Prolog
07. November | 11:36
»Kuhschiss und Schweineleber!« Zum dritten Mal blicke ich auf die Zeiger meiner Uhr und obwohl ich all meine hypnotischen Fähigkeiten in den Blick lege, hält keiner der Zeiger seine unendlichen Runden an. Langsamer würde mir auch schon helfen, aber die Zeit ist mal wieder mein erbarmungsloser Endgegner. Wie sollte es auch anders sein? So ist es immer — und wird wohl auch für immer und alle Zeit, so lange die Zeiger der Uhr unempfänglich für meine magischen Kräfte sein mögen, genau so blieben.
Resigniert wende ich den Blick von der unheilverkündenden Uhrzeit ab und starre ins Autogewirr. Ich wäre selbst mit der verspäteten U-Bahn schneller durch die Stadt gekommen, als in dem nach Rauch müffelnden Taxi, zu dem mich mein Bruder am Telefon gezwungen hat. Die Argumente klangen sinnvoll, das Ergebnis ist alles andere als zufriedenstellend. Vor meinem Inneren-Auge sehe ich schon meine Zukunft vorbei ziehen. Der reiche Schnösel, der den Job — meinen Traumjob! — nur bekommt, weil seine Eltern mit der Chefin der Firma Golf spielen, winkt mir im maßgeschneiderten Anzug mit schmieriger Frisur zu. Und mit ihm jede Version meines Lebens, wie ich es geplant habe. Aus und vorbei. Die Großstadt hat keinen Platz für ein Bauernmädchen vom Land in ausgelatschten Convers und ihre dummen Flausen im Kopf. Schon klar. Mama wird sich freuen, dass sie recht gehabt hat. Das Studium hätte ich mir auch schenken können.
Seufzend sage ich meinen Lebenszielen Adieu.
Mit einem Ruck setzt sich das Taxi in Bewegung. So langsam, dass ich zuerst dachte, es wäre der verzweifelter Versuch meines Gehirns alles vorm Einsturz zu bewahren. Und dann schneller. Ich reiße die Augen auf. Tatsächlich. Wir fahren wieder.
Ein Blick zur Uhr. Ich kann es noch schaffen.
»Schaffen sie 12:12?« Meine Stimme überschlägt sich. Der schnauzbärtige Taxi-Fahrer mustert mich im Rückspiegel. Dann brummt er. Vielleicht sind doch noch nicht Hopfen und Malz verloren.
Breit grinsend rolle ich mit 17 Kilometer die Stunde meiner Zukunft entgegen. Aber es fühlt sich nahezu an wie Lichtgeschwindigkeit.
12:13
Fast hätte ich vergessen zu zahlen, so schnell bin ich aus dem blassgelben Auto ausgestiegen und Richtung Eingang gelaufen. Laut hupend hat der Taxi-Fahrer mich zurück bestellt. Mit etwas Verzug im Zeitplan, der keine Sekunde Puffer mehr bereit hält, steh ich endlich in der Eingangshalle. Wartend. Dabei hab ich dafür gerade echt keine Zeit.
Die aufgetakelte Empfangsdame hat mir freundlich zugenickt und mich seitdem nicht mal mehr für eine Sekunde lang beachtet. Immer mal wieder piepst sie ins Telefon. Die Stimme am anderen Ende wird, den Gesprächsfetzen nachzufolgen, wohl den Hörer nicht nur mit beruflichen Themen fluten ...
Es kostet mich viel Selbstbeherrschung nicht erneut die Uhr zu hypnotisieren. Mir fällt nur keine Alternative ein, um trotz des Fiaskos pünktlich zum Bewerbungsgespräch zu erscheinen.
Fuck. Armseliger geht es ja kaum. Dann steh ich hier aufgebrezelt im Foyer und weiß nicht einmal, welches Stockwerk ich brauche, geschweige denn, welchen Raum. Dabei fängt es schon damit an, dass ich den Aufzug nicht zuverlässig identifizieren kann.
Ich lehne mich auf den Empfang und wippe vor dem Tresen auf und ab. Ungeduld und der verzweifelte Versuch nach Aufmerksamkeit lassen mich zu solch drastischen Mitteln greifen. Zappelei macht mich fertig und ich tu alles, um andren nicht genauso auf den Sack zu gehen.
Ein weit weniger freundliches Lächel-Nicken gibt mir den Rest.
Mühsam atme ich tief ein und aus. Gut, dann eben anders.
Mit neuer Entschlossenheit drehe ich mich der offenen Halle entgegen und lehne mich gegen den Empfang. Einige Menschen sitzen in den bequem aussehenden Louge-Sesseln, aber die meisten laufen wild durcheinander. Die große Bahnhofsuhr lässt des geschäftige Treiben aussehen, wie im amerikanischen Zauberreiminesterium von den neuen Filmen. Noch 184 Sekunden. 183. 182. 181. 180. Paralysiert starre ich die Zeiger an, wie sie mit einem lauten Klack weiter wandern. 179. 178.
Und dann ist alles vorbei.
Menschen laufen durch mein Blickfeld und plötzlich werde ich ganz demütig. Das hätte ich sein können. 169.
