Was die Waage zeigt

Heute war Montag, der 07.01. des neuen Jahres. Die Ferien ihrer Tochter hatten bis gestern angedauert, sodass sie heute wieder zurück in die Schule musste. Marlene, die um Dreiviertel Sechs von ihrem Wecker aus dem Schlaf geklingelt wurde, startete mit einem sehr mulmigen Gefühl in den Tag.
Sie musste es tun. Heute musste sie es tun. Sie musste herausfinden wie viel ihre Tochter wog. Und das musste sie, so sehr es ihr auch widerstrebte, hinter Sahras Rücken machen. Denn würde sie ihre Tochter einfach nach ihrem Gewicht fragen, würde diese sauer werden und, da war sich Marlene mittlerweile zu Neunundneunzig Prozent sicher, lügen. Sie war sich auch fast komplett sicher, dass Sahra bei ihrer Gewichtsangabe vor einem Monat gelogen hatte. Kein Mensch der Neunundvierzig Kilo wog sah so dünn aus wie ihre Tochter. Es musste einfach, so besorgniserregend das auch war, weniger sein. Weniger als Neunundvierzig Kilogramm und, davor grauste es ihr, womöglich sogar weniger als Fünfundvierzig Kilogramm. Sie presste die Lippen aufeinander und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Nein, bitte. Bitte nicht. Bitte lass es nicht so schlimm sein."
Sie holte tief Luft um sich zu beruhigen, dann stand sie langsam auf. Leise, um ihre Tochter nicht zu wecken, ging sie ins Badezimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss und sich wieder umdrehen wollte blieb ihr Blick an der Waage hängen. Da stand sie, im untersten Regalfach neben einem Eimer mit Lappen und einigen Glasreinigern. Alles dort unten war mit einer feinen Staubschicht überzogen. Doch die Waage nicht. Sie stand da, sauber, und wirkte so, als würde sie jemand regelmäßig benutzen. Sie presste wieder die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Die Waage wurde benutzt. Von Sahra. Von wem auch sonst? Sahra wog sich. Und, davon war Marlene inzwischen überzeugt, nicht nur einmal in der Woche oder so. Nein, öfter. Viel öfter. Wenn nicht sogar täglich. Nur warum?
„Sahra Mäuschen warum tust du das?", dachte sie verzweifelt und konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
„Warum machst du das nur? Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Was ist passiert, dass es angefangen hat? Und wieso war ich zu blind es früher zu erkennen?" Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und schluchzte einmal erstickt auf.
„Warum Maus?"
Aus dem Regal holte sie ein Taschentuch und wischte sich damit über die Augen. Nicht schwach werden, sie musste standhaft bleiben. Sie musste jetzt das tun, was Frau Hartmann ihr aufgetragen hatte, nämlich herausfinden, was ihre Tochter in Wirklichkeit wog. Außerdem sollte Sahra sie nicht weinen sehen. Für Kinder war es meist ein sehr komisches und unangenehmes Gefühl ihre Eltern weinen zu sehen. Marlene erinnerte sich daran zurück, wie hilflos sie sich immer gefühlt hatte, wenn sie mitbekam wie ihre Mutter weinte. Sie hätte sie so gerne getröstet, sie umarmt, damit sie aufhörte und es ihr besser ging, doch meist hatte sie dann nur selbst angefangen zu weinen, weil sie wusste, dass sie ihrer Mutter nicht helfen konnte. Und sie wollte nicht, dass Sahra das auch empfinden musste. Schnell drehte sie sich von der Waage weg und warf einen Blick auf die Uhr. 5:53 Uhr. Bald musste Sahra aufstehen. Oder auch nicht, denn in letzter Zeit verschlief Sahra morgens fast immer und blieb auch unglaublich lange im Badezimmer, sodass sie, wenn sie denn dann mal fertig war, kaum noch Zeit hatte zu frühstücken, da sie sofort los musste