Geben und Nehmen

Wie alt bin ich eigentlich? Ich wurde mit der Gewissheit erzogen, das Leben sei immer ein Geben und ein Nehmen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dieser Grundsatz habe sich für viele Menschen haute stark verändert. Die meisten Menschen wollen heute bloss noch nehmen. Bitte die Prüfung verschieben, bitte weniger Hausaufgaben, bitte ein neues Handy, bitte das Abo mit Flatrate, bitte im Auto zur Schule fahren. Es gibt derer viele, solche Beispiele.

Gehen wir mal davon aus, nehmen ohne geben funktioniere. Irgendwann ist nichts mehr da, alles genommen, das Glas mit den Süssigkeiten leer.
Nun hat aber der Mensch die schlechte Angewohnheit, sein Plünderungsgebiet zu verlagern, wenn eine Quelle versiegt. Am härtesten bekommt das die Natur zu spüren. Seit der Mensch, vor kurzem erst, Maschinen entwickelt hat, geht es ihr zusehends schlechter.
Werden an einem Ort die Ölreserven knapp, wird nicht etwa über andere Techniken nachgedacht, nein, man bohrt einfach neue Ölvorkommen an, auch wenn diese in einem Naturreservat liegen. Reservat dauert halt für den Menschen immer nur so lange, bis er es plötzlich braucht. Gesetze werden angepasst, damit der Mensch weiter nehmen kann.
America First, Geiz ist geil und ähnliche Sprüche belegen das bis weit hinauf in unsere Führungsetagen. Nehmen und, wenn immer möglich, nichts dafür bezahlen. Diese Haltung nimmt zu, nicht nur bei uns.

Was ist denn nun mit dem Geben? Es ist doch jede Weihnachten eine Art Saison für Geben. Wenn sogar das Geben sich daran orientiert, was die Beschenkte nehmen möchte oder gar verlangt, dann verliert es aus meiner Sicht an Sinn.
Geben sollte spontan sein. Geben passiert im Kleinen. Minime Vorteile im Beruf, mal etwas früher gehen dürfen, mal das Auto im Parkverbot stehen lassen dürfen, mal ganz einfach Zuneigung spüren dürfen oder grosszügig behandelt werden.
Das wird in Schulklassen oftmals ganz falsch verstanden. Meist jene Jugendlichen, welche immer bloss nehmen, beschweren sich am lautesten darüber, dass andere einen kleinen Vorteil geniessen dürfen. Sie finden das gemein und werfen den Lehrpersonen parteiisches Verhalten vor. Dabei wäre es so einfach - es ist ein Geben und ein Nehmen. Mal unaufgefordert den Boden wischen, mal die Tische wieder gerade stellen, mal eine helfende Hand bieten oder spontan einen Tee zubereiten - geben ohne Verlangen.

Die Menschen in Amerika, Asien, Australien und Afrika, welche dort siedelten, bevor der nehmende Europäer hinkam, wussten es: Auch für die Natur muss man geben, wenn man nehmen will. Die Europäer aber kamen und nahmen sich alles, was sie kriegen konnten.

Wenn unsere Mächtigen heute das etwas genauer beachteten, bräuchte es keinen resultatlosen Klimagipfel mehr, wo alle hinfliegen, sondern es wäre einfach nur logisch, der Natur Sorge zu tragen.
Ich glaube, ich werde langsam alt. Ich gebe unglaublich gerne, denn das, was ich dafür erhalte, ist unbezahlbar. Es ist die Freude im Gesicht der Mitmenschen.

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