„Schreib es auf"
Der Abend war vorbei, der Film vorüber und Sahra und Maria hatten sich von Laila verabschiedet. Sie waren noch zusammen zur Haltestelle gelaufen und hatten sich unterhalten, doch spätestens als Sahras Bahn einfuhr, Maria fuhr mit einer anderen Linie, trennten sich ihre Wege. Während sie auf einem Sitzplatz saß, die Tasche auf dem Schoß, dachte sie an die vergangenen Stunden. Ana war die gesamte Zeit über dageblieben. Während des Films hatte sie sie erfolgreich von den Snacks ferngehalten. Sie hatte ihre Hände festgehalten. Sahra war irgendwo dankbar dafür, dass Ana sie nicht alleine ließ, andererseits hatte sie sich überhaupt nicht entspannen können. Ihre Aufmerksamkeit galt weniger dem Film und ihren Freundinnen als Ana (ihrer besten Freundin). Sie hatte Sahra erfolgreich abgelenkt, so dass sie sich im Nachhinein kaum daran erinnern konnte, worüber sie, Laila und Maria nach dem Film noch gequatscht hatten. Sie hatte die Unterhaltung nur mit halbem Ohr verfolgt und hatte stattdessen Ana aus den Augenwinkeln bespitzelt. Sie konnte es sich nicht erklären, aber irgendwie fühlte sie sich von ihr beobachtet. Als würde Ana jede ihrer Bewegungen überwachen und darauf achten, dass sie bloß dem Knabberzeug nicht zu nahe kam. Sie hatte sich unwohl gefühlt, als Ana ununterbrochen an ihrer Seite war. Doch das konnte sie sich nicht erklären. Warum fühlte sie sich in Gesellschaft von Ana und Laila und Maria unwohl? Normalerweise genoss sie die Zeit mit ihnen. Nun gut, bei Ana war es nicht nur genießen, eher viel weinen und sich schuldig fühlen, aber wenn sie zu zweit einfach nur Zeit verbrachten und ein wenig herumalberten, dann war es wirklich eine schöne gemeinsame Zeit. Aber wenn Ana auftauchte, wenn sie gerade mit ihren anderen Freundinnen zu Gange war, fühlte sie sich merkwürdig. Unwohl. Unwohl bei dem Gedanken, dass da noch eine vierte Person war, die die anderen allerdings nicht sehen konnten. Was wäre, wenn sie versehentlich auf eine Frage von Ana laut antworten würde? Wenn Ana etwas lustiges sagen würde und sie anfing zu lachen? Wenn sie von Ana so sehr abgelenkt wäre, dass sie das Gesagte der anderen einfach überhörte? Wenn sie zu auffällig neben sich starrte, da wo Ana saß, und das Laila oder Maria komisch vorgekommen wäre? Den gesamten Abend hatte sie sich ununterbrochen diese „was-wäre-wenn?"-Szenarien ausgemalt und hatte leicht panisch nach möglichen Ausreden gesucht.
Dass sie gerade in Gedanken war, dass sie gerade an etwas lustiges gedacht hatte, dass sie glaubte neben sich eine Fliege oder Ähnliches gesehen zu haben, und, und, und. Sie war die Möglichkeiten immer und immer wieder durchgegangen und war zunehmend nervöser geworden. Fast schon erleichtert hatte sie die Nachricht von Lailas Mutter, Andrea, aufgenommen, dass sie sich langsam mal auf den Weg nach Hause machen sollten. Und wirklich erleichtert war sie, als sich Ana bei diesen Worten kurzerhand in Luft auflöste und sie endlich mit den anderen alleine ließ.
„Nein Sahra", ermahnte sie sich selbst, „nichts mit „endlich". Es war gut, dass Ana die ganze Zeit über da gewesen war. Du hättest dich andernfalls nur mit Chips vollgestopft. Und das willst du doch nicht. Du willst nicht noch fetter werden." Innerlich schüttelte sie den Kopf. Nein sie wollte nicht noch fetter werden und Chips und Schokolade trugen nun einmal dazu bei ihr Gewicht nur noch mehr zu erhöhen.
„Und du solltest auf Anas Ratschlag hören und heute lieber nichts mehr essen, erinnerst du dich? Ana hat gesagt du– ich soll heute nichts mehr essen." Und das nahm sie sich fest vor. Sie nahm sich vor heute nichts mehr zu essen.
