Geritzt

"Es läuft wie geritzt."

Damit verbinden wir instinktiv eine eigendynamische und positive Entwicklung in Leben oder Beruf. Was aber, wenn wir die Aussage wörtlich nehmen, wenn wir ritzen als Verb, als Tätigkeit betrachten? Wörtlich genommen, läuft es alles andere als gut. Der Arm blutet, weil die Seele blutet. Rasiermesserscharf schneiden die Erlebnisse Wunden, welche nur sehr langsam heilen. Umso schneller reissen sie wieder auf, jedes Mal, wenn eine Heilung in Griffweite gelangt.

Alleine mit unlösbaren Problemen. Keine Kraft mehr zu sprechen. Zu viele Wunden, um sie heilen zu lassen. Jeder Schnitt in das Fleisch ist bloss die Spur eines Schnittes in die Seele. Blut tropft aus dem Arm, als wenn es den Schmerz wegspülen könnte. Der Schmerz aber bleibt nicht bloss, er wird sogar stärker mit jedem Ansetzen der Klinge. Übertönen der seelischen Schmerzen ist das Ziel, alles andere erscheint unwichtig. Die Ohren und Augen haben längst aufgehört Informationen zu senden. Als einziges Sinnesorgan wird die Haut wahrgenommen, welche den Schmerz überträgt.

Das austretende Blut ist ein Schrei der Stille. Noch fliesst dieser Schrei langsam, gut sichtbar, auf dass er von aussen wahrgenommen werde. Was, wenn die Klinge nicht bloss an der Oberfläche kratzt, wenn sie tiefer schneidet und der Schmerz herausschiesst? Kommt dann Erlösung? Kommt dann noch mehr Schmerz? Spielt das eine Rolle? Die junge Frau weiss es nicht, es ist ihr auch egal. Einziges fühlbares Sinnesorgan ist die Haut, sie nährt die verletzte Seele und täuscht über deren Schmerz hinweg.

Ihr Umfeld steht ohnmächtig daneben, leidet mit, ohne etwas zur Linderung der Schmerzen tun zu können. Obwohl der Schrei nach Hilfe ruft, wird jede Art davon nicht angenommen. Dann trifft die junge Frau den jungen Soldaten. Er sitzt am Waldrand, sein Gewehr liegt neben ihm, die vierundzwanzig Schuss vorschriftsgemäss im Magazin "abgespitzt". Seine Augen sind ebenso leer, sein Schmerz versteckt sich unter der gut getarnten Uniform. Abtreten mit einem Knall, wer wünscht sich das nicht? Nun, der Soldat könnte das wörtlich nehmen und sich eine knallen. Was, wenn er den Abzug tatsächlich durchzieht? Es ist bloss eine Fingerübung. Ist dann mehr Schmerz? Ist dann Ruhe? Ist dann Frieden? Er weiss es nicht und es ist ihm auch egal. Der blosse Gedanke daran lässt ihn den unausstehlichen Schmerz vergessen, den er tagtäglich spürt.

Der junge Soldat lebt jeden Tag, erträgt seinen Schmerz und befolgt Befehle, so unsinnig sie ihm auch erscheinen mögen. Das Leben ist eine Reihe von sinnlosen Bewegungen, unterbrochen durch Nahrungsaufnahme. Die junge Frau lebt von Tag zu Tag, betrachtet ihre Blutspuren, hofft auf deren Heilung, auf dass die Schmerzen der Seele nachlassen mögen. Es dauert zehnmal so lange, die Seele zu heilen, wie sie zu verletzen, sagt man. Die beiden jungen Menschen leiden an der Ungerechtigkeit, der Gleichgültigkeit, der Brutalität oder am Egoismus unserer ach so modernen, aber seelenlosen Welt. Sie tragen eine wertvolle Seele in sich, sie sind mit unterschiedlichen Lösungsstrategien auf der selben scheinbaren Sackgasse unterwegs. Sie sehen keinen Weg, kein Ziel, keinen Sinn. Warum leben, wenn das Leben schmerzt? Sie sieht den Soldaten mit der Waffe. Während sie sich ritzt, fragt sie ihn, weshalb er sein Gewehr griffbereit bei sich trägt. "Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, wie du deine Schmerzen sichtbar machst", antwortet er bloss ohne sie dabei anzusehen. Es folgt ein friedliches, verständnisvolles Schweigen. Man muss nichts sagen, um sich zu verstehen. Der Schmerz verbindet. Sie blicken sich an und auf einmal macht alles Sinn. Wie durch Zauberhand erscheint ein Weg in eine schmerzlose Zukunft. Zusammen überwinden sie ihren Schmerz, teilen ihn, damit er weniger werde.

Nur die Zeit und die Liebe vermögen die Wunden der Seele zu heilen. "Na, läuft es nun wieder wie geritzt?" fragt sie ihn viele Monate später, er reagiert schnell. "Halt die Klappe, sonst knalle ich dir eine." - Sie schauen sich an, beginnen zu lachen, fassen sich bei den Händen und gehen gemeinsam den Weg des Lebens.

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