Neues Ziel

„Scheiße, ich kapier das einfach nicht!", fluchte Maria und schlug sich mit dem Hefter gegen die Stirn. Gerade war Frühstückspause und sie saßen eingepackt in ihren Winterjacken auf einer Bank und versuchten sich auf den bevorstehenden Mathetest vorzubereiten. Laila beugte sich zu ihr rüber.
„Was verstehst du denn nicht?", fragte sie.
„Alles", murmelte Maria mit vom Schal gedämpfter Stimme. Laila überflog Marias Notizen. „Bei dir fehlt ja auch die Hälfte. Hast wohl im Unterricht nicht mitgeschrieben, nicht?" Maria seufzte.
„Ja, hatte halt keine Lust."
„Warst wohl wieder am Handy", warf Sahra ein, die mit ihren Beinen auf und ab wippte, und warf ihr einen kurzen Blick zu.
„Ja-ha", brummte Maria genervt. „Es war halt so verdammt langweilig. Ich weiß, ich hätte es nicht machen sollen, aber jetzt kann ich es halt auch nicht mehr ändern." Sie legte den Kopf in Nacken und stöhnte. Laila seufzte.
„Hier", sagte sie und streckte Maria ihren Hefter hin. „Nimm meinen, vielleicht verstehst du es dann besser." Maria schaute sie verwundert an.
„Ne, das musst du nicht machen, es ist ja meine Schuld."
„Ach, jetzt nimm schon", lachte Laila, „ich glaube ich kann das eh." Maria lächelte erleichtert und nahm dankend den Hefter entgegen. Sahra versuchte derweil sich die Binomischen Formeln einzuprägen. Doch konnte sie sich kaum konzentrieren. Ihr leerer Magen lenkte sie zu sehr ab. Hoffentlich konnte sie sich in Mathe gleich besser konzentrieren.

Der Unterricht zog sich lange hin. Die Zeit kroch wie eine Schnecke dahin und Sahras Konzentration schien mit jeder Minute schlechter zu werden. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken um alles Mögliche, nur nicht um die Aufgaben. Sie stützte ihren Kopf auf einer Hand ab und wippte gedankenverloren mit den Beinen. Das Hungergefühl, was in ihr immer stärker wurde, versuchte sie so gut es ging zu ignorieren. Doch gelang es ihr nicht. Sie tagträumte darüber, wie sie in ein leckeres Brötchen, bestrichen mit Nutella, biss und Apfelsaft dazu trank. Danach ging sie in ihr Zimmer und aß einige Gummibärchen. Die Süße tanzte auf ihrer Zunge und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Was würde sie jetzt nicht alles für etwas zu Essen geben?
„HÖR AUF DARAN ZU DENKEN!", schrie plötzlich Anas Stimme in ihrem Kopf. Sie zuckte zusammen, so heftig, dass ihr der Stift aus der Hand fiel und über die Tischkante zu Boden rollte. Sie blickte aus den Augenwinkeln nach links und rechts. Alle ihre Klassenkameraden waren still über ihre Arbeitshefte gebeugt und bearbeiteten die Aufgaben. Auch ihre Lehrerin kritzelte auf irgendeinem Blatt Papier herum. Niemand hatte ihre Reaktion mitbekommen. Leise stand sie auf und holte sich ihren Füller zurück. Wieder auf ihrem Platz fragte sie in sich hinein: „Woran soll ich nicht denken?"
Ana antwortete prompt: „Essen! Du sollst nicht an Essen denken. Je mehr du daran denkst desto stärker wird dein Verlangen danach, also lass es." Sahra starrte auf ihr Arbeitsheft, welches aufgeschlagen vor ihr lag.
„Aber ich hab so hunger", murmelte sie in ihren Kopf.
„Dann lenk dich ab. Zeichne was, sing in Gedanken deine Lieblingslieder oder, was ganz verrücktes, mach deine Schulaufgaben", erteilte Ana ihr Ratschläge.
„Aber ich kann mich nicht konzentrieren", seufzte sie und fing an mit ihrem Stift in der Hand rumzuspielen. Ana stöhnte auf. „Versuch es doch einfach. Mach irgendetwas, Hauptsache, du denkst nicht mehr an Essen, klar?"
