Verlangen

Der Donnerstagmorgen brach wolkenverhangen und kühler als die letzten Tage an. Sahra wurde von ihrem Wecker geweckt und befreite sich aus der Decke. Sie nahm sich neue Anziehsachen und schlurfte gähnend ins Bad.
Nachdem sie auf Toilette war wollte sie sich anziehen, aber da fiel ihr ein: Sie musste sich wiegen! Klar, sie hatte sich zwar in der Nacht schon einmal gewogen, aber sie musste es trotzdem noch mal machen. Die Anzeige der Waage ist das Wichtigste. Sie würde sich von nun an wirklich öfter wiegen und das Vierte Ana Gebot erfüllen.
Sie holte die Waage hervor und stellte sich auf die Platte. 54,0 Kilogramm. Naja... immerhin besser, als 54,2. Nicht gut, aber sie konnte jetzt gerade nichts daran ändern. Sie stellte die Waage zurück und zog sich um. Da es an diesem Tag etwas frischer draußen war trug sie heute mal etwas langärmeliges. Ein blaues Shirt mit einem Pailletten Stern drauf. Farblich dazu passend eine blaue Jeans und sogar blaue Socken. Und heute entschied sie sich mal dazu ihre Haare in einem Pferdeschwanz zu tragen. Sie kämmte sich die Haare und band sie mit einem Zopfgummi zusammen. Danach befreite sie ihre Bürste noch von ihren ausgerissenen, blonden Haaren und schmiss diese in den Mülleimer. Dann ging sie frühstücken.
Doch gerade als sie die Toastpackung nehmen wollte fiel ihr ein, was sie Ana versprochen hatte. Nämlich weniger zu essen. Zögerlich stellte sie die Packung zurück.
„Stimmt was nicht Maus?", fragte ihre Mutter und beäugte sie von ihrem Platz aus. Ausrede Sahra, schnell!
„Ich äh... hab keinen so wirklichen Hunger auf Toast. Ich ähm...", sie ließ ihren Blick leicht hektisch durch die Küche schweifen, „werde heute einfach mal eine Banane essen", schloss sie, als ihre Augen bei der Obstschale hängen blieben. Ihre Mutter schaute sie mit einem „Seit-wann-machst-du-denn-sowas"-Blick an, sagte dann aber: „Okay, na wenn du willst."
Sahra stürzte sich in eine Erklärung: „Ja, ich will nämlich versuchen jetzt mehr Obst und so zu essen. Davon esse ich ja sonst so wenig und das ist nicht gerade gesund."
„Erst keine Nutella mehr, jetzt auch noch mehr Obst... Sag mal, wirst du krank?", lachte ihre Mutter und wandte sich wieder ihrem Teller zu. „Haha", grinste Sahra, verdrehte belustigt die Augen und nahm sich eine Banane.

