Kapitel 3
Ich verließ gerade die Schule, als mich jemand auf meinem Handy anrief. Mom.
„Ja?", nahm ich ab und lehnte mich kurz an die Steinmauer der Schule. Meine blonden Haare hingen mir im Gesicht und ich pustete sie weg.
„Madison, kannst du mir einen Gefallen tun und beim Bäcker Brot holen gehen? Wir haben keins mehr und ich muss heute länger arbeiten. Das Geld dafür liegt im Wohnzimmer."
Ich seufzte. „Okay."
„Danke, Schatz."
Ich packte mein Handy wieder in die Hosentasche und setzte meinen Weg nach Hause fort. Meine Mutter tat mir so unfassbar leid, da sie so viel Stress hatte. Manchmal fragte ich mich wirklich, wie sie all das handhaben konnte.
Sie musste von Montag bis Samstag den ganzen Tag arbeiten und wenn sie abends nach Hause kam, kochte sie schon das Mittagessen für den nächsten Tag vor. Ich hatte ihr immer gesagt, dass ich das selber machen konnte und mittlerweile ließ sie mich auch ab und zu kochen.
Wir hatten kein Geld und meiner Mutter blieb keine andere Wahl, als so oft arbeiten zu gehen. Ich hatte ihr bereits angeboten, dass ich auch nach der Schule arbeiten gehen konnte, aber sie war fuchsteufelswild, als ich ihr das vorgeschlagen hatte. Meine Mutter wollte, dass ich mich komplett auf die Schule fokussierte und einen guten Abschluss schaffte, damit ich in Zukunft etwas erreichen konnte. Am wichtigsten war es uns aber, dass ich ein Stipendium bekam, denn wir hatten kein Geld fürs College. Und für das Stipendium brauchte ich eben fantastische Noten.
Also war die Möglichkeit, dass ich arbeiten ging, vollkommen ausgeschlossen für meine Mutter. Sie sagte immer, dass sie all das alleine schaffte. Bisher hatte sie das auch, aber ich machte mir Sorgen darum, wie lange sie es noch schaffen würde. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis meine Mutter vollkommen erschöpft zusammenklappen würde.
Früher hatten wir tatsächlich auch nicht allzu viel Geld gehabt, aber damals ging mein Vater ebenfalls arbeiten. Wir mussten nicht viel Miete bezahlen und hatten immer ein bescheidenes Leben geführt. Meine Eltern waren beide glücklich gewesen, mussten nicht allzu lange arbeiten und hatten trotzdem noch genug Geld am Ende des Monats übrig gehabt, weil wir drei nicht allzu viel brauchten.
Alles war perfekt, bis zu dem Zeitpunkt, als wir umziehen mussten. Unsere Wohnungen wurden damals abgerissen, da man dort moderne und teurere Wohnungen bauen wollte. Es ging immer nur ums Geld, um dieses verdammte Geld.
Wir zogen also in eine neue Wohnung, die deutlich mehr kostete und ich bekam meinen Vater kaum noch zu Gesicht, weil er anfangen musste, mehr zu arbeiten. Meine Mutter musste auch ständig zur Arbeit, doch deutlich weniger als mein Papa. Irgendwann war er dann so überarbeitet, dass er krank wurde.
Meine Eltern konnten all das damals nicht finanzieren und so wurde es immer schlimmer, da die Medikamente zu teuer waren. Daraufhin ist er immer schwächer geworden, mit jedem neuen Tag. Eines Abends musste der Zeitpunkt kommen und er war tatsächlich im Schlaf gestorben. Ich wusste noch ganz genau, wie ich mich gefühlt hatte, als ich ihn am Morgen wecken wollte und er nicht aufwachte. Zuerst dachte ich, dass er mich wieder veräppeln wollte, doch als die Realisation langsam einsetzte, fing mein Herz so schnell an zu schlagen, dass ich selbst zu panisch zum Atmen gewesen war.
An die nächsten Minuten konnte ich mich kaum noch erinnern. Meine Mutter hatte den Krankenwagen gerufen und wir hatten anscheinend gewartet. Was genau zwischen den Minuten vorgefallen war, bis der Krankenwagen kam, wusste ich nicht. Mama hatte mir nur erzählt, dass sie versucht hatte, meinen Vater zu beatmen.