„M-hm", machte sie. In ihrem Kopf herrschte wieder Stille. Kurz schloss sie die Augen und atmete einmal tief durch. Schule. Es war jetzt Schule. Sie hatte Unterricht, auf den sie sich jetzt irgendwie konzentrieren musste. Scheiß egal wie es ihr ging, sie musste das jetzt machen. Sie durfte sich nicht noch mehr schlechte Noten einfangen. Also wandte sie sich der ersten Aufgabe zu.

Der Dienstag war eigentlich ein sehr entspannter Tag. Alle drei Hauptfächer und Kunst standen nur auf dem Plan und obwohl Deutsch und Englisch eigentlich zu ihren Lieblingsfächern gehörten, machte ihr nur Kunst am heutigen Tag wirklich Spaß. Hier musste sie sich nicht auf irgendwelche blöden Aufgaben konzentrieren, sondern konnte etwas praktisches machen.
Sie fingen gerade ein neues Thema an. Fotografie. Zuerst notierten sie sich einige wichtige Dinge, auf die man beim Fotografieren achten musste, wie Licht, Winkel und Perspektive. Danach sollten sie selber einige Aufnahmen machen. Und zwar von Menschen. Sie schlossen sich zu Grüppchen zusammen, verteilten sich im Raum und fingen an für die Kamera zu posieren. Viele stellten sich so, dass sie eine der Wände im Rücken hatten, lehnten sich dagegen und bereiteten ihre Pose vor. Die meisten Mädchen lehnten sich lasziv gegen die Wand, streckten einen Arm grazil über den Kopf oder nahmen eine Model-Pose ein, als würde sie gerade ein Bild für Instagram machen. Die Jungs hingegen fuhren auf anderen Schienen. Sie schnitten irgendwelche Grimassen, hampelten vor dem Handy rum oder, zwei Gruppen, die völlig aus der Reihe tanzten, legten sich auf Tische und den Boden und ließen sich von oben fotografieren.
Niemand nahm einen Platz direkt vor den Fenstern, weil sie gelernt hatten, dass es nicht gut für das Bild war, wenn Licht direkt von vorne in die Linse fiel. Meistens wurde das fotografierte Objekt, oder der Mensch, dann nur zu einer schwarzen Silhouette und man konnte nur wenig erkennen.
Sahra, Maria und Laila hatten sich den Platz vorne im Unterrichtsraum ausgesucht, sodass sie beim Fotografieren die Tafel als Hintergrund hatten. Nun überlegte sich jede noch eine Pose, die sie für das Bild einnehmen wollten.
Laila schnipste. „Ich glaube ich weiß, was ich machen möchte", sagte sie aufgeregt und grinste. „Ich will, dass meine Haare auf dem Foto fliegen." Sahra schaute sie belustigt an. „Hä, wie willst du das denn machen?"
„Na ich schwinge einfach meinen Kopf nach oben und ihr fotografiert mich dann, wenn meine Haare in der Luft sind."
Sie nickte. „Ahh."
„Und was wollt ihr machen?", fragte Laila. Maria blickte von ihrem Handy auf. „Ach, ich glaube ich mache einfach diese Yoga Pose „der Baum"."
Laila runzelte die Stirn. „Was ist das denn?", fragte sie. Maria erklärte: „Na diese ganz berühmte Yoga Pose. Die, an die jeder denkt, wenn irgendjemand anfängt von Yoga zu reden."
„Ähh...", machte Laila.
„Warte", sagte Maria, „ich zeig's dir." Sie steckte ihr Handy weg und stellte sich aufrecht hin. Die Arme streckte sie über den Kopf und ließ sie sich an den Handflächen berühren, dann winkelte sie das linke Bein seitlich an, so, dass ihre Schuhsohle gegen die Innenseite ihres Oberschenkels drückte.
„Ach so", sagte Laila langgezogen, „das meinst du." Sie wandte sich zu Sahra. „Und was willst du machen?" Sahra zuckte mit den Achseln.
„Ich hab null Ahnung."