Als sie den Schulhof betrat war von Laila noch nichts zu sehen. Maria würde heute wahrscheinlich nicht kommen, da ihr Magen ihr wohl immer noch Probleme bereitete.
Sie stellte sich in die gewohnte Ecke auf dem Hof und beobachtete die anderen Schüler. Viel Zeit blieb ihr aber nicht, denn plötzlich war ein lautes Donnern zu hören. Viele der Umherstehenden blickten zum wolkenbedeckten Himmel hinauf, als es, wie aus dem Nichts, zu regnen anfing. Dicke Wassertropfen prasselten auf den Boden und die Schüler hinunter. Mit einem mal kam Leben in die Schülergruppen und alle rannten auf die Eingänge zu. An den Türen bildeten sich große Menschentrauben.
Sahra selber rannte ebenfalls zum Eingang und versuchte so schnell wie möglich ins Trockene zu gelangen. Alle schubsten und drängelten und die Vorderen quetschten sich nach und nach durch die Tür. Von hinten schoben die anderen Schüler immer weiter um dem Regen zu entkommen, der allmählich immer heftiger wurde. Das Trommeln der Tropfen war so laut, dass man es sogar durch das Stimmengewirr der vielen Schüler hören konnte und es fiel so viel Wasser zu Boden, dass einem die Sicht verschwamm.
Sahra wurde nach vorne geschubst, weiter Richtung Eingang, stolperte und wäre beinahe gestürzt, hätte sie sich nicht an der Mappe vor ihr festgekrallt. Als sie die Türschwelle überquerte wich sie nach Rechts aus um den Anderen Platz zu machen. Sie wischte sich Regenwasser aus den Augen, sodass ihre Sicht klarer wurde. Sie war durchnässt. Von Kopf bis Fuß. Ihr Pferdeschwanz hing schlaff herab und ihre Hose klebte an ihr. Sie öffnete ihre Jacke und ein Schauder überlief sie, als ihr kaltes Wasser über den Nacken, den Rücken hinunterlief. Sie schüttelte sich und Tropfen flogen umher.
Mittlerweile hatte es auch der letzte Schüler in das Gebäude geschafft und schloss die Tür hinter sich. Der Schulhof war wie leergefegt. Es regnete nun so stark, dass sich bereits erste Pfützen gebildet hatten. Ein helles Licht zuckte über den Himmel und ein paar Sekunden später donnerte es erneut.
Die Schüler drängten weiter, auf die Flure, und verteilten sich allmählich. Viele liefen in Richtung ihrer Klassenräume, aber einige Mädchen verschwanden in den Toiletten. Es waren diese Art von Mädchen, die total überschminkt zur Schule kamen und jetzt aussahen wie flüssig gewordenen Wachsmalstifte. Oder wie ein zerlaufener Tuschkasten.
Sahra folgte einer Gruppe von tropfenden Jungs die Treppe hoch. Der Boden glänzte und viele schlammige Schuhabdrücke waren zu sehen. Manche strauchelten beim gehen oder schlitterten mehr, als dass sie liefen, die Flure entlang. Im Zweiten Geschoss angelangt trennte sie sich aus der Schar von Schülern und ging den halben Korridor entlang, bis zu ihrem Klassenraum, in dem sie unteranderem auch Geschichte hatten. Vor der Tür warteten bereits einige ihrer Klassenkameraden, die nicht minder durchnässt waren. Laila war nicht dabei. Und Maria erst recht nicht. Sahra stellte ihre Mappe auf den Boden und lehnte sich an die Wand. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Der Unterricht würde erst in einer Viertelstunde beginnen. Sie verschränkte die Arme und beobachtete die vorbeiziehenden Schüler. Es war laut. Zu laut. Das Getrappel der vielen Füße und das Stimmengewirr lösten nach nicht mal einer Minute leichte Kopfschmerzen bei ihr aus. Sie hörte die Stimmen, verstand aber nicht was sie sagten. Sie schloss die Augen.

Erst als ihr jemand auf die Schulter tippte öffnete sie diese wieder. Laila war da. „Hey,", sagte Sahra. „Moin", erwiderte Laila und schüttelte energisch den Kopf. Ihre nassen Haare klatschten Sahra ins Gesicht, gegen Hals und Schultern. „Ey lass das, ich bin schon nass genug", lachte sie und schwang ihren Kopf ruckartig hin und her um Laila mit ihrem Zopf zu erwischen.
„Alter, dieser Regen da draußen ist so heftig. Du kannst kaum was sehen und der Wind dazu macht es nicht gerade besser. Ich bin heute mal mit dem Fahrrad hier und natürlich musste es genau heute regnen", sagte Laila griesgrämig und lehnte sich ebenfalls an die Wand. Sahra drehte den Kopf zu ihr, zeigte mit dem Finger auf die, grinste und sagte: „Ha-ha!"
Laila verdrehte die Augen. „Ja ja, lach du nur. Ab morgen fahr Ich wieder Bahn", sagte sie entschlossen. „Hoffentlich klart es noch auf. Ich will nicht im Regen zurückfahren."
„Ach, bestimmt. Aber hey, wenn es doch noch länger regnen sollte, haben wir vielleicht Regenpause", sagte Sahra und grinste erwartungsvoll.
„Das wäre natürlich ein Vorteil", stimmte Laila ihr zu.
„Du, ich hab heute Morgen noch mit Maria geschrieben", führte sie die Unterhaltung fort. „Es geht ihr echt dreckig. Sie hat heute morgen gekotzt und konnte kaum frühstücken. Sie sind dann auch direkt zum Arzt gefahren und wahrscheinlich sitzen sie jetzt im Wartezimmer und warten, dass sie rankommen."
Sahra verzog das Gesicht. „Gott die Arme, ich hasse kotzen." Sie zog ihr Handy hervor.
„Du weißt, dass Handyverbot gilt."
„Ja, aber ich will ihr gute Besserung wünschen. Sag mir bitte Bescheid, wenn ein Lehrer kommt."
„Mach ich."
Sahra tippte. „Hey Miri, Laila hat mir erzählt, wie mies es dir geht und das du brechen musstest. Es scheint dich ganz schön erwischt zu haben, du Arme. Gute Besserung von mir und auf das dein Mageninhalt dich nicht nochmal besuchen kommt. Ach, und hoffentlich musst du nicht allzu lange beim Arzt warten." Senden.
„Achtung, da kommt Frau Klette", flüsterte Laila. Sahras Kopf zuckte hoch, blickte hektisch nach Links und Rechts und stopfte ihr Handy zurück in ihre Hosentasche. Frau Klette ging an ihnen vorbei ohne etwas gemerkt zu haben. Sie atmete erleichtert aus. „Danke."
„Kein Ding, ich steh gern schmiere", lachte Laila und lehnte sich zurück gegen die Wand.

