Sport, Sport, Sport!
Als Sahra am nächsten Morgen, an einem Samstag, aufwachte, war es bereits 11 Uhr. Sie hatte fast den ganzen Vormittag verschlafen. Aber das störte sie nicht. Das Wochenende nutzte sie immer dazu um Schlaf nachzuholen, den sie während der Schulzeit eingebüßt hatte.
Die Wohnung war still. Keine Schritte waren zu hören, keine Türen, kein klappern von Gegenständen die benutzt wurden. War ihre Mutter etwa nicht Zuhause? Sahra rappelte sich aus dem Bett auf und ging in die Küche. Keine Mutter zu sehen. Aber auf dem Esstisch lag ein Zettel. „Ich treffe mich mit Freunden von der Arbeit, komme wahrscheinlich erst Abends zurück. Kuss, Mama"
Okay, damit war die Frage geklärt, wo ihre Mutter war. Das hieß, sie hatte die Wohnung für sich und war den Großteil des Tages ungestört. Also zumindest, wenn niemand bei ihr klingeln würde. Aber das hieß auch, dass sie Sport machen konnte, ohne dass ihre Mutter es mitbekam. Ihre Laune stieg an. Sie würde etwas frühstücken und danach direkt anfangen. Sie war total motiviert und das sollte sie nutzen, bevor die Faulheit wieder siegte.
Also frühstückte sie schnell und zog sich danach direkt ihre Sportsachen an. Voller Motivation nahm sie ihr Handy und googelte nach „Workouts Zuhause".
Es kamen viele Vorschläge von verschiedenen Übungen, die man zuhause machen konnte, ohne rauszugehen. Liegestütze, Sit Ups, Kniebeugen, Hampelmänner, Ausfallschritte, auf der Stelle laufen, Lunges, Zehenberühren und vieles mehr. Aber was sollte sie machen?
Ein Vorschlag stach ihr besonders ins Auge: „Schnell 100 Kalorien verbrennen". Dafür musste man nur Vierzig Hampelmänner, Dreißig Kniebeugen, Zwanzig Sit Ups und Zehn Liegestütze machen.
Sie wurde stutzig und setzte sich auf die Couch. War es wirklich so einfach so viele Kalorien mit so wenig Aufwand zu verbrennen? Das konnte sie kaum glauben!
Auch ein anderes Workout, das angab ganze Eintausend Kalorien zu verbrennen ließ sie die Stirn runzeln: Man musste nur Vier Mal Fünfundzwanzig Liegestütze, Einhundert Sit Ups, Einhundert Kniebeugen und Einhundert Hampelmänner machen, und schon waren Eintausend Kalorien verbrannt? NIEMALS! Das konnte sie beim besten Willen nicht glauben!
Wenn das wirklich so leicht wäre, Kalorien in so großen Mengen, mit so wenig Aufwand zu verbrauchen, könnte man Übergewicht doch ganz einfach bekämpfen.
Sie klickte auf einen Artikel, der sich mit solchen Workouts beschäftigte und begann zu lesen.
Nach 15 Minuten war sie aufgeklärt:
Die Angaben bei solchen Workouts waren meistens sehr übertrieben und ungenau angegeben. Sie lockten einen nur mit einer hohen Kalorienanzahl für verhältnismäßig geringen Aufwand.
Tatsächlich sind die Kalorien, die man bei solchen Workouts verbrennt von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Je größer und schwerer man war, desto mehr verbrannte man auch. Aber man konnte bei einer Sache sicher sein: Diese Workouts verbrannten zumeist nicht einmal die Hälfte der Kalorien, die sie versprachen zu verbrennen.
Um das alles zusammenzufassen: das „Eintausend Kalorien Workout" verbrannte nicht einmal Fünfhundert Kalorien und das „Einhundert Kalorien Workout" nicht einmal Fünfzig.
Und als in Sahras Kopf diese Erkenntnis einrastete, fiel ihr auf, dass sie noch keine einzige Minute Sport gemacht und somit auch noch keine einzige Kalorie verbrannt hatte.
Etwas sauer auf sich selbst schaltete sie ihr Handy aus und stellte sich in die Mitte ihres Zimmers, da sie dort genügend Platz hatte für die Übungen. Sie fing an sich zu dehnen um ihre Muskeln etwas aufzuwärmen. Dann legte sie los. Mit Hampelmännern, danach folgten Kniebeugen und Zehenberührer. Auf ihrer Couch machte sie Sit Ups und Liegestütze. Lunges, auf der Stelle Joggen und Armkreisen kam auch noch dazu. Und diese Übungen wiederholte sie danach wieder und wieder.
Nach einer halben Stunde konnte sie nicht mehr und ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. Sie war verschwitzt und ihre Sachen klebten an ihr. Ihre Beine taten weh von den vielen Kniebeuge, aber dennoch raffte sie sich auf und öffnete ihr Zimmerfenster um zu lüften. Jetzt würde sie duschen gehen.