um es noch rechtzeitig in die Schule zu schaffen. Somit sah Marlene ihre Tochter fast gar nicht mehr essen, höchstens am Wochenende oder wenn sie Sahra morgens mehr oder weniger zu ein paar Bissen Obst oder Brötchen zwang, bevor diese die Wohnung verließ. Zwar nahm sie ihr Essen brav in die Schule mit und auch waren die Brotdosen am Nachmittag oder Abend, je nach dem wann Sahra nach Hause kam, leer, doch hatte Marlene tatsächlich die Befürchtung, dass sie das Essen gar nicht selbst aß. Vielleicht gab sie es in der Schule ab, sie wusste es nicht. Sie hätte Sahra eigentlich schon längst darauf ansprechen sollen, doch hoffte ein Teil von ihr immer noch, dass alles nur halb so wild war und sie sich irrte, dass mit ihrer Tochter alles in Ordnung war. Und ein anderer Teil von ihr hoffte, dass Sahra das Thema von selbst ansprechen würde, damit sie, Marlene, nicht wie die „böse Mutter" dastand, die ihrer Tochter Dinge unterstellte, ihr Sachen aufzwang und ihr nicht vertraute. Sie wollte nicht, dass Sahra beginnen würde sie aufgrund dessen zu hassen. Sie wollte, dass ihre Tochter sie liebte, so wie sie sie auch liebte, sie wollte ihre Mutter-Tochter-Beziehung nicht zerstören. Sie wollte doch nur eine kleine, glückliche Familie ohne große Sorgen, ohne große Probleme. Sie wollte doch nur, dass es Sahra gut ging.
Wieder wischte sie sich mit dem Taschentuch über die Augen und begann dann damit sich fertig zu machen. Als sie rausgehen wollte sah sie noch einmal zur Waage. Zwar musste (und wollte) sie herausfinden wie viel Sahra wog, aber sie wollte damit warten, bis Sahra außer Haus war. Außerdem wollte sie, dass Sahra heute noch mal die Möglichkeit hatte auf die Waage zu steigen, damit sie, wenn sie dann nachher die Waage überprüfte, ein möglichst genaues und aktuelle Ergebnis bekam. Sie konnte sich aber leider nicht hundertprozentig sicher sein, dass sich Sahra heute überhaupt wöge. Sie musste einfach darauf hoffen, dass sie es tat. Und sobald sie das Gewicht wusste würde sie mit Frau Hartmann telefonieren.
Schließlich betrat sie die Küche und fing an das Frühstück vorzubereiten. Deckte den Tisch, setzte Wasser auf um Tee zu kochen, schnitt Brotscheiben ab und begann zu essen. Danach beschmierte sie für Sahra ein Brötchen und legte es auf ihrem Teller für sie bereit. Und dann wartete sie. Und wartete. 6:15 Uhr. Eigentlich hätte Sahra schon spätestens vor Fünf Minuten aufstehen sollen. 6:20 Uhr. Dann 6:25 Uhr. Heute war wohl wieder einer der vielen Tage, an dem sie verschlief und wieder keine Zeit für das Frühstück hatte. 6:30 Uhr. Theoretisch hätte Marlene Sahra auch persönlich wecken können, aber brachte das nicht wirklich viel. Sahra blieb, obwohl sie bereits wach war, einfach liegen. Selbst wenn sie zu ihr ging und sie rüttelte oder ihr die Decke wegzog drehte sie sich einfach zur Wand und machte keine Anstalten aufzustehen. Und sobald Marlene laut wurde, ihrer Tochter schon fast befahl jetzt endlich zu Potte zu kommen und beinahe schrie, zickte Sahra zurück, wurde ebenfalls laut oder blieb einfach weiter liegen. Marlene war einfach nur noch am verzweifeln. Sie brachte Sahra kaum noch zum Essen und ihr Verhältnis wurde immer instabiler. Sie hatte Angst. Angst davor ihre Tochter zu verlieren.

Als um 6:41 Uhr endlich eine Tür geöffnet wurde schreckte Marlene aus ihren Gedanken auf und wischte sich hastig die Tränen von den Wangen. Sahra schlurfte langsam an der Küche vorbei in Richtung Bad. Auf Marlenes gezwungen fröhliches: „Guten Morgen" reagierte sie nicht.