Doch als sie zu Hause ankam hatte sie Anas Worte schon wieder verdrängt. Marlene bereitete, nachdem Sahra angekommen war, das Abendessen vor und sie setzte ihr Vorhaben in den Wind und verdrückte zwei belegte Brote. Danach verschwand sie in ihr Zimmer und mümmelte sich in ihrer Decke ein, den Laptop auf dem Schoß. Allerdings konnte sie sich nur kurze Zeit entspannen. Gerade wollte sie ein neues YouTube Video anklicken, da tauchte Ana neben mir auf. Sie hielt inne und wandte sich ihr zu. Ana sah sie böse an.
„Ähm, was ist?", fragte Sahra nervös. Ana schnaubte und funkelte sie an. „Was ist?! Was ist?!", äffte sie sie nach. „Ja Sahra, was soll wohl sein? Was könnte denn nur sein, hm? Was ist passiert? Ich habe nicht die geringste Ahnung!", sagte sie sarkastisch. „Was denkst du denn, was nur sein könnte?" Sahra blickte sie verwirrt an. Was war denn mit ihr los? Warum war sie so zickig?
„Zickig? Zickig?! Ich habe einen sehr guten Grund zickig zu sein meine Liebe. Denk doch mal nach, du Schlaumeier! Was könnte nur passiert sein?", fragte Ana spöttisch. Sie war weiterhin verwirrt.
„Ähm...", doch dann traf es sie wie ein Schlag. Stimmt ja! Sie hatte etwas gegessen. Sie hatte etwas zu Abend gegessen, obwohl sie sich selbst vorgenommen (und Ana es ihr geraten) hatte, heute die Finger von weiterem Essen zu lassen. Aber sie hatte es dennoch gemacht. Sie gab sich einen Facepalm und murmelte: „Scheiße"
„Ja, Scheiße, ne?!", giftete Ana. „Totale Scheiße, dass du dich offensichtlich nicht einmal die geringste Spur unter Kontrolle hast. Und du willst es jemals schaffen dünn zu werden?! Mit deiner nicht vorhandenen Selbstdisziplin wird das nie klappen. Verstehst du das Sahra? Es wird nie klappen!" Ana war aufgesprungen und hatte sich vor ihr aufgebaut. Sie keifte sie an und Sahra versank immer weiter in ihrer Decke. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie begann zu zittern.
„Ich... Ich...", sagte sie erstickt und wischte sich über die Augen. „Tut mir leid... Ich... Ich habe es vergessen", flüsterte sie kleinlaut und starrte zu Boden. Sie traute sich nicht Ana in die Augen zu sehen. Jedoch war diese noch nicht fertig mit ihr.
„Vergessen! Vergessen! Du scheinst deine Versprechen und Vorsätze wohl immer zu vergessen, hm?! Du hast wohl auch vergessen, was das letzte Gebot war, welches ich dir gesagt habe, nicht wahr? Oder kannst du mir sagen, wie das siebte Gebot lautet, Sahra?! Na, kannst du das?!" Sahra wagte einen kurzen Blick in Anas Augen, die sie anfunkelten und senkte sofort wieder den Blick. Dann schüttelte sie hilflos den Kopf. Nein. Nein, sie konnte sich nicht mehr an das Gebot erinnern. Wenn sie ehrlich war konnte sie sich beim besten Willen nicht mal an die meisten anderen Gebote erinnern. Die Tränen flossen ihr nun aus den Augen und tropften auf die Decke.
„Nein", hauchte sie.