Und auch, wenn die Unwissenheit schrecklich war, so war ich doch ein wenig froh, dass ich mich an diese hoffnungslosen Minuten nicht mehr erinnern konnte, denn sie hätten mir wahrscheinlich das letzte Stück meines Herzens gebrochen. Allein schon der Gedanke daran, wie verzweifelt meine Mutter wohl war, wie sehr sie geschluchzt hatte, als sie ebenfalls realisierte, dass ihre zweite Hälfte sich nun von uns verabschiedet hatte, trieb mir die Tränen in die Augen. Manchmal war es tatsächlich gut, dass wir gewisse Dinge vergessen konnten.
Daraufhin hatte ich jeden Tag geweint, ich hatte in mein Kissen geschrien und mich gefragt, warum ausgerechnet mein Paps gehen musste. Wenn ich heute daran dachte, musste ich mich immer noch beherrschen nicht zu weinen. Ich habe ihn so geliebt.
„Hey", riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken und ich erblickte das blonde Mädchen links neben mir. „Danke, für die Aktion heute in der Cafeteria." Ich lächelte halbherzig und starrte wieder nach vorne. Ich wollte keine Gesellschaft.
„Kann es sein, dass du in der Middle Street wohnst?", fragte sie plötzlich und bekam somit wieder meine volle Aufmerksamkeit.
„Woher weißt du das?" Verwirrt sah ich sie an. Was war das denn für ein gruseliges Mädchen?
„Ich habe gesehen, wie du heute Morgen da rausgegangen bist. Ich wohne auch dort, ich bin neu umgezogen." Mein Blick wandte sich wieder von ihr ab.
„Aha", gab ich desinteressiert von mir und hoffte, dass sie mich alleine lassen würde, aber da sie im gleichen Haus lebte wie ich, war die Chance leider sehr gering.
Ich wusste nicht, ob ich sie mochte. Sie war schließlich viel zu nett für mich und so eine Person durfte ich nicht an mich heranlassen. Emily würde bestimmt versuchen, mich zu verändern.
Ich mochte mich mittlerweile so, wie ich war. Eiskalt, unerreichbar und unverletzbar. Ich bin nun mal zu so einer Person geworden. Jeder Mensch ging anders mit Verlust und Schmerz um und das war meine Art.
Damals war ich wie Glas, man hätte mich nur fallen lassen können und schon ging ich kaputt, möglicherweise nicht immer, aber meistens. Heutzutage war ich definitiv nicht mehr mit früher zu vergleichen. Man konnte versuchen, mich so oft wie möglich fallen zu lassen, doch ich ging nicht kaputt. Möglicherweise mal ein Stückchen, doch das war nicht von Bedeutung.
„Ich mag deine Stimme wirklich sehr, wieso redest du so wenig?", wollte sie wissen und ich lachte kurz auf.
„Heute war tatsächlich ein sehr gesprächiger Tag für mich." Sie schien zu überlegen. Wahrscheinlich, ob sie mich noch mehr ausfragen sollte. Jeder tat das.
Warum bist du so? Was ist mit dir passiert? Wieso bist du so gemein? Wieso redest du nicht so viel?
Man konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Ich würde niemals so sein, wie ich war und ich würde nie wieder meinen Vater bei mir haben.
Nie wieder seine Stimme hören. Nie wieder mit ihm über seine blöden Witze lachen, die nur ich lustig fand. Nie wieder Sonnenuntergänge mit ihm beobachten. Nie wieder an den Strand gehen, wo er mich immer ins Wasser getragen hatte, wenn ich auf meiner Decke eingeschlafen war. Nie wieder ein Gute Nacht von ihm hören. Nie wieder sehen, wie er morgens in der Küche seine Zeitung las. Nie wieder sehen, wie er meiner Mutter jeden Samstag Blumen nach Hause brachte. Nie wieder seine langweiligen Geschichten von früher hören, mein Gott sie waren so langweilig, aber ich hatte meinen Vater geliebt, wirklich so sehr und deswegen hatte ich ihm zugehört, auch wenn es mehrere Stunden dauerte. Ich wollte doch, dass er mir alles erzählen konnte und dass er stolz war, so eine Tochter zu haben, die auch mal für ihn da sein konnte.