Wieder trödelte sie lange im Bad, sodass es schon 6:54 Uhr war, als sie endlich in die Küche kam.
„Hey Maus", sagte Marlene und versuchte zu lächeln. Sahra warf ihr nur einen abweisenden Blick zu und starrte dann auf das geschmierte Brötchen auf ihrem Platz.
„Ich kann jetzt nichts essen, ich muss gleich los", nuschelte sie und wollte schon wieder gehen doch stellte sich Marlene ihr in den Weg.
„Erst isst du", sagte sie und wusste doch schon, dass es nichts nützen würde. Sahra sah sie böse an.
„Ich hab nur noch ein paar Minuten oder willst du, dass ich zu spät komme?!", sagte sie mit erhobener Stimme und verschränkte die Arme.
„Dann hättest du früher aufstehen sollen", entgegnete Marlene.
„Ja sorry, dass ich momentan so schlecht schlafe! Meine Schuld, alles meine Schuld!" Sahra war zu einem sarkastischen Ton gewechselt und in ihren Augen funkelte Zorn. Marlene seufzte, holte tief Luft und sprach ruhig weiter: „Bitte iss etwas."
Sahra antwortete ebenso ruhig: „Ich hab keine Zeit mehr."
„Dann beeil dich mit dem Essen. Aber bitte iss etwas."
Wütend drehte sich Sahra um und stampfte zu ihrem Stuhl. Dann blickte sie lange auf das Brötchen mit Honig, bis sie schließlich ganz langsam den ersten kleinen Bissen nahm. Marlene beobachtete sie. Ihr ganzes Erscheinungsbild sah so kränklich aus. Die eingefallenen Wangen, die immer deutlicher werdenden Augenringe, die bleiche Haut und, auch wenn sie es nicht wirklich sehen konnte, weil Sahra in letzter Zeit immer sehr dicke und lockere Klamotten anzog, die die Figur nicht betonten, ihr dünner Körper. Soviel wie sie ausmachen konnte war Sahra dünn. Ja geradezu dürr. Ihre Handgelenke, die am Ende ihrer Ärmel hervorlugten, waren so dünn, dass Marlene befürchtete sie würden brechen, wenn jemand ihre Tochter zu stark packen würde. Doch mehr konnte sie nicht beurteilen, da der Rest ihres Körpers von Kleidung bedeckt war. Doch genau diese Kleidung die sie gerade trug hatte ihre Figur vor einem halben Jahr noch halbwegs betont. Jetzt schienen ihr die Klamotten eine, wenn nicht sogar zwei Nummern zu groß zu sein und sie füllte sie nicht mehr aus. Sie hingen schlaff an ihr herab, mit großen Hohlraum zwischen Stoff und Körper.
Ihre Unterlippe begann zu beben. Warum hatte sie es nicht früher bemerkt? Warum war ihr das nicht aufgefallen? Was war sie nur für eine schlechte Mutter, dass sie nicht einmal mitbekam, wenn ihre Tochter Kilo um Kilo abnahm? Neue Tränen füllten ihre Augen und sie drehte sich rasch von Sahra weg zur Küchentheke und begann ihre Pausenbrote in eine Dose zu packen, dabei wischte sie sich die Tränen wieder weg. Hinter ihr wurde ein Stuhl zurückgeschoben und schnellen Schrittes verließ Sahra die Küche. Marlene drehte sich um. Auf ihrem Platz war nur noch eine Brötchenhälfte zu sehen, die andere war weg. Seufzend packte sie die übriggebliebene Hälfte zusätzlich mit in die Brotdose ein, dann ging sie in ihr Schlafzimmer und holte ein Top aus einer Einkaufstüte. Mit diesem Top würde sie jetzt versuchen Sahra zu einem Foto zu überreden. Hoffentlich klappte das.
Sie ging zu Sahras Zimmer und klopfte. Sie wartete gar nicht erst auf ein „Herein", sondern trat direkt ein.