Das Gewitter hielt noch lange an. Immer wieder erhellte ein gleißender Blitz die dunkle Wolkendecke und das laute Krachen des Donners folgte nur wenige Sekunden später. Auch der Regen ließ nicht nach. Immer heftiger schienen die Tropfen gegen die Fensterscheiben der Klassenzimmer zu trommeln und erschwerten die Konzentration einiger Schüler immens.
Die erste Pause durften sie im Schulgebäude verbringen, sowie auch die zweite Pause. Erst in der Mitte der Fünften Stunde wurden aus den kräftigen Regentropfen ein leichter Nieselregen und es klarte ein wenig auf. Das Gewitter war weitergezogen.
Glück für Laila die jetzt, nach der Achten Stunde, wieder mit dem Fahrrad zurückfahren konnte, ohne dabei zwangsweise duschen zu müssen. Auch Sahra, sowie eigentlich alle anderen Schüler auch, waren froh darüber, dass der Regen nachgelassen hatte. So war es gleich viel angenehmer nach Hause zu kommen. Und ihre Klamotten würden nicht mehr durchweicht werden.
Als sie so mit nassen Sachen im Geschichtsunterricht gesessen hatte, hatte sie ein wenig gefroren. Es war natürlich nicht wirklich kalt gewesen im Raum, aber die Nässe des Regens hatte Sahra leicht zum zittern gebracht. Aber auch das hatte einen Vorteil: Ana war wieder kurz da gewesen und hatte ihr erklärt, dass Kälte gut für sie sei. Der Körper verbrauchte ein paar Kalorien um seine Temperatur aufrechtzuerhalten. Danach war die wieder weg gewesen.

Zuhause angekommen aß sie einen Toast mit Butter und machte sich dann an die Hausaufgaben. Diese nahmen so einiges an Zeit in Anspruch, sodass Sahra wieder Hunger hatte, als sie fertig wurde. Nur was konnte sie essen? Oder besser; was durfte sie essen? Noch einen Toast? Nein. Etwas Süßes? Auf keinen Fall! Etwas Obst? Hmm... das könnte sie sich doch erlauben, oder? Also ging sie wieder in die Küche und nahm sich die letzte Banane aus der Schale. Jetzt waren dort nur noch drei Äpfel.
Sie schälte die Banane und biss ab. Allerdings befriedigte sie der Geschmack nicht so, wie sie gehofft hatte. In ihr keimte der Drang nach etwas Süßem auf. Schnell aß sie die Banane auf und warf die Schale in den Müll. Aber sie wollte immer noch etwas Süßes. Was jetzt?
Sie wusste, Ana würde zornig und enttäuscht sein, wenn sie etwas Süßes essen würde, andererseits wuchs das Verlangen in ihr immer weiter. Aber halt! Ana hatte ihr gesagt, sie würde Sahra nie wirklich alleine lassen. Sie sei immer irgendwo im Hintergrund und würde ihr helfen, wenn sie Hilfe benötigte. Und jetzt brauchte sie Hilfe!
„Ana?", rief sie in ihren Kopf hinein, „Ana? Bist du da? Bitte, ich brauche dich gerade! Ich habe so Hunger auf etwas Süßes, aber ich weiß es wäre falsch etwas zu essen, bitte Ana. Was soll ich tun?" Stille. Sie wartete. Stille. Sie lauschte hoffnungsvoll in ihren Kopf hinein. Stille.
„Ana, bitte hilf mir!"
Dann erklang die erhoffte Stimme: „Trink etwas. Trink jetzt ganz viel Wasser. Das füllt deinen Magen. Trink solange bis dir schlecht ist, dann wirst du auch keinen Hunger mehr haben."
Stille.
Sahra stand noch einen Moment wie angewurzelt da, ehe Bewegung in ihre Glieder kam. Fast automatisch holte sie sich ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser. Dann setzte sie es an ihre Lippen und trank ein paar Schlucke. „Mehr! Trink mehr!"
Sie trank. Sie trank langsam, bis das Glas leer war.
„Noch eins!"
Sie füllte es wieder auf, hielt es sich wieder an den Mund und trank weiter. Es war unangenehm so viel zu trinken, aber trotzdem machte sie weiter. Immer weiter, bis das Glas ein zweites Mal geleert war. Ja, jetzt war ihr schlecht. Ihr Bauch fühlte sich unangenehm voll an und ihr wurde leicht übel. Sie stellte das Glas auf den Küchentisch und ging zurück in ihr Zimmer. Eine gute Seite hatte es jedenfalls: ihr war wirklich der Appetit vergangen.

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