Mit frischen Klamotten ging sie ins Bad und zog sich aus. Ein kurzer, kritischer Blick in den Spiegel (zu dick), dann stellte sie sich unter die Dusche und genoss das Gefühl des warmen Wassers, das auf ihre Haut prasselte. Nach ungefähr Zwanzig Minuten trat sie, nach Orange riechend und mit gewaschenen Haaren, aus der Kabine.
Nachdem sie sich abgetrocknet und angezogen hatte, föhnte sie sich noch die Haare und verschwand danach in ihrem Zimmer. Aber jetzt hatte sie Hunger. Sie überlegte. Sollte sie etwas essen? Wenn ja, was? Noch ein Brötchen? Aber darauf hatte sie gerade keine Lust. Mehr auf etwas warmes. Auf ein gutes Mittagessen. Sie haperte noch ein bisschen mit sich, ehe sie sich dazu entschied Nudeln zu kochen. Nudeln mit Tomatensoße. Ein einfaches, aber leckeres Gericht. Mit dem Handy in der Hand ging sie in die Küche und kramte zwei Töpfe heraus. Einer für die Nudeln, einer für die Soße. Über ihr Handy ließ sie YouTube Videos laufen, während sie am Herd hantierte. Wasser einfüllen, salzen, kochen lassen, dann Nudeln reinschütten und einen Wecker auf Dreizehn Minuten stellen. Für die Soße holte sie alle Zutaten heraus und bereitete auch diese zu. Als der Wecker klingelte kostete sie eine Nudel, befand, dass sie gut schmeckte und weich genug war, und goss das Wasser ab. Auf einen tiefen Teller tat sie sich eine Portion auf und streute noch etwas Käse darüber. Dann fing sie an mit essen.
Als sie fertig war räumte sie den Tisch ab und stellte die beiden Töpfe in den Kühlschrank. Es war noch genug für das Abendessen da, also musste ihre Mutter nicht selbst etwas zubereiten, wenn sie von ihrem Treffen wiederkam. Bestimmt würde sie sich darüber freuen.
Zurück in ihrem Zimmer machte sie es sich wieder auf der Couch gemütlich. Jetzt hatte sie am Wochenende genug Zeit um, A: zu schlafen und, B: Serien oder Filme zu gucken, ohne sich ständig um Hausaufgaben zu kümmern. Vor ihr lag also ein ruhiges und entspanntes Wochenende.
Gerade wollte sie ihren Laptop hochfahren, um die Black Mirror Folgen nachzuholen, die sie verschlafen hatte, da meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf, die sehr nach Ana klang. Die sehr nach einer wütenden Ana klang. „Das ist das Einzige was du kannst, oder? Faul auf der Couch rumgammeln und dir Serien anschauen! Wolltest du nicht abnehmen? Hab ich dich nicht kürzlich in das dritte Ana Gebot eingeweiht, hä?! Warst du heute Morgen nicht noch total motiviert Sport zu machen? Aber stattdessen frisst du Nudeln und liegst faul rum!"
Die Stimme, die wohl wirklich Ana war, wütete in Sahras Kopf umher. Langsam senkte sie den Kopf und starrte ihre Beine an. Dann flüsterte sie leise in ihr leeres Zimmer: „Ich hab heute doch schon Sport gemacht." Doch Ana gab sich nicht zufrieden. „Das hast du zwar, aber alle verbrannten Kalorien hast du dir danach wieder angefressen. Bestimmt sogar das Doppelte. Das Dreifache! Es bringt nichts Sport zu machen und danach direkt etwas zu essen. Solltest du Hunger haben, dann trink etwas. Am besten Wasser. Und solltest du es wirklich nicht mehr aushalten, dann iss einen Apfel, okay?" Die Stimme hatte sich wieder beruhigt.
„O...kay", flüsterte sie und wischte sich mit der Hand über die Augen. „Na dann hopp, aufstehen. Hoch mit dir und mach weiter Sport. Wenn du Sport machst, dann machst du nicht nur mich stolz, sondern auch dich. Und das willst du doch, oder? Du willst eines Tages mit Stolz in den Spiegel schauen können und dir sagen: „Ich habe es geschafft". Und mit viel Disziplin wirst du diesen Punkt in deinem Leben auch erreichen. Stay strong."
Stay strong. Bleib stark. Diese Worte wiederholten sich in Sahras Kopf immer und immer wieder. Langsam stand sie auf, nahm ihre verschwitzten Sportsachen zur Hand und zog sich wieder um. Stay strong, stay strong, stay strong.
Über ihr Handy lies sie YouTube laufen. Sie stellte sich zurück in die Mitte ihres Zimmers und fing wieder an. Auf der Stelle laufen für Fünf Minuten. Kniebeugen Fünfzig Stück. Hampelmänner Einhundert Stück, Lunges Zwanzig Stück pro Bein. Dann wieder auf die Couch und Sit Ups Vierzig Stück, im Anschluss Liegestütze Zehn Stück. Und dann ging es von vorne los. Zwischendurch trank sie ein Glas Wasser (Ja, WASSER, kein Apfelsaft. Ana hatte gesagt, sie solle Wasser trinken), da sie großen Durst bekam und machte dann weiter. Es war ihr, als würde eine innere Stimme, eine innere Kraft, sie antreiben, immer weiter zu machen. Und in ihrem Kopf saß Ana und lächelte sie an, jedes Mal, wenn sie eine kleine Pause einlegte. Das Lächeln schien zu schreien: „MACH WEITER!", und so machte sie weiter. So lange machte sie weiter, bis ein Schlüssel klimperte. Ihre Mutter war wieder da. Schlagartig hörte sie auf mit den Hampelmännern. „Bin wieder da Mäuschen!", rief ihre Mutter aus dem Flur. „Alles klar!", antwortete Sahra.