„Dann machen wir beide erst mal unsere Bilder und du überlegst in der Zeit einfach noch", sagte Maria. Sahra nickte. Laila drückte Maria ihr Handy in die Hand, damit sie damit das Foto machen konnte und stellte sich als erstes vor die Tafel. Sie bückte sich und senkte den Kopf. Maria zählte runter. „Drei, zwei, eins." Laila riss ihren Kopf nach oben, sodass ihre Haare flogen und Maria machte ein Bild.
„Verdammt", sagte sie. „Ich war zu langsam." Auf dem Bild waren Lailas lange, braune Haare kaum noch in der Luft und lagen fast alle wieder auf ihrem Rücken und den Schultern.
„Dann machen wir noch eins." Sie stellte sich wieder in Position, senkte den Kopf – „Drei, zwei, eins." – und riss ihn hoch. Maria beäugte das Bild kritisch.
„Naja, jetzt sind die Haare zwar oben, aber man kann dein Gesicht nicht erkennen." Sie zeigte Laila das Bild.
„Hmm", machte sie. Kurz schwiegen die Beiden, während sich Sahra weiterhin den Kopf zerbrach, dann sagte Maria plötzlich: „Ach, wir sind aber auch dumm." Sie gab sich einen Facepalm. „Wir können doch auch einfach eine Bilderserie machen, dann suchst du dir einfach das Bild aus, was du am besten findest." Laila sah sie verwirrt an.
„Was meinst du mit Bilderserie?"
„Na wenn man, während die Kamera aktiviert ist, die Lautstärke verändert, macht das Handy viele Fotos direkt hintereinander."
„Ach echt?", fragte sie. „Ich glaube mein Handy kann das nicht."
Maria zog ihr Handy hervor. „Dann nehmen wir meins." Sie gab Laila ihr Telefon zurück. Sie wiederholten die Prozedur und dieses Mal klappte es.
„Das ist gut", sagte Laila und zeigte Maria und Sahra eines der Bilder. Die Haare flogen und das Gesicht war zu sehen. Sahra zeigte einen Daumen nach oben.
„Sieht gut aus."
„Schickst du es mir?", fragte Laila an Maria gerichtet. Diese nahm das Handy wieder an sich und sendete ihr das Bild über WhatsApp. Jetzt war Maria dran. Sie brachte sich in Baum-Stellung und Laila schoss das Bild.
„Ja, das nehm ich", sagte sie und wandte sich an Sahra.
„Und, schon eine Idee, was du machen willst?"
Sie seufzte. „Hmm, ich glaube, ich mach einfach so eine 0815 Pose, was besseres fällt mir gerade nicht ein." Maria zuckte mit den Achseln.
„Naja, besser als nichts."
Sahra stellte sich vor die Tafel und nahm ihre Position ein. Sie drehte den Oberkörper seitlich, stützte eine Hand an der Hüfte ab und hob den anderen Arm, sodass die Hand ihre Stirn berührte. Dann legte sie den Kopf noch leicht in den Nacken und schloss die Augen.
„Okay", sagte sie und Maria knipste das Foto.
„Hier", sagte sie und streckte Sahra das Handy hin. Sie betrachtete das Bild. Ja, das würde sie nehmen.
„Danke."
Sie setzten sich zurück auf ihre Plätze und beobachteten die Anderen, wie sie ihre Bilder machten.

Nachdem sie noch Englisch und Deutsch hinter sich gebracht hatten, verließen die Schüler hurtig das Gebäude. Da Sahra noch einmal zu ihrem Schließfach musste, und Maria und Laila schnell nach Hause wollten, schlenderte sie nun alleine durch die Korridore. Sie wollte nur ihr Französisch Buch holen, um sich für morgen noch mal die Vokabeln anzuschauen.
Als sie ins Freie trat wehte ihr der kalte Wind ins Gesicht. Der Himmel war wolkenverhangen grau und die Sonne wanderte bereits weit in den Westen. In nicht mal einer Stunde würde es bereits dämmern. Sie zog den Kopf ein und machte sich auf den Weg zur Haltestelle.
Es war anstrengend zu laufen. Ihre Mappe fühlte sich um ein vielfaches schwerer an, obwohl nur ein einziges Buch dazugekommen war und nun, da der Unterricht nicht mehr da war um sie abzulenken, nagte ein beinahe schon schmerzhaftes Hungergefühl an ihr. Ihr Magen knurrte und grummelte und fühlte sich unfassbar leer an. Das einzige, was sie noch wollte, war zuhause anzukommen und etwas leckeres zu essen. Essen...
