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„Ist dir eigentlich bewusst, wie schnell du geworden bist?", fragte ich Marlene als wir, wie an jedem zweiten Tag, gemeinsam um den See liefen.
Sie fing an zu lächeln. „Wirklich oder sagst du das nur so?"
„Das mein völliger ernst!", versicherte ich ihr. „Du bist so viel besser geworden!"
„Danke, das bedeutet mir viel!"
„Aber sag mal, Marlene..."
„Ja?"
„Macht es dir denn Spaß?", fragte ich. „Oder machst du das immer noch nur, weil du abnehmen möchtest?"
Überrascht blieb sie stehen und schaute mich an, blieb dabei aber stumm.
Ohne sie aus den Augen zu lassen setzte ich mich auf einen umgefallenen Baumstamm und bedeutete ihr sich neben mich zu setzen. Der Himmel war grau und die dunklen Wolken ließen vermuten, dass wir später mit Regen zu rechnen hatten.
Lange würden wir hier nicht sitzen können, ohne dass Marlene sich eine Erkältung zuzog und das morgige Halloweenfest würde sie nicht verpassen wollen.
„Also?", hakte ich nach.
Marlene zuckte mit den Schultern und schaute stur nach vorne. „Ich weiß es nicht genau... Es macht mir schon irgendwo Spaß, aber... Ich habe mir zu Herzen genommen, was du damals gesagt hast, aber ehrlich gesagt, bin ich das Gefühl nicht vollständig los geworden... Rational weiß ich, dass du recht hast und dass ich keinen Grund habe abzunehmen. Insbesondere nicht, um den Jungs besser zu gefallen, aber ich werde die Stimme einfach nicht los... Ich habe versucht... Ich kann nicht... Ich bin nicht so wie Alice oder Lily... Mir fällt es schwer Gefühle zu zeigen... offen zu sein... und... ach, keine Ahnung..."
„Ich verstehe dich, Marlene."
„Nein, tust du nicht.", widersprach sie. „Du lässt deine Gefühle raus, du lachst unentwegt!"
„Ist das dein ernst?" Ich schnaubte amüsiert. „Mir wurde vor kurzem erst gesagt, dass ich aufhören soll zu lachen, wenn ich doch eindeutig nicht glücklich war. Man fragte mich, warum ich es nicht zeigen kann. Dass jeder Mensch doch mal schlecht drauf sein durfte..."
Marlene runzelte die Stirn.
„Mir fällt es überhaupt nicht leicht, Gefühle zuzulassen, Marlene. Es sieht vielleicht auf dem ersten Blick so aus, aber das liegt nur daran, dass ich alles andere verstecke. Ich fresse alles in mich hinein. Ich lache den ganzen Tag, aber denkst du denn wirklich, dass mir immer zu lachen zu Mute ist? Denkst du wirklich, dass ich niemals traurig bin? Niemals wütend? Niemals enttäuscht? Niemals ängstlich?"
„Ja, aber warum..."
„Ich bin kein gutes Beispiel, wenn es darum geht, echte Gefühle zu zeigen.", bemerkte ich und lächelte sie an. „Aber ich möchte dir eine Frage stellen. Eine Frage, die du ehrlich beantworten sollst. Dabei geht es nicht darum, dass du es mir erzählst, sondern darum, dass du dir selbst die Frage beantwortest."
„Welche Frage?"
„Warum?"
„Warum was?", fragte sie mit gerunzelter Stirn.
„Warum fällt es dir schwer Gefühle zuzulassen und zu zeigen?", erläuterte ich. „Wenn du den Grund kennst, dann kannst du daran arbeiten. Du kannst erkennen, ob es etwas ist, dass du verändern kannst oder nicht. Wenn du es verändern kannst, dann ist das super, aber wenn du merkst, dass es etwas ist, was du nicht verändern kannst, dann weißt du immerhin, warum du so bist, wie du bist."
„Was ist dein Grund?"
Ich seufzte. „Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber ich erzähle dir eins: Ich dachte jahrelang, dass ich einen guten Grund dafür habe und den hatte ich auch, aber ich habe vor kurzen bemerkt, dass ich es ändern kann und genau das versuche ich jetzt. Ich hoffe, dass ich meine Gefühle bald rauslassen kann, ohne Angst davor zu haben."
„Ich glaube... Also... Weißt du... Meine Eltern streiten sich ständig... Das haben sie schon immer getan.", begann sie. „Seit ich denken kann, streiten sie... Früher da habe ich mir mit Decken immer eine Höhle gebaut, um mich vor ihnen zu verstecken... Dabei war das gar nicht nötig, denn sie beachteten mich nicht. Wenn sie sich richtig stritten, dann vergaßen sie mich. Ich konnte machen was ich wollte. Wenn ich zu ihnen ging, wurde ich nur weg geschickt..."
Ich strich mit meiner Hand über ihren Oberarm.
„Denkst du... Denkst du es könnte daran liegen?"
„Ja, auf jeden Fall.", stimmte ich ihr zu. „Deine Eltern haben dir keine gesunde Beziehung vorgelebt. Es muss nicht bei jedem dazu führen, aber das kann es. Es ist gut möglich, dass du unterbewusst Angst davor hast eine enge und ehrliche Beziehung einzugehen, weil du dich davor fürchtest, dass sie so wird wie die deiner Eltern... Es ist beeindruckend, dass du das so schnell erkannt hast..."
„Das habe ich mir nicht gerade jetzt überlegt...", gestand sie. „Ich habe seit unserem letzten Gespräch darüber gegrübelt, was mein Problem ist. Ich wollte es versuchen mit den Verabredungen, aber ich hab aufgegeben, bevor ich es richtig probiert habe... Ich konnte einfach nicht..."
„Wenn du noch Zeit brauchst, dann nimm sie dir.", meinte ich. „Und in der Zwischenzeit suchst du dir ein neues Vorbild. Du suchst dir eine gesunde Beziehung, wie... wie die zwischen Alice und Frank!"
„Die beiden führen die kitschigste Beziehung, die ich je gesehen habe!"
Lachend nickte ich. „Du hast zwar recht, aber dennoch ist die Beziehung gesund und macht beide glücklich. Versuch dir immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass es auch so laufen kann und es nicht immer in einer Katastrophe enden muss."
„Was würde ich eigentlich ohne dich tun?", fragte sie und umarmte mich, bevor wir zurück zum Schloss joggten.
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