Wie der Blitz schnappte sie sich ihre normalen Anziehsachen und zog sie sich über. Ihre Mutter sollte nicht merken, dass sie Sport machte. Zögerlich trat sie aus ihrem Zimmer in den Flur. Ihre Mutter entledigte sich gerade ihrer Jacke. „Hey", sagte sie. „Hey", antwortete ihre Tochter, „und, wie war's?"
„Ach, es war schön", kam die Antwort und ihre Mutter lächelte breit. „Wir haben viel erzählt, sind spazieren gewesen und dann noch essen gegangen."
„Klingt schön", sagte Sahra, aber sie hörte nur mit halben Ohr zu. Wenn ihre Mutter bereits gegessen hatte, würden sie vielleicht nicht zu Abend essen. Aber wenn ihre Mutter jetzt trotzdem Hunger hatte, konnte sie lügen und sagen, sie habe bereits zu Abend gegessen. Das war ein Plan! So würde sie sich die verbrannten Kalorien nicht gleich wieder anfressen und Ana wäre stolz auf sie. Und sie wollte, dass Ana stolz auf sie war, denn dann würde sie auch stolz auf sich selber sein.
„Und, hast du jetzt noch Hunger?", versuchte sie möglichst beiläufig zu fragen. „Oh ja, sogar sehr. Es ist einiges an Zeit vergangen, seit dem wir gegessen haben", antwortete ihre Mutter. „Soll ich uns was machen?"
„Äh nein, danke, aber ich habe schon gegessen. Ich habe Nudeln gekocht und da sind noch einige übrig geblieben. Wenn du also etwas essen willst, dann mach ruhig, aber ich bin voll." Eine astreine Lüge war ihr gelungen. „Oh, okay, dann esse ich eben etwas", sagte ihre Mutter. In Wirklichkeit hätte Sahra nur all zu gerne etwas gegessen, aber dann wäre der ganze Sport umsonst gewesen und das wollte sie nicht. Stay strong, stay strong. Aber sie würde noch etwas trinken bevor sie zurück in ihr Zimmer ging. Also füllte sie sich ihr Glas mit Wasser (WASSER) und trank es aus. Jetzt fühlte sich ihr Bauch voller an. Allerdings unangenehm voll. Als könnte sie die ganze Zeit das Schwappen des Wassers in ihrem Inneren spüren. Schnell ging sie zurück in ihr Zimmer und legte sich auf die Couch. Mit der rechten Hand strich sie sich mehrmals über den Bauch.
Gewölbt. Fett. Eklig.
„Was tust du da?", zuckte die Stimme wieder durch ihren Kopf. „Mich ausruhen", antwortete Sahra leise. „Warum?"
„Weil mir etwas schlecht ist."
„Wolltest du nicht abnehmen?"
„Doch scho–"
„Dann mach gefälligst Sport und lieg nicht faul rum!", schrie Anas Stimme. Sie zuckte zusammen und sprang auf. Gerade wollte sie weiter Sport machen, als ihr etwas einfiel. „Aber wenn ich jetzt was mache, dann hört Mama das. Und ich will nicht, dass sie merkt, dass ich Sport mache." Die Stimme seufzte. „Dann lass ein paar Übungen weg und mach nur die leisen, wie Kniebeugen, Sit Ups, Liegestütze und so weiter. Aber. Mach. Sport!"
Und so machte sie Sport. So leise wie es ihr möglich war. Hauptsache ihre Mutter bekam davon nichts mit.
Erst gegen 22:00 Uhr hörte sie auf. Für sie war jetzt Schlafenszeit. Sie war erschöpft, ihre Arme und Beine taten weh und ihre Sportsachen waren schweißdurchtränkt. Und dabei hatte sie erst geduscht! Sie zog die Sportbekleidung aus und warf sie auf die Couch. Dann hob sie ihre anderen Klamotten auf und ging mit ihnen ins Bad. Die Klamotten wanderten in den Wäschekorb und sie selbst hüpfte noch mal schnell unter die Dusche. Vorher band sie sich ihre langen Haare noch zu einem Dutt zusammen, damit sie nicht wieder nass wurden, und legte ein Handtuch bereit. Sie duschte den Schweiß von sich ab und trocknete sich dann mit dem Handtuch ab. Danach zog sie sich ihren Schlafanzug an, ging auf die Toilette und putzte sich die Zähne. Nachdem sie ihrer Mutter eine gute Nacht gewünscht hatte legte sie sich ins Bett um zu schlafen. Ana würde bestimmt stolz auf sie sein, dass sie heute so viel Sport gemacht hatte.
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