Puppentheater

Die Türe öffnet sich, dann erscheint langsam ein Bauch. Mit der Zeit folgt ihm ein bebrillter, schwarz gelockter Kopf mit wachen, sympathisch dreinblickenden, dunklen Augen. Alles wird gestützt von etwas tapsigen Beinchen und schräg abstehenden Füssen. Der dreizehnjährige Junge ist klein und wiegt etwa gleich viel, wie ein erwachsener Mann. Dies tut seinem liebevollen Auftreten jedoch gar nichts zur Sache. Er ist Paolo und das ist gut so. Wenn du ihn kennst, musst du ihn einfach gern haben.

Paolo ist immer zu spät. Die Gründe dafür kennt nur er alleine. Die Welt bietet derart viel Ablenkung, da ist es auch sehr schwierig, sich an einen unnatürlichen, willkürlichen Zeitplan zu halten. Zudem scheinen sich die Schulzimmer wie in einem Cubic-Spiel zu verschieben, tauchen dann und wann an einem anderen Ort auf, so dass sich Paolo nicht mehr zurechtfindet. Du findest ihn dann jeweils etwas verloren im Gang. Er irrt aber nicht umher, diese Fortbewegungsart wäre für Paolo viel zu schnell. Vielmehr schwebt er durch die Gänge, dreht sich manchmal im Kreis und scheint sein Klassenzimmer zu suchen. Du gehst zu ihm, sprichst ihn an und merkst, dass er dir dankbar folgt.

Wenn Paolo in Mathe sitzt, heisst das noch lange nicht, dass er sich auch mit Mathe befasst. Du weisst nie genau, wo seine Gedanken gerade sind. Mitten in schriftlicher Division fragt er nach dem Grund für die Farbe am Bildschirm. Anhand seiner Fragen merkst du, dass dieser Junge eine sehr genaue Auffassungsgabe hat. Ihm entgeht kein Detail und solche scheinbaren Kleinigkeiten sind für ihn wichtig. Paolo kann sich in Details verlieren, sich an ihnen erfreuen und sich mit ihnen beschäftigen. Diese Details werden in Paolos Kopf eingelagert und können auch Tage später nochmals erwähnt werden. Der für Fremde abwesend wirkende Junge ist wach wie selten ein anderer. Wenn er dann aber rechnet, dann tut er dies gewissenhaft und genau, ohne Stress, dafür richtig.

Echt toll sind Musiklektionen mit Paolo. Da blüht er richtig auf, bewegt sich, steht auf, tanzt und singt dabei seine eigenen Töne zur Musik, die er hört. Du merkst, wie Musik ihn begeistern kann und welchen Stellenwert sie offenbar in seinem Leben einnimmt. Paolo singt auch in Mathe. Seine Augen können sich dabei ins Weisse drehen, die Brille schiebt sich schräg über das Gesicht - aber Paolo singt und ist zufrieden. Solche Denkpausen werden oft auch von scheinbar unkontrollierten Bewegungen begleitet. Paolo dreht sich, hebt die Arme und fuchtelt damit herum. Es erinnert mich stark an eine Fadenpuppe, welche von einem unsichtbaren Puppenspieler bewegt wird. Alleine die Vorstellung eines derartigen Puppentheaters macht Paolo noch zusätzlich sympathisch, denn es gibt keine bösartigen Puppen.

Für andere Schüler ist Paolo nur sehr schwer fassbar. Sie belächeln ihn und schauen ihn auch etwas schräg an. Sie verstehen nicht, dass Paolo in seiner ganz eigenen Welt lebt und sich ständig bemühen muss, in unserer durchorganisierten Welt zurechtzufinden. Auf mich als sein Begleiter kommt eine schwere Aufgabe zu. Ich muss für und mit Paolo eine Aufgabe in unserer Gesellschaft finden. Es gibt ganz sicher einen Platz für ihn, erste Schritte in dieser Richtung hat er an einer Berufsschau machen können. Ein grosses Stück Arbeit liegt vor uns. Das beginnt mit dem Lernen der Grundlagen in den Schulfächern und geht bis zum Zurechtfinden an öffentlichen Plätzen und Einhalten von Zeitplänen. Dinge, welche auch anderen Jugendlichen sowieso schon schwer genug fallen.

Paolo aber legt sich auf den Boden, sagt, er sei ein Ball und rollt sich seitwärts aus der Turnhalle.

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