Seeing Blind

Nichts hätte mich auf den Sturm der Emotionen, der mich in diesem Augenblick durchrüttelte, vorbereiten können. Harry's Hand umfasste meine sanft und doch fühlte es sich an, als wäre ein Stromstoß durch meinen Körper gejagt worden. Als würde diese eine kleine Berührung jeden Teil meines Körpers erreichen. Ich merkte, wie jeder einzelne meiner noch vorhandenen Sinne noch sensibler wurde und wie ich ein übermäßig großes Grinsen unterdrücken musste.

Was zahlreiche Poeten auf dieser Welt schon seit jeher beschrieben, wenn ein Mensch merkte, wie sehr die Präsenz eines anderen Menschen ihn gleichzeitig glücklich und konfus machte, konnte ich nun endlich nachvollziehen.
Doch was diese Autoren nie weiter ausgeführt hatten, konnte ich nun erklären. Die Schmetterlinge in meinem Bauch hatten alle einen Namen. Sie hießen Freude, Glück, Aufregung, Erwartung, Benommenheit, Unsicherheit und Verwirrung und flatterten abwechslungsweise in den Vordergrund.

Wie gesagt: Nichts auf der Welt hätte mich auf diese Überdosis an Endorphinen vorbereiten können. Und jeder Zentimeter, der meine Hand näher an sein Gesicht brachte, intensivierte sich der beschleunigende Herzschlag zu den flatternden Gefühlen.

„Du hast mir vor einiger Zeit gesagt, dass deine Hände für dich deine Augen ersetzen. Du hast mir gezeigt, wie viel man ohne sein Augenlicht mit Hilfe seiner anderen Sinne noch wahrnehmen und 'sehen' kann. Nuala, ich möchte, dass du mich sehen kannst. Ich möchte, dass dir deine Hände ein Bild von mir malen können."

Harry sprach leise und ich erschauderte trotz warmem Nachmittag im Garten.
Jeder einzelne seiner Sätze hörte sich an, als würde er aus einem Gedicht stammen und die Insekten mit Namen schlugen Purzelbäume.
Als meine Fingerspitzen dann endlich weiche Haut unter sich spürten, merkte ich, wie ich bis hierhin meine Luft angehalten hatte. In meinen Lungen hatte nur noch wenig des mit Hilfe meiner Schnappatmung eingesogenen Sauerstoffes Platz.

Augenblicklich nahm ich wahr, wie sich meine Tastunterlage verzog und ich wusste, dass Harry grinste.
Langsam und sachte ließ ich meine Finger über seine linke Wange gleiten und ertastete dabei ein Grübchen. Neugierig darüber, ob er auch rechts eines trug, nahm ich meine linke Hand dazu und legte sie auf seine rechte Wange. Zu meiner Freude befand sich auch hier eine kleine Vertiefung, die noch etwas tiefer wurde, weil sein Träger noch breiter zu grinsen begann.

„Das kitzelt", merkte er lachend an.

Flüsternd teilte ich ihm mit, dass er ganz genau wisse, dass ich mehr 'erkennen' konnte, wenn ich Dinge mit leichten Fingern anfasste und erkundete.

„Ich beklag mich nicht. Deine Hände sind sanft und angenehm kühl. Nennen wir diese Aktion hier süße Folter."

Jetzt war es an mir zu schmunzeln. Daneben wanderten meine Finger jedoch erst nach außen, über die Stirn, seine Augenbrauen und Nase bishin zu seinen Lippen. Sie fühlten sich weich und warm an. Sanfter als noch zuvor strich ich mit meinen Daumen über seinen Mund und plötzlich flog der eine Schmetterling, der sich bis jetzt immer im Hintergrund gehalten hatte mit voller Wucht gegen meinen Bauch.
Die Tränen, die mir in die Augen stiegen, versuchte ich wegzublinzeln, doch das half ihnen nur schneller über die Schwelle.

Harry's Hände waren flinker als die meinen und ich spürte sie auf meinen Wangen, während seine Daumen den kleinen salzigen Strom wegwischten.

„Was ist los, Nuala?", hörte ich die gleichzeitig besorgte und verwirrte Stimme meines Gegenübers.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich gefasst hatte, doch dann antwortete ich ihm wahrheitsgemäss: „Noch nie habe ich mir so sehr gewünscht, wieder sehen zu können. Ich möchte dich sehen. Ich möchte sehen, wie sich die Grübchen in deine Wangen graben, wenn du grinst. Ich möchte deine tiefen Augen sehen. Ich möchte sehen, welche Farbe sie haben ..."

„Schh!", unterbrach mich der Sänger und legte dabei einen Finger auf meine Lippen. „Das Wichtigste an mir kannst du nicht sehen, ..."

Er nahm meine Hand und legte sie auf seine Brust, während er weiterhin mein Gesicht in seinen Händen hielt.

„... du kannst es nur fühlen."

Mit diesen Worten beugte er sich mir entgegen und in der nächsten Sekunde spürte ich etwas Weiches und Warmes auf meinem Mund. Seine Lippen auf meinen bewegten sich langsam, während sein Herz im Kontrast dazu wild gegen seinen Brustkorb schlug.

Mit einem Mal waren die traurigen Gedanken in meinem Kopf, die Schmetterlinge in meinem Bauch und die tschirpenden Vögel auf den Bäumen um uns weg. Das Einzige, was ich in diesem Moment fühlte, waren seine Lippen auf meinen, sein Herz in meiner Hand und ein undefinierbares Gefühl, das meinen ganzen Körper erfüllte.

Nach einigen Sekunden, die sich wie Minuten angefühlt hatten, zog er sich wenige Millimeter zurück und löste seine Lippen von meinen. Sein Nasenspitz berührte meinen noch immer und ich hörte, wie er Luft holte.
Mit den folgenden drei Worten aus seinem süßen Mund war es endgültig um mich geschehen.

„Sie sind grün."

—————

Dürfte zwar nicht allzu schwer sein, aber wer errät, zu welcher meiner Geschichten diese nicht verwendete Szene passen würde?

Somit wären wir beim Anfang dieses Buches. Als Info zu meinem Upload-Rhythmus: Ich werde dann hochladen, wenn ich merke, dass ich eine Szene habe, die nicht (mehr) in die Geschichte passt oder ich einen Einfall habe, der keine ganze Gezchichte ergibt.
Das heißt, es kann Zeiten geben, in denen ich mehrmals pro Woche hochlade, aber auch solche, in denen ich nur alle paar Monate eine neue Szene bringe. Ich bitte euch daher um Geduld :-)

Nun wünsche ich jedem Einzelnen, der das liest einen wunderschönen Wochenbeginn und schicke liebe Grüße aus dem viel zu warmen Sheffield ;-P

Eure StephVi

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top