„Und noch was", fuhr Ana fort, nicht leiser als zuvor. Sie stampfte zum Schreibtisch hinüber und schlug mit der Hand auf die Tischplatte. Sahra zuckte bei dem lauten Geräusch zusammen. „Erinnerst du dich eigentlich noch an das Esstagebuch, das du führen solltest?! Oder hast du das auch vergessen, hä?!" sie schlug erneut auf den Tisch. „Das Buch liegt hier, begraben unter irgendwelchem Müll und du hast es vergessen! Du solltest jeden Tag aufschreiben, was du gegessen hast, die Kalorien, dein Gewicht und den Sport den du gemacht hast. Aber das letzte Mal, seitdem du dieses Buch zur Hand genommen hast, ist Wochen her! Ich habe dir nicht umsonst gesagt, dass du ein Essbuch führen sollst, Sahra! Oder ist dir einfach egal, was ich sage, hä?! Du scheißt auf meine Worte, stimmt's?! „Lass die Olle nur labern, ich mach, was ich will", nicht wahr? „Mir egal wenn ich noch fetter werde, ich esse jetzt was"." Sie verstellt ihre Stimme, als sie Sarahs mutmaßliche Gedanken ausspuckte. „Weißt du Sahra, wenn du eh nicht auf meine Tipps und Ratschläge hören willst, dann kann ich auch verschwinden. Bitte, mach du nur weiter deinen Mist und nimm ruhig weiter zu, mir soll es recht sein. Du wolltest zwar, dass ich bei dir bleibe, aber wenn du mich sowieso ignorierst, dann macht es für mich keinen Sinn meine Zeit weiter mit dir zu verschwenden!" Ana stoppte. Sie atmete heftig und ihr Gesicht war wutverzerrt. Sie holte einmal tief Luft und sagte, jetzt ganz ruhig: „Du hast die Wahl." Sahra war während ihres Wutausbruchs zu einem Häufchen Elend zusammen geschrumpft und weinte ununterbrochen. Sie schluchzte heftig. Sie war nicht in der Lage zu antworten. Ana schloss kurz die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Dann ging sie zur Couch rüber und hockte sich vor Sahra hin. Mit sanfter Stimme fragte sie: „Willst du, dass ich bleibe?" Sie brachte keinen Laut heraus und nickte einfach nur heftig.
„Bitte Ana, bitte bleib bei mir", dachte sie verzweifelt. „Ich werde alles tun was du von mir verlangst, aber bitte bleibe. Bitte Verlass mich nicht." Ana strich ihr über die Wange und lächelte sie an. „Okay", hauchte sie. Dann erhob sie sich wieder und setzte sich neben sie. „Also dann", sagte sie und strich ihr über den Rücken, „hol mal dein Buch her, damit wir den heutigen Tag eintragen können." Sahra stellte den Laptop beiseite und entwirrte sich aus der Decke. Hastig stolperte sie zum Schreibtisch und kramte nach dem Notizbuch. Unter einigen Blättern kam es zum Vorschein. Sie packte es und noch einen Kugelschreiber und eilte zur Couch zurück. Sie setzte sich und schlug das Büchlein auf. Der letzte Eintrag lag wirklich schon mehrere Wochen zurück. Da hatte sie noch 51,1 Kilogramm gewogen (dank der Periode). Sie schrieb das heutige Datum hin, den Dreiundzwanzigsten November, dann stoppte sie. Welches Gewicht sollte sie aufschreiben? Das von heute Morgen, 48,7 Kilogramm, oder sollte sie sich jetzt noch einmal wiegen? Sie sah Ana hilfesuchend an.
„Welches Gewicht soll ich aufschreiben?"
„Du kannst doch einfach beide nehmen", sagte sie lächelnd. Sahra nickte und begann zu schreiben.
Gewicht, Doppelpunkt, 48,7 Kilogramm. Frühstück, Doppelpunkt, nichts. Mittag; Fischstäbchen (sie befragte Google) zirka 250 Kalorien und Kartoffelbrei; zirka 100 Kalorien. Snacks; nichts. Abendbrot; zwei belegte Brote (sie errechnete 518 Kalorien) und Sport; Schwimmen. Dann stand sie auf. Ana erhob sich ebenfalls. Zusammen gingen sie ins Bad und Sahra holte die Waage hervor. Sie sah Ana kurz an. Diese nickte. Einmal tief durchatmen und sie stellte sich auf die Platte.
„Bitte nicht allzu viel. Bitte nicht allzu viel." 49,8. Sie schluckte. Ana trat zu ihr und legte einen Arm um sie. „Schh, schh, ganz ruhig. Das kriegen wir wieder hin, ja?", flüsterte sie. Sahra nickte und stieg leicht zitternd wieder von der Waage runter.
„Na komm." Sie stellte die Waage zurück und ließ sich von Ana in ihr Zimmer ziehen. Wieder auf der Couch trug sie das neue Gewicht ein. 49,8 Kilogramm. Sie seufzte und lehnte sich zurück. Ana betrachtete das Geschriebene.
„Und, hast du deine Kaloriengrenze eingehalten?", fragte sie. Sahra blickte auf die Seite und rechnete im Kopf zusammen. 868 Kilokalorien.
„Nein", murmelte sie. Nein, sie hatte ihre Grenzen nicht eingehalten.
„Also, was willst du jetzt machen?"
„Sport."