Ich wusste bis heute nicht, ob er wirklich stolz auf mich war. Zu gerne hätte ich ihn das gefragt. War ich die Tochter, die er immer haben wollte? Denn er war der beste Papa, den man sich hätte vorstellen können. Und ich wünschte, ich hätte ihm das gesagt. Oh, so sehr wünschte ich mir das. Ich hoffte, dass er wusste, wie sehr ich ihn liebte, denn leider konnte ich ihm das nun nicht mehr sagen. Und dieser Gedanke schmerzte ganz besonders in meiner Brust.
„Ich habe noch nie so ein Mädchen wie dich getroffen." Wir waren an dem alten weißen Wohnungsblock angekommen und sie starrte mich nachdenklich an.
Ich war ihr dankbar, dass sie nicht noch weiter nachgehakt hatte, offensichtlich konnte sie mich auf irgendeine Art und Weise verstehen. Und das so viel schneller als all die Menschen, denen ich zuvor begegnet war. Entweder sie konnten mich nicht verstehen, oder sie wollten nicht. Keiner wollte sich mit mir auseinandersetzen, da ich eben etwas schwieriger zu verstehen war als andere Menschen. Doch wenn man es nicht einmal versuchte, wie sollte man mich dann verstehen können?
„Aber Menschen werden nicht grundlos kalt", setzte sie an und mein Herz, das so lange eingefroren war, fing plötzlich an schneller zu schlagen. „Ich hoffe, du findest irgendwann wieder zu dir selbst."
Ich schüttelte meinen Kopf. „Aber das bin doch ich."
Noch nie hatte jemand erwähnt, dass ich nicht wirklich so kalt war, dass ich nur noch zu mir selber finden muss. Stimmte das etwa? Das konnte ich mir nämlich nicht vorstellen. Die Madison, die ich jetzt war, die hatten immer alle akzeptiert und mich auch so wahrgenommen. Nie hatte jemand gesagt, dass es einen Grund dafür gab. Nie hatte jemand verstanden, dass ich nicht grundlos kalt geworden bin.
Doch ich wusste, dass, wenn ich zu mir selber finden würde, sich nichts verändern würde. Denn diese Madison war ich von nun an. Ich hatte mich verändert, das stimmte, aber das tat jeder Mensch. Veränderungen gehörten zum Leben dazu, egal ob sie gut oder schlecht waren.
Auch wenn viele wohl behaupten würden, dass meine Veränderung negativer Natur war, so würde ich dem widersprechen. Denn schließlich hatte ich die letzten Jahre ein angenehmes Leben geführt, zwar war es eintönig, aber immerhin musste ich nicht wieder an einem gebrochenen Herzen zugrunde gehen.
Emily lächelte und schloss die Wohnungstür auf. „Das glaube ich nicht. Wer auch immer dir das angetan hat, muss wohl etwas Schlimmes getan haben und das tut mir wirklich leid, Madison." Ein letztes Mal lächelte sie mich an, bevor sie einen Fuß in die Wohnung setzte. „Wir sehen uns." Verwirrt ließ sie mich stehen und ich ging wackelig die Marmortreppen zu unserer Wohnung rauf. In meinem ganzen Kopf herrschte das totale Gefühlschaos.
Noch nie in meinem Leben hatte ich die Worte Es tut mir leid gehört, nur von der Familie und von Verwandten. Wie lange hatte ich schon darauf gewartet? Allerdings nicht auf ihre Entschuldigung, sondern von jemand anderem.
Nämlich von Tyler.
Der Kerl, dessen Vater uns gezwungen hatte auszuziehen.
Der Kerl, dessen Idee das alles war.
Der Kerl, der mich auch noch angelächelt hatte, als ich mit meinem Koffer aus dem Haus ging.
Der Kerl, der mich eiskalt gemacht hatte.
Der Kerl, weswegen meine Mutter sich in den Schlaf weinte.
Der Kerl, der letztendlich auch der Grund dafür war, warum mein Vater starb.
Und doch tat er so, als wenn nie etwas passiert wäre, wobei er der einzige Grund war, warum mein Leben zur Hölle wurde.
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