Perfektion

Dich damals in der Küche zu sehen gab mir Mut. Es gab mir Hoffnung und es gab mit Ehrgeiz. Dass du in meiner realen Umwelt auftauchtest hat dich, für mich, immer weiter vermenschlicht. Du warst nicht nur noch eine einfache Motivation für mich, ein Körper, den mein Unterbewusstsein geschaffen hatte, nein, du bist zu einer eigenständig denkenden und handelnden Person geworden. Du hattest deinen eigenen Charakter. Nicht ich habe dich, dich, die eigentlich ich erschaffen hatte, kontrolliert, sondern du hast nach und nach immer weiter mich kontrolliert.
Du hast dich verselbstständigt und mich an dich gerissen. Denn niemand außer dir sollte mich haben. Niemand sollte jemals wieder an mich herankommen. Du wolltest mich für dich alleine. Ich war wie ein unförmiger Klumpen Lehm, den du mit deinen wunderbaren, talentierten Händen zu einem perfekten Mädchen formen wolltest. Ich war deine Marionette. Du hattest meine Fäden in der Hand. Und mein Lebensfaden ist durch dich mit der Zeit immer dünner und dünner geworden.

Weißt du, früher, da habe ich mich nie großartig mit meinem Körper, meiner Figur beschäftigt. Mir war relativ egal wie ich aussah.
Natürlich war ich sehr froh darüber nicht übergewichtig zu sein. Ich freute mich über mein Normalgewicht.
Und ich habe diese Mädchen nie verstanden, die sich selbst immer als zu dick bezeichneten. Mädchen, die zumeist größer und schlanker waren als ich, haben an sich jedes kleinste Gramm Fett kritisiert. Ich habe sie damals nicht verstanden. Ich meine, sie waren dünn, sie waren schön, warum sehen sie sich dann als zu dick? Nein, ich habe es nie verstanden. Bis zu dem Tag, an dem ich mich selber als zu dick empfand. Bis zu dem Tag, an dem ich dich traf.
Ich habe mich verliebt. Ich habe mich in dich verliebt. Ich habe mich in die Knochen und das Hungergefühl verliebt. In einen leeren Magen, in den Geschmack vom dünn sein. Ich habe mich in die immer kleiner werdende Zahl auf der Waage verliebt und in die immer geringer werdenden Kalorien, die ich Tag für Tag zu mir nahm. Und vor allem habe ich mich in die Kontrolle verliebt. In die Kontrolle über meinen eigenen Körper. In die Kontrolle darüber, was in meinen Magen gelangte und was nicht. Die Kontrolle über mein Essen, die Kontrolle über meine Figur. Ich habe mich verliebt in das Gefühl, was mir die Kontrolle gab. Das Gefühl selbst bestimmen zu können, selber die Fäden zu ziehen.
Doch ich konnte nicht wissen, dass in Wahrheit du die Kontrolle hattest. Über alles was ich tat, über alles was ich dachte. Du gabst mir das Gefühl, ich könnte etwas kontrollieren, doch in Wirklichkeit hatte ich über rein gar nichts mehr Kontrolle. In Wahrheit hast du mich gesteuert und ich habe brav alles befolgt, was du wolltest.
Ich brachte mich dazu mich dick zu fühlen, du brachtest mich dazu mich fett zu fühlen. Du brachtest mich dazu weniger zu essen, Sport zu machen und den Mund zu halten. Du brachtest mich dazu mich vor den Spiegel zu stellen und angewidert das Gesicht zu verziehen. Du brachtest mich dazu Fett an Körperstellen zu sehen, an denen eigentlich bereits Körperfett fehlte. Jedes Gramm als überflüssig und eklig anzusehen und mich zu hassen.
Du schürtest in mir eine Flamme. Diese Flamme hieß Perfektion. Ich wollte perfekt werden, weil du wolltest, dass ich perfekt werde.
Und perfekt hieß für dich dünn.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top