Brief an meine Tochter
Hei meine Kleine
Es ist Sonntag um halb zwölf. Du liegst friedlich in deinem Bett, wie es sich für eine sechzehnjährige gehört. Deine künstlich verlängerten Fingernägel klammern sich an die Decke, unter welcher du dich gemütlich zusammengekrümelt hast. Dein Handy liegt ausgeschaltet auf deinem Schreibtisch. Etwas von deinem Arm lugt hervor und ich betrachte die Stelle, an welcher du ein Tattoo geplant hast. Dabei muss ich lächeln - ein Tattoo... aber du machst dir Gedanken, du wählst einen passenden Spruch, du veränderst dich. Und das allein finde ich schon gut. Dein dunkelblondes Haar fällt ungeordnet über dein Gesicht. Deine wunderschönen blauen Augen sind friedlich geschlossen, die Gesichtszüge voller Vertrauen entspannt, du atmest ruhig und gleichmässig. Du siehst glücklich aus und ich bin stolz dafür.
Wann habe ich dir zum letzten Mal wirklich gesagt, dass ich dich liebe? Das muss vor deiner Teenie-Zeit gewesen sein, denn seit du fünfzehn bist, reagierst du eher peinlich berührt, wenn dir deine Eltern so etwas sagen. Ich aber kenne dich besser. Ich weiss, dass die Botschaft ankommt und du sie magst. Ich denke an dein erstes Wort zurück, an deine ersten Schritte oder den ersten Schultag. Kleines Mädchen, du hast dich zu einer sehr vernünftigen jungen Frau gewandelt. Als Frau musst du stark sein. Das bist du, du hast deinen eigenen Willen und bestimmst für dich, was richtig und was falsch ist. Ich mag das, obwohl es auch manchmal weh macht zu sehen, dass deine Ideen anders sind als meine. Als Mutter muss ich lernen loszulassen, dich zu unterstützen, in welche Richtung du auch immer gehen magst. Polizistin - echt jetzt? Ein Bulle in der Familie? Schön zu bemerken, dass du dich für Gerechtigkeit und Sicherheit bemühst und interessierst. Aber zuerst einmal gehst du dich als Kauffrau vorstellen. Du bekommst damit eine einzigartige Gelegenheit und ich wünsche mir, dass du sie nutzen kannst. Und nun hast du die Lehrstelle tatsächlich erhalten. Ich bin so stolz auf dich, habe ich dir das in letzter Zeit einmal gesagt?
Seit dein Vater ausgezogen ist, haben wir es nicht immer einfach. Aber die Dinge entwickeln sich zum Guten. Du unterstützt mich und ich weiss das zu schätzen. Leider habe ich nicht immer die Kraft dazu, dir das zu sagen und zu zeigen. Wir aber halten zusammen und beginnen, unseren eigenen Weg zu bestimmen. Ich freue mich auf die neuen Herausforderungen mit der neuen Wohnung. Wir werden einen richtig guten Umbau an die Hand nehmen, damit du dein eigenes kleines Reich erhalten kannst. Dort kannst du dich weiter entfalten, für dich kochen, für Freunde da sein und bist dennoch nah bei uns. Einige Freunde wirst du gewinnen und danach wieder verlieren. Es wird Tränen geben, wir werden uns gegenseitig beistehen und trösten. Denn weisst du, das mit den Tränen hört nicht auf, wenn du älter wirst. Wichtig ist immer die Familie. Sei es deine eigene oder die Familie der Freundschaft. Echte Freunde sind schwer zu finden und deswegen selten und wertvoll. Wir dürfen als kleine Familie einige solche Freunde kennen.
Meine geliebte Tochter, du bist das Wertvollste, was mir je passiert ist. Wenn ich dich so wie jetzt gerade anblicke, dann sehe ich viele Dinge von mir in dir. Ich erinnere mich daran, wie es war, als ich begonnen habe loszufliegen. Also, mein Schatz, fliege los, sei sechzehn, erobere die Welt und wisse, bei mir hast du immer einen Ort der Ruhe und der Geborgenheit. Ich sage es dir viel zu selten, aber ich liebe dich.
Deine Mutter
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