„Was ist?", fragte Sahra, die auf dem Boden vor ihrer Schulmappe saß und anscheinend gerade ihre Sachen packte.
„Ich hab hier was für dich", sagte Marlene und hielt das Top hoch. „Das hat eine meiner Arbeitskolleginnen mir gegeben, weil ihre Tochter gerade Klamotten aussortiert hatte und sie meinte, dass es dir vielleicht gefallen könnte." Das war gelogen. In Wahrheit hatte sie dieses Top gestern neu gekauft, doch hoffte sie, dass mit dieser Geschichte ihr Plan aufging.
„Würdest du es mal anprobieren und mir dann zeigen, damit ich weiß wie es aussieht?" Sahra sah auf ihre Uhr.
„Na gut", seufzte sie. „Aber in zwei Minuten muss ich los." Marlene überreichte das Top und verließ das Zimmer, damit Sahra es anziehen konnte. Kurze Zeit später kam Sahra in die Küche, wo Marlene auf sie wartete. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als sie ihre dünnen Arme sah und die sich stark abzeichnenden Schlüsselbeine. Wie konnte sie das so lange nur nicht bemerkt haben?
Das Top war dunkellila und hatte eine schwarze Silhouette einer Katze vorne drauf. Es sah ganz schick aus.
„Also ich finde es sieht gut aus", sagte die lächelnd und zog ihr Handy. „Darf ich mal ein Bild von dir machen und das meiner Kollegin zeigen, damit sie weiß, wie es an dir ausssieht?" Sahra sah sie geradezu empört an und schüttelte hastig den Kopf.
„Nein!", sagte sie laut.
Verdammt, das war ja klar.
„Ach komm schon, bitte nur eins."
„Nein!"
Marlene seufzte.
„Gut, okay. Kannst du dich dann mal umdrehen, damit ich dich von hinten sehen kann?" Sahra stöhnte auf, drehte sich aber um. Ihre Wirbelsäule stach heraus und die Schulterblätter traten hervor. Der Kloß in ihrem Hals wurde immer dicker. Was war sie nur für eine schlechte Mutter? Schnell hob sie das Handy und schoss, ohne dass Sahra etwas bemerkte, ein Foto von ihrer Rückseite ehe sie sagte: „Ja, das sieht wirklich gut aus. Möchtest du es behalten?"
„M-hm", machte ihre Tochter nur und sah auf ihre Armbanduhr. „Scheiße, ich muss los!", sagte sie gehetzt und spurtete in ihr Zimmer. Sie kam wieder mit ihren anderen Klamotten, die ihren abgemagerten Körper verbargen, und ihrer schweren Tasche.
„Dann hab einen schönen Tag!", rief Marlene ihr hinterher, da fiel auch schon die Wohnungstür ins Schloss und Sahra war weg.
Sie atmete auf. Gut, das Foto hatte sie. Zwar nur von hinten, aber besser als nichts. Jetzt fehlte nur noch das Gewicht. Sie schluckte kräftig, doch der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. Langsam ging sie ins Bad und holte die Waage hervor. Vorsichtig stellte sie sie auf den gefliesten Boden. Sie hatte sich informiert und wusste, welchen Knopf sie drücken musste um das letzte Gewicht anzeigen zu lassen. Der zweite von links. Erst anschalten, erster Knopf rechts, dann zweiter von links. Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann schaltete sie die Waage an. Null Komma Null stand auf dem Display. Kurz schloss sie die Augen. Sie hatte Angst. Sie hatte wirklich Angst vor dem, was sie gleich zu Gesicht bekommen würde. In ihrem Kopf wiederholte sich nur noch ein Gedanke: „Bitte nicht unter Einundvierzig, bitte nicht unter Einundvierzig." Dann drückte sie den Knopf. Ihre Augen weiteten sich, Tränen stiegen in ihr auf, ihr Magen schien sich zu verknoten und der Kloß in ihrem Hals schwoll noch mehr an.
„Nein", dachte sie, „nein, bitte nicht."
Sie brach in Tränen aus. Auf dem Display leuchtete die Zahl 40,9 Kilogramm.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top