Unvermittelt trifft mein Blick den eines Anzugträgers und hält einen Augenblick länger, dann verschwindet er hinter einer Säule und wird weiter verdeckt. Kurzentschlossen schultre ich meinen Rucksack. Mit großen Schritten eile ich der Stelle entgegen, wo ich ihm den Weg abschneiden werde. Wenn einer nicht geholfen wird, muss sie sich eben selbst helfen.
»Hey.«
Perplex blinzelt er mich an, verlangsamt aber nicht seinen Schritt.
»Hi. Kennen wir uns?«
»Noch nicht.«
Seine Mundwinkel zucken, als er mich von der Seite aus mustert. Doch bevor er irgendwas sagen kann, rede ich weiter: »Du siehst aus, als hättest du 'n Plan und ich bin lost.«
»Aufgeschmissen, was Orientierung angeht?«
»Absolut! Woher...?«
»Du kommst nicht von hier«, quittiert er mit einem kurzen Nicken zu meinen Schuhen. Tatsächlich fallen meine heißgeliebten Converse aus dem Rahmen. Aber das sind meine Glücksschuhe und ich hab sie bisher in jeder entscheidenen Situation getragen — also hatte ich keine Wahl. Einen Moment stell ich die Entscheidung in Frage. Zum Glück kann ich mich wieder fangen.
»Korrekt. Ich muss zu den Aufzügen und dann ins Personalbüro. Wo finde ich was?«
Wir blieben unvermittelt stehen und das erste Mal blicken wir uns wirklich ins Gesicht. Seine Züge haben etwas liebevolles an sich und bringen seine braunen Augen zur Geltung. Einen Moment zu lange verfängt sich unser Blick.
Erst als ich blinzle, bricht der Blickkontakt und seine Augen huschen nach rechts. Er tritt einen Schritt auf mich zu und beugt sich nach vorne.
Perplex folge ich jeder seiner Bewegungen. Er greift an mir vorbei und drückt den Knopf für den Aufzug. Beschämt beiße ich mir auf die Lippe. Das fängt ja grandios an.
»Soweit ich weiß, sind wir hier richtig und ich schmeiß dich in der richtigen Abteilung raus, okay? Was den Raum angeht bin ich auch ahnungslos.« Er zuckt mit den Schultern und verzieht seine Lippen zu einem entschuldigenden Schmunzeln. Es liegt schräg in der sonst so perfekten Symmetrie seines Gesichts, der Bruch macht ihn noch attraktiver.
Ich nicke stumm und bete, dass der Aufzug keinen Spiegel hat, damit ich meine knall roten Wangen halbwegs vertuschen kann. Das Kinn im Riesen-Schal versteckt, mustere ich ihn. Irgendwas wirkt falsch an ihm. Der piekfeine Anzug ist maßgeschneidert und wird es wohl nicht sein. Die Frisur scheint auch passend, auch wenn die gestylten Locken meiner Meinung nach nicht mit Haarspray fixiert, sondern wild verstrubbelt gehören.
Gerade als ich sein Gesicht erneut einer Kontrolle unterziehen will, plingt es. Hastig trete ich in die kleine Kammer und finde mich auf drei von vier Wänden wieder. Na schöner Misthaufen.
»Viel Erfolg gleich.« Mr. Anzug-Locken mustert mich unverhohlen.
»Du schaffst das. Schultern zurück, Brust raus. Du bist eine stolze, selbstbewusste Frau, du weißt das. Und ich weiß das. Jetzt müssen nur noch die das auch sehen. Und vor allem wirst du die beste sein, die sie bekommen können.«
Ich starre ihn an. Wie bitte? Was war das denn?
So komisch dieser Ausbruch auch war, ich merke, wie sich ein Schalter umlegt. Ich heben das Kinn aus dem Schal und stelle mich aufrechter hin. Wird schon schief gehen.
Keine Ahnung, wie viele Sekunden ich noch habe. Aber schneller wird der Aufzug davon jetzt auch nicht fahren.
Es plingt. Die Türen gehen auf. Los geht's.
Ich trete aus dem Aufzug und Dreh mich nochmal um.
»Danke!«
Mr. Anzug-Locken lächelt mir aufmunternd zu.
»Das wird schon.«
»Hoffentlich.« Die Tür zieht sich zu. Schnell schieb ich noch hinterher, bevor ich mir es anders überlegen kann: »Wenn's gut läuft, sieht man sich ja vielleicht mal.«
Er zögert einen Moment. Dann stellt er einen Fuß in die Tür. Klappernd geht sie wieder auf. »Wenn's gut läuft.« Er lächelt. Die Türen schließen sich erneut und gerade so seh ich noch das verschwörerische Zwinkern. Himmel. Wo soll das nur enden?
Völlig beflügelt rausche ich durch die Gänge, frage mich durch, bis ich endlich vor dem richtigen Büro steh. 73 Sekunden zu spät.
Ich hebe die Hand, um anzuklopfen, als die Tür aufschwingt und eine aufgetakelte Tusse vor mir auftaucht. »Viel Spaß mit dem«, murrt sie mir zu und hinterlässt nicht mehr als einen stehenden Schwall von Parfüm.
»Die beste, die sie finden können«, murmle ich und trete in das Büro.
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