Nein! Stopp! Sie durfte nicht ans Essen denken. Wenn sie daran dachte wurde das Verlangen nur stärker. Andere Gedanken Sahra, andere Gedanken. Was hatte Ana vorhin in Mathe gesagt, was sie tun sollte, um die Gedanken nicht in Richtung Essen wandern zu lassen?
Zeichnen. Aber zeichnen konnte sie gerade nicht. Wie und worauf denn und dann noch im Gehen? Was noch?
Sich auf den Unterricht konzentrieren. Aber Schule war vorüber (zum Glück), also ging das auch nicht.
Singen. Ja, singen könnte sie. Oder noch besser: Musik hören. Einfach Musik hören und in Gedanken mitsingen. So könnte sie sich vom Essen ablenken. Sie kramte ihre Kopfhörer heraus und schaltete eine Playlist an. „Shake it off" von Taylor Swift.

An der Haltestelle angekommen musste sie noch einige Minuten warten, bis ihre Bahn endlich kam.
Jetzt saß sie auf einem Einzelplatz am Fenster und ließ sich von der Musik weiter ablenken. Als ihr Handy aber einmal kurz vibrierte, das Zeichen dafür, dass sie eine Nachricht bekommen hatte, zog sie es heraus um zu überprüfen, wer ihr geschrieben hatte. Maria, sie hatte ihr ein Bild gesendet. Das Bild, was sie heute in Kunst gemacht hatten. Sie hatten die Bilder ja mit Marias Handy aufgenommen. Sie betrachtete es.
Täuschte sie sich, oder sah sie wirklich dünner aus? Man sah ihren Bauch zwar eher von vorne als von der Seite, doch schien er nicht so rundlich zu sein, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Auch ihre Beine, bemerkte sie, sahen anders aus. Normalerweise waren die Hosenbeine immer straff mit ihren Beinen gefüllt, doch schien die Hose jetzt tatsächlich lockerer zu sitzen. Konnte das wirklich sein? Sah sie wirklich dünner aus? Dünner als früher? Sekunde! Sie hatte doch bestimmt ein Bild auf ihrem Handy, wo man sie in Gänze sah. Vielleicht eines vom letzten Urlaub oder so. Sie durchsuchte ihren Bilderordner und wurde fündig. Da waren Bilder. Bilder von ihrem Urlaub in der Türkei letzten Sommer. Bilder vom Pool, Bilder vom Strand, Bilder vom Hotelzimmer, Bilder von leckeren Desserts – STOPP! – und Bilder von ihr. Im Bikini. Sie suchte sich eines davon heraus, auf dem ihr Körper am besten zu sehen war, und betrachtete es. Dann schaute sie sich noch einmal das Bild von heute an.
Ihre Augen weiteten sich. Ja. Tatsächlich. Sie sah dünner aus. Auf dem Urlaubsfoto sah man ihren gewölbten Bauch deutlich und ihre Oberschenkel drückten sich aneinander. Doch auf dem anderen Bild sah man Veränderungen. Richtige Veränderungen. Sie konnte nicht anders und begann zu strahlen. Sie war wirklich dünner. Doch eine Erinnerung drängte sich in den Vordergrund und ihr Lächeln erstarb.
Montag. In den Sportumkleiden. Ana neben ihr. Ana, mit einem so viel schlankeren Körper als der ihre. Und sie selber neben ihr, mit noch immer Kiloweise Fett auf den Hüften. Wie konnte sie sich dünn nennen, wenn Ana doch so viel dünner war als sie selbst?
Aber sie war doch dünner geworden, sogar Ana hatte das bestätigt.
Ja, sie hatte abgenommen und man sah es ihr auch an, aber das war noch nicht genug, nicht wahr? Sie war noch nicht dünn genug.
Vierzig Kilo. Vierzig Kilo hatte Ana gesagt, so viel wog sie. Vierzig Kilo. Sollte sie... Ja, sie sollte. Sie musste!
Vierzig Kilo, da musste sie hin.

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