkien begeistert.
"Und dabei haben wir vom Silmarillion noch nicht einmal was erzählt!", stimmte ich zu. "Tolkien muss einfach... wahnsinnig viel Fantasie gehabt haben. Und er war sehr sprachbegabt, schließlich hat er das ganze nur erfunden, um seiner neuen Sprache eine Geschichte zu geben, glaub ich."
Sie waren definitiv beeindruckt. Bevor wir uns allerdings weiter über Tolkiens Werke auslassen konnten, meldete sich der Pilot wieder. "So, in Kürze erreichen wir unseren Landeplatz. Bitte nehmt alle Sachen mit, ihr werdet dieses Flugzeug erst in einem Jahr wiedersehen. Ich werde euch noch zum Schulleiter begleiten, wenn ihr ausgestiegen seid, wartet ihr also bitte noch kurz auf mich. Bis gleich."
Auf einmal war die gelöste Stimmung wieder erdrückend angespannt geworden. Als wir langsam landeten, sammelten wir alle unsere Sachen wieder zusammen, die sich auf wundersame Weise im ganzen Flugzeug verteilt hatten. Niemand sprach ein Wort.
Als wir schließlich mit unseren Koffern vor der Tür standen, ertönte ein piepsendes Geräusch. Alle zuckten zusammen, dabei war es nur die Flugzeugtür, die aufging. Ich stand relativ weit hinten, daher konnte ich noch nicht sehen, was die anderen so beeindruckte. Ich hörte nur ein "Wow, ist das schön!" und ein "Kennen wir das irgendwoher?" hören, dann waren wir schon ausgestiegen. Das Licht blendete mich zuerst so sehr, dass ich nichts außer dem grauen Asphalt unter meinen Füßen erkennen konnte.
Dann aber gewöhnten sich meine Augen an den Anblick... und ich konnte nur an ein Wort denken:
Bruchtal.
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