„Sehr gut." Ana lächelte. „Aber vorher möchte ich dich noch mal an die Gebote erinnern. Weißt du noch wie sie lauten?" Sahra schloss die Augen und dachte nach. Das erste Gebot hieß: „Wer nicht dünn ist, ist nicht attraktiv", oder so ähnlich, doch an die anderen konnte sie sich kaum erinnern. Eines hatte etwas mit Kalorien zu tun, das wusste sie noch. Ein paar andere mit Essen. „Essen ist schlecht", oder so. Doch mehr wusste sie nicht.
„Nein", murmelte sie und machte sich auf einen erneuten Wutausbruch von Ana gefasst. Doch der kam nicht. Stattdessen sagte sie: „Dann werde ich sie dir alle noch einmal aufzählen. Und du Sahra, du wirst sie aufschreiben, ja?" Sie nickte.
„Okay."
„Also, dann, erstes Ana Gebot lautet: „Wenn ich nicht dünn bin, kann ich nicht attraktiv sein". Schreib." Sahra schrieb in ihrer schönsten Schreibschrift: Wenn ich nicht dünn bin, kann ich nicht attraktiv sein.
„Zweites Gebot: „Gewichtsverlust ist gut, Zunahmen ist schlecht"." Ihr wurde wieder unwohl, als sie daran dachte, dass sie heute bereits zugenommen hatte.
„Drittes Ana Gebot:..."
„Und siebtes Ana Gebot: „Ich darf nichts essen ohne mich schuldig zu fühlen"." Sahra schrieb es auf und setzte den Stift ab. Sie ließ ihren Blick noch einmal über alle Gebote schweifen und sie fühlte wie ein Schuldgefühl in ihr aufkeimte. Sie hatte fast alle Gebote missachtet. Sie hatte nicht auf die Kalorien geachtet, sie hatte Sport vernachlässigt und sie hatte sich beim Essen nicht schuldig gefühlt. Das einzige, was sie gemacht hatte, war sich zu wiegen. Vorsichtig blickte sie zu Ana und sah dann zu Boden. Verdammt, Verdammt, Verdammt! Wie sollte sie es schaffen weiter abzunehmen, wenn sie Anas Gebote, Tipps und Ratschläge vergaß? So konnte das doch nie etwas werden. Ana legte einen Arm um sie.
„Alles ist gut Sahra, ja? Wir kriegen das hin. Jetzt hast du die Gebote auf Papier und kannst sie dir immer wieder durchlesen. So wirst du sie nicht wieder vergessen, stimmt's? Du kannst sie dir ansehen und dich jedes Mal erneut an dein Ziel erinnern", sagte sie sanft und strich ihr über den Rücken. Sahra nickte und starrte auf die Gebote.
„Ich bin dafür", fuhr Ana fort, „dass du dir dein Ziel aufschreibst. Wenn du dein Gewichtsziel schriftlich festhält, dann hast du etwas Handfestes, an das du dich halten kannst. So kannst du es dir immer wieder vor Augen führen, was meinst du?"
„Ja", sagte Sahra mit rauer Stimme und räusperte sich. „Ja, klingt gut." Ana lächelte. „Also, wie lautet dein Gewichtsziel?" Sahra musste schmunzeln. Sie wandte sich zu ihr und sagte: „Das weißt du doch ganz genau."
„Ja", grinste Ana. „Aber du sollst es noch einmal laut aussprechen, damit es besiegelt ist, verstehst du?" Sie nickte.
„Mein Gewichtsziel sind fünfundvierzig Kilogramm. So viel wie du wiegst", sagte sie laut und deutlich.
„Sehr gut", sagte Ana, weiterhin lächelnd. „Und jetzt schreibst du es auf." Sie tat wie ihr geheißen und schrieb ihr Ziel auf. Dann unterstrich sie es noch zweimal und legte den Stift beiseite. Fünfundvierzig Kilogramm, da wollte sie hin. Sie legte nun ihrerseits einen Arm um Ana und legte ihren Kopf auf ihre Schulter. „Danke, dass du bleibst, trotz meiner Inkompetenz", murmelte Sahra und lächelte. Ana strich ihr weiter über Arm und Schulter. „Keine Sorge, ich bleibe. Das habe ich dir versprochen, weißt du noch? Ich sagte: „für immer", und so meine ich es auch. Ich halte mein Wort und werde dich nicht alleine lassen. Wir sind doch beste Freundinnen, nicht wahr? Und beste Freundinnen sind für einander da." Sahra lächelte weiter und schloss die Augen. Ja, sie waren beste Freundinnen und sie waren für einander da. Ana war